Gedanken zum Übersetzen für die Bühne
PRAXIS, ZEIT, ORT.

Barbara Christ
© Barbara walzer

Von Barbara Christ

Vor etwa fünfzehn Jahren wurde ich zu meiner Freude beauftragt, einige Stücke des Amerikaners Thornton Wilder neu ins Deutsche zu übersetzen, darunter „Our Town“ (1938) sowie „The Skin of Our Teeth“ (1942). Beide Stücke hatte Hans Sahl kurz nach ihrer Uraufführung ins Deutsche übersetzt. „Unsere kleine Stadt“ und „Wir sind noch einmal davongekommen“ wurden 1939 beziehungsweise 1944 in Zürich erstaufgeführt.

Ein solcher Auftrag ist eine Ehre, und er war Neuland für mich, hatte ich doch bis dahin immer Stücke übersetzt, die auf Deutsch noch nicht vorlagen.

Aus meinem Studium und aus meiner Zeit als Dramaturgin am Theater waren mir die Übersetzungen von Thornton Wilders engem Freund Hans Sahl natürlich bekannt, ohne dass ich mich an Einzelheiten erinnert hätte. Ich beschloss, sie vor dem Beginn meiner Arbeit nicht noch einmal zu lesen, um zu vermeiden, dass die Stimme des Übersetzers jene des Autors überlagert.

Als meine Übersetzungen fertig waren, las ich Hans Sahls Übersetzungen noch einmal, aus Respekt, aus Neugier und zur Überprüfung meiner eigenen Wahrnehmung von Thornton Wilders Werk. Ich war verblüfft, wie sehr sich meine Texte von denen des verehrten Vorgängers unterschieden – vor allem im Fall von „Wir sind noch einmal davongekommen“.

Während ich Thornton Wilders Sprache in diesem Stück als kraftvoll und direkt, ein bisschen frivol und überaus theatralisch wahrgenommen hatte, wirkte die der Übersetzung äußerst zurückhaltend, bedächtig, maßvoll auf mich – Eigenschaften, die ich in Thornton Wilders Stück nicht gesehen hatte. Für mich schien die Sprache der Übersetzung stark unter dem Einfluss der damaligen Schrecken in Deutschland und Europa zu stehen. Der amerikanische Autor hatte all das augenscheinlich aus größerer Distanz wahrgenommen, sowohl räumlich als auch emotional, und womöglich aus dieser Position heraus starke Theaterbilder und Dialoge mit drastischer Ironie oder Komik und durchaus mit dem einen oder anderen Kalauer versetzt. Andererseits ist belegt, dass Autor und Übersetzer eng zusammengearbeitet haben – es muss also Verständigung und Konsens gegeben haben. So viel zu meinem Eindruck aus einer Distanz von gut sechzig Jahren.

Offensichtlich hat die Zeit, in der beide schrieben, nicht nur Thornton Wilders Stück, sondern auch Hans Sahls Übersetzung beeinflusst. So wie das neue Jahrtausend die meine im Jahr 2006. Sehr gern würde ich eine Neuübersetzung aus dem Jahr 2070 lesen.

Das ist natürlich eine Binsenweisheit. Doch seither beschäftigt mich die Frage, was genau meine Arbeit als Übersetzerin bedingt, was die Stimmen bedingt, die ich höre und die ich wiedergebe. Seither versuche ich ausdrücklich, mir den Einfluss der Zeitphänomene vor Augen zu führen. Womöglich liegt hier auch der Schlüssel zur Lösung des Rätsels, dass Übersetzungen schneller zu altern scheinen als der originale Text.

Doch nicht nur die zeitliche Distanz ist Akteurin im Kontext des Übersetzens. Gerade für uns, die wir Gegenwartsdramatik übersetzen, spielt die des Orts vielleicht eine noch größere Rolle – ganz einfach, weil die Stücke, die wir übersetzen, in der Regel relativ neu sind. Sie kommen nicht aus zeitlicher, sondern aus räumlicher Distanz – geografisch, mental, künstlerisch. Ich will versuchen, den Prozess des Umgangs mit dieser Distanz an einem Beispiel zu veranschaulichen – David Greigs Jugendstück „The Monster in the Hall“, für das er 2014 zusammen mit mir als seiner Übersetzerin den Deutschen Jugendtheaterpreis erhielt. „Monster”, so der deutsche Titel, ist gewissermaßen eine Komödie und spielt in einer schottischen Kleinstadt. Im Mittelpunkt stehen ein junges Mädchen namens Duck und ihr Vater. Die beiden leben in einer prekären Situation – Ducks Vater ist schwer erkrankt, und sie müssen befürchten, dass die Behörden Duck in Obhut nehmen könnten. Vater und Tochter müssen kämpfen, damit sie weiter zusammenleben dürfen – ein Kampf, den David Greig auf so herzzerreißende wie urkomische Weise in Theaterbilder fasst.

Wenn ich mit der Arbeit an einer Übersetzung beginne, schreibe ich gewöhnlich eine Rohfassung, deren Sprache wahrscheinlich nicht einmal die Bezeichnung „deutsch“ verdient. Ich folge der Struktur der Quellsprache, versuche die Stimmen zu finden und zu hören, die dort zu mir sprechen. Von welchem Ort, aus welcher Situation, welcher Verfassung sprechen sie? Inwiefern manifestiert sich das in der Sprache? Wie zeigt es sich in der dramatischen Interaktion? Im Vordergrund dieses Stücks steht die Verzweiflung von Tochter und Vater in existenzieller Not – der sie unendlich tapfer und voller Liebe und Solidarität entgegentreten. Und all das vor dem Hintergrund eines wunderbaren, humanen, empathischen Humors, wie er David Greig eigen ist.

In der zweiten Fassung der Übersetzung treten allmählich Bilder in den Vordergrund. Hier sind es Bilder der schottischen Landschaft, in der Ducks Mutter bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist. Die Welt des Romans, den Duck schreibt, inspiriert von düsteren Computerspielen mit bombastischem Mittelalter-Setting. Die Tristesse des Supermarkts, in dem Duck an der Kasse sitzt. Die Enge, das Chaos, der Geruch der winzigen Wohnung, in der sie mit ihrem Vater lebt. Bilder erschaffen eine Atmosphäre, die ich wahrnehme, erkunde, benenne, und im Anschluss für ein deutschsprachiges Publikum zu reproduzieren versuche.

In weiteren Fassungen finde und entwickle ich eine Sprache für das Stück. Eine Sprache, die abbilden sollte, was ich wahrnehme als Ort oder Raum des Originals – geografisch, mental, künstlerisch. In dieser Phase des Übersetzungsprozesses nehme ich Kontakt mit dem Autor, der Autorin auf, stelle sehr praktische Verständnisfragen, überprüfe, ob ich richtig verstanden habe, ob das, was ich wahrnehme, auch das ist, was er oder sie geschrieben hat. Medium dieses Austauschs sind ausgiebige Email-Korrespondenzen.

Ich bin sehr dankbar, wenn Autor*innen einsteigen in diese Art von Dialog – was sie fast immer tun. Da sie meist nicht deutsch sprechen, können sie natürlich nicht entscheiden, wie man etwas am sinnvollsten übersetzt. Aber ich kann mein Entscheidungsspektrum erklären, und sie können weitere Bedeutungsfenster für mich öffnen und dadurch beitragen zur Präzision.

Dieser Teil des Prozesses verlangt darüber hinaus ganz praktische Entscheidungen in Hinsicht auf Vermittlung und Verständnis. Wenn ich das Stück in seinem geografischen und kulturellen Kontext belasse – was so gut wie immer der Fall ist – muss ich viele Details beachten. Kann ich erwarten, dass ein deutschsprachiges Publikum eine Vorstellung von dieser schottischen Landschaft hat? Eine Vorstellung von so einem Computerspiel? Vielleicht muss ich hier und da vorsichtig anpassen. Aber wie weit kann ich dabei gehen, wenn ich Verständnis ermöglichen will, ohne ins Stück einzugreifen?

Es ist mein persönliches und professionelles Credo, kein Stück aus seinem kulturellen Kontext zu nehmen. Es ist mein Credo, es dort zu belassen, wo es erdacht, konzipiert und geschrieben wurde, und durch Arbeit an der Sprache Zugänge zu bauen. Das ist eine Gratwanderung, ein Balanceakt, der mit jedem Übersetzungsprojekt neu definiert werden muss.

Für die Arbeit des Übersetzens lassen sich kaum verallgemeinerbare Kriterien benennen, denn jedes Stück folgt einer eigenen, individuellen und besonderen Ordnung. Jedes Übersetzungsprojekt ist – generell und im Detail – ein Einzelfall, jedes Original stellt bestimmte Anforderungen und braucht eine angemessene, eigens zu entwickelnde Herangehensweise.

Hilfreich ist dabei natürlich Erfahrung, die man im Lauf der Jahre sammelt, neben allerhand Mitteln und Tools, die man durchaus erklären, notieren, besprechen und nutzen kann. Doch immer neu zu definieren ist der jeweilige geografische, mentale, künstlerische Ort des Textes, mit dem man sich gerade auseinandersetzt.

Beim Gedanken an die Erfahrung beim Übersetzen der Stücke von Thornton Wilder wird deutlich, dass ich weit davon entfernt bin, den eben beschriebenen Vermittlungsprozess zu kontrollieren. Ich bin geprägt, wie wir alle, und nicht immer ist uns bewusst, was auf uns einwirkt. Doch wir können versuchen, es ans Licht zu bringen, wir können daran und damit arbeiten, es nutzen, es kommunizieren. Durch das Übersetzen, durch Arbeit an der Sprache können wir vielleicht zugänglich machen, was uns und anderen verschlossen war. Barbara Christ studierte Literatur- und Theaterwissenschaften und arbeitete als Dramaturgin und Verlagslektorin. Seit 1997 übersetzt sie aus dem Englischen Theaterstücke und Prosa, u.a. von Jami Attenberg, David Greig, Noah Haidle, Doris Lessing, Anthony Neilson und Simon Stephens. Seit 2012 leitet sie Seminare im Rahmen verschiedener Übersetzerwerkstätten, so auch hier im Projekt „Deutschsprachige Gegenwartsdramatik in südasiatischen Sprachen“.

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