Sprechstunde – Die Sprachkolumne
Oversharing-Nobelpreis

Das Tagebuch von Thomas Mann auf Twitter
Das Tagebuch von Thomas Mann auf Twitter | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

„Große Abneigung, nachmittags noch irgend etwas zu tun.“ 4.400 Menschen gefällt, was am 10. August im Tagebuch von Thomas Mann zu lesen ist. Jedenfalls hat der Tweet so viele Likes bekommen. Dirk von Gehlen über Wertungen und Wertigkeit nicht nur im Digitalen.

Von Dirk von Gehlen

1929 erhält der Tagebuchautor Thomas Mann für seinen Roman Buddenbrooks, eine Familiengeschichte der besseren Lübecker Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, den Literaturnobelpreis. Auf Amazon kann das Werk derzeit 205 globale Bewertungen vorweisen. Zwei Prozent vergeben dort nur einen von fünf möglichen Sternen. Seit April 2022 hat aber - zumindest im deutschsprachigen Internet – das Ansehen des Buddenbrooks-Autors eine neue Dimension erreicht. 67 Jahre nach seinem Tod erscheint der Großschriftsteller vielen Leserinnen und Lesern in einem neuen, seltsam vertrauten Licht.

Weltschmerz mit Identifikationspotenzial

Wir haben alle irgendwie den Alltag eines Nobelpreisträgers“, bilanziert Felix Lindner, Doktorand im Graduiertenkolleg „Kleine Formen“ an der Humboldt-Universität Berlin. Lindner ist der Mann hinter der neuen digitalen Mann-Begeisterung. Im April 2022 begann der Literaturwissenschaftler damit, datumsgenau Auszüge aus den Tagebüchern Thomas Manns in Form von Tweets im Netz zu veröffentlichen. Dem Account @DailyMann folgen seitdem fast 30.000 Twitter-Nutzer:innen. Und die meisten erfreuen sich offenbar am Weltschmerz des Nobelpreisträgers: „Nicht arbeiten wollen, müde sein und schlecht gelaunt, die ganze Unlust an der Welt. Das ist ja alles Identifikationspotenzial, und das nehmen die Leute gern an, weil der Mann-Mythos vom dauerdisziplinierten Helden der Arbeit und als bildungsbürgerliches Erkennungszeichen dabei genüsslich schwindet“, erklärt Tagebuch-Twitterer Lindner, der nichts an den Aufzeichnungen des Großschriftstellers geändert, die Notizen nur in eine andere Form gegossen hat.

Kurze, pointierte Tweets, die aus dem Nobelpreisträger einen Oversharer macht. So werden Akteur:innen genannt, die etwas zu viel und etwas zu mitteilungsfreudig Details aus ihrem Leben preisgeben. Bisher wurde dieses Oversharing in kulturpessimistischen Beobachtungen als Symptom des für Niedergang stehenden Digitalzeitalters diagnostiziert. Die Selfie-Kultur des Web drehe sich nur um sich selbst, heißt es. Die digitale Sprache sei selbstreferenziell, echte Hochkultur im Digitalen nicht mehr möglich.

Wer die Tweets, pardon: Tagebuchaufzeichnungen des Nobelpreisträgers liest, muss diese Diagnose überdenken. Der Print-Mythos der bildungsbürgerlichen Analogkultur schwindet angesichts von Notizen wie den folgenden:

Da ich kein Unterjäckchen trug, war der Oberkörper […] dem Luftzuge frei, was ein sehr angenehmes Gefühl ist.“ (21. Mai)
Etwas Halsweh vom nachmittäglichen Tragen kurzer Unterhosen.“ (18. August)
Sehr heftige Reizung der Rectalsphäre.“ (6. Oktober)
Nervös geschlafen infolge erotischer Vorstellungen abends.“ (22. Dezember)
Die Sexualität — unglaublich.“ (12. November)

Wirklich weniger wertig?

Wie fiele unser Urteil über den Autor dieser Zeilen aus, hätte er sie nicht in ein Tagebuch, sondern in eine Instagram-Story geschrieben? Würden wir ihm seine literarische Bedeutung aberkennen? Würden wir überhaupt Werke von ihm lesen? Ich habe Felix Lindner auf diesen Aspekt der Tagebuch-Tweets angesprochen. Der Literaturwissenschaftler weist darauf hin, dass der Großschriftsteller vermutlich nicht einverstanden gewesen wäre mit diesem öffentlichen Bild: „Thomas Mann hätte sich eher beide Hände amputieren lassen, als zu twittern“, sagt Lindner. „Für ihn war jede Art von Befindlichkeit Privatsache.“

Dennoch legt sein – nur privat gemeintes – Oversharing einen interessanten Aspekt im Umgang mit der Internetsprache offen. Sie hat mit einem durchgängigen Vorurteil zu kämpfen: Was digital ist, wird als weniger wertig als das gedruckte Wort erachtet. Was auf Papier nicht zu schreiben ist – wie ein Emoji oder ein Emoticon – gilt als albern oder unseriös und keinesfalls als Teil eines bildungsbürgerlichen Kanons. Nicht erst seit April 2022 und dem Beginn der Mann-Tweets frage ich mich: Warum eigentlich nicht? ¯\_(ツ)_/¯

Neben einem neuen Blick auf Thomas Mann verdanken wir Felix Lindners Tweets noch einen zweiten Perspektivwechsel, der sozusagen über Bande helfen kann, digitale Sprache besser zu verstehen. Durch die Digitalisierung der Tagebücher zeigt @DailyMann den blinden Fleck im Umgang mit Internetsprache. Allein durch ihren Distributionskontext erlangt sie nur selten den Wert und die Wertschätzung, mit der klassische Literatur betrachtet wird. Um das zu ändern, lade ich Sie ein, Ihren Blick auf die Sprache im Web zu ändern. Welche Aspekte fallen Ihnen auf? Schreiben Sie mir an sprachkolumne@goethe.de
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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