Sprechstunde – die Sprachkolumne
Ma, Mu und die Stille des Lärms

Illustration: Abstrakte Formen – eine gezackte Linie, eine gezackte Sprechblase und eine einfache Sprechblase
Auf eine gleißende Weise still | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Jan Snela widmet sich den Schreien japanischer Zikaden, eingefangen in einem Bashō-Haiku. Seine Erinnerungen führen ihn zurück in die Geräuschkulisse Tokios. Eine überbordende Stadt – aber er findet dort ein Wort, das auf die Leere und die Abwesenheit verweist.

Von Jan Snela

Schild
An vielen Orten ist Japan durchaus bedacht auf Stille … – Schild in einem Aufzug | Foto: Jan Snela
Fragt man in Japan den nächstbesten Menschen nach seinem Lieblingshaiku, lautet die Antwort: „Stille ringsumher. / Tief in den Felsen bohrt sich / der Schrei der Zikaden.“ Zumindest war das das Ergebnis einer während meiner Reise sporadisch durchgeführten Privatumfrage 1. mit Kimie, der Wirtin des Bed and Breakfast in Kamakura, 2. mit Tsunematsu-San, dem netten Erklär-Dude, der mir im Fukagawa-Edo-Museum in Tokio die Gerätschaften und Gebräuche Japans im 17. Jahrhundert näherbrachte, 3. mit Kumiko, der Managerin des Klangkünstlers Junya Oikawa, die und den ich in Kōchi kennenlernte. Zufall? Oder war das so ein nationales Ding, dass jedes Kind dieses Bashō-Haiku in der Schule lernen musste? Die Begeisterung wirkte allerdings nicht wie eingetrichtert, sondern irgendwie innig, echt.

Man sollte dazu wissen, dass die Japaner*innen von etwas völlig anderem reden als wir, wenn wir von Zikaden sprechen. Die klingen dort nämlich nicht wie das hiesige idyllische Feuerfangen der Luft. Eher wie eine Ufo-Landung. Wie Radioaktivität, wenn man die hören könnte. Wie Neue Musik. Von stiller Beschaulichkeit ist darin jedenfalls genauso wenig die Spur wie im Plärren der Screens von Shibuya oder im panischen Lärm der Pachinko-Höllen. Besagte Zikaden passen nur allzu gut in die japanischen Soundscapes, die von diversen Schrillheiten erfüllt sind. Und doch wird es in mir, wann immer ich mich gedanklich nach Japan wende, auf eine gleißende Weise still.

Damals in Tokio

Japaner*innen seelenruhig im höllischen Lärm eines Pachinko-parlours
Japaner*innen seelenruhig im höllischen Lärm eines Pachinko-parlours | Foto: Jan Snela
Erinnerungen an meinen ersten Tokio-Aufenthalt vor ungefähr zwanzig Jahren: Seliges Irren durch diese an keinem ihrer Horizonte endende Stadt. Zuvor hatte ich in Kamakura an einem Zen-Sesshin teilgenommen: unablässiges Zählen der Atemzüge, 1, 2, 3, 4, 5, … 10, wieder und wieder, von halb fünf Uhr morgens bis abends um neun. Ich in der Bucht von Tokio. Ich auf dem Tokio-Tower. Zusammen mit den Teenagerinnen Mai und Yu, die mich im Ueno-Park eingefangen haben in einem schwachen Moment. Ich ein Ausländer, ein Gaijin. Mai und Yu nehmen mich bei der Hand, bei beiden, von links und rechts, führen mich kichernd die Straße runter. Zum Kannon-Schrein in Asakusa. Ins Kino. In eine Kabine, in der wir Fotos machen und sie auf einem Screen zu lauter Musik bemalen. Kein Bild der beiden ohne Victory-Zeichen oder Bodybuilderinnenpose. Kichern über den gefräßigen weirdo in meinem Rücken beim Sushi-Essen. Köstliche Rice Balls der Mütter von Mai und Yu. Kein Blättern im Reiseführer. Ein klarer Fall von win-win.

Pachinkokugelnprasseln. Ein Bonsai spiegelt sich in der Glasfassade eines Wolkenkratzers, darin ein zeternder Spatz. Wie der Schrei der Zikaden tief in den Felsen eingedrungen. Wenn ich an damals in Japan denke, lausche ich ins Zwischen der Zeit. Dorthin, wo sich die Sekunden, Stunden und Wochen verbinden und trennen. Dafür gibt es ein japanisches Wort. Es lautet Ma (間), und bedeutet so viel wie Abstand, Dauer, die Leere dazwischen und Intervall. Die Silbe, die die Übenden in Zen-Klöstern seit Jahrhunderten beim Meditieren atmen (wenn sie nicht ihren Atem zählen) klingt fast genauso: Mu (無). Das heißt so viel wie Nein oder Nicht. Beides verweist auf ein in allen asiatischen Kulturen präsentes Moment der Abwesenheit statt postulierter Fülle des Seins.

Sinn für die Stille

Plötzliche Stille (Tokio) – so laut es gerade noch war, ganz oft findet man sich plötzlich in völliger Stille wieder
Plötzliche Stille (Tokio) – so laut es gerade noch war, ganz oft findet man sich plötzlich in völliger Stille wieder | Foto: Jan Snela
Das Herz-Sutra, ein zentraler, allen Schulen des Buddhismus gleichermaßen bedeutsamer Text des buddhistischen Kanons, lässt sich auf folgende Kernaussage reduzieren: Form = Leere, Leere = Form. Dass es sich bei den Geräuschen selbst um die Stille handelt, erfuhr der Zen-affine Komponist John Cage eines Tages in einem schalltoten Raum. Gefasst auf die Abwesenheit jedes Lärms, hörte er erschrocken das Sirren seiner Nerventätigkeit und das Brummen des Bluts in seinen Adern. Bashō mag auf einer seiner Wanderungen ins Hier und Jetzt mit den Zikaden einen ähnlichen Schock erfahren haben. In seinem Zikaden-Haiku gibt es die Stille jedenfalls auch nicht ohne den sie konturierenden Lärm.

In Japan – das hat eine weitere Privatumfrage ergeben – weiß kaum noch jemand um Zen. Die Beschäftigung damit weckt ein Befremden, wie es bei uns hervorgerufen würde, würden wir uns dazu bekennen, täglich den Rosenkranz zu beten. Aber mir scheint, dass die Japaner*innen bei aller Zufriedenheit mit ihren Geräuschkulissen einen tiefen Sinn für die Stille in sich tragen. Stille, nicht verstanden als etwas, das nach dem Schrillen käme, sondern als etwas, das daraus horcht.
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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