Sprechstunde – die Sprachkolumne
Was ist die Sprache des Kapitalismus?
Unsere Sprache bestimmt unser Denken. Auch wenn wir über Wirtschaft reden. Daniel Stähr widmet sich in seiner Kolumne der Sprache des Kapitalismus und zeigt, dass sie keineswegs naturgegeben ist, sondern unser Denken lenkt.
Von Daniel Stähr
Sie erinnern sich bestimmt noch daran, wie unsicher die Monate nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 auch ökonomisch waren. In den Medien war von „Energiepreis-Tsunamis“ die Rede, die auf uns zurollten. In Supermärkten drohten „Preisexplosionen“ und an Tankstellen mussten wir uns auf „Preisbeben“ einstellen. Alle diese Metaphern sollten eines verdeutlichen: Die Inflation war zurück – und die Preise würden extrem steigen.
Steigen Preise von alleine?
Der Witz daran ist aber: Preise steigen nicht von alleine, sie werden erhöht. Was sich nach Haarspalterei anhört, hat tiefgreifende Auswirkungen darauf, wie wir unsere Welt wahrnehmen. Die Preise für Strom, Butter oder Benzin sind keine Naturereignisse, die wie die Pegelstände eines Flusses bei Starkregen automatisch steigen. Unsere Wirtschaft ist von Menschen gemacht, und diese treffen die aktive Entscheidung, Preise zu erhöhen. Es stünde ihnen auch frei, sich dafür zu entscheiden, es nicht zu tun. Wenn wir von „steigenden Preisen“ sprechen oder Metaphern benutzen wie „Preisexplosionen“, verfestigt sich das falsche Bild, Menschen seien der Wirtschaft hilflos ausgeliefert.Zusammen mit dem Kultur- und Literaturwissenschaftler Simon Sahner bezeichne ich diese Art, über ökonomische Zusammenhänge zu sprechen, als Sprache des Kapitalismus. Darunter verstehen wir ein Sprachsystem, das bestimmt, wie wir über ökonomische Zusammenhänge sprechen, denken und welche Erzählungen wir benutzen, um es zu charakterisieren. Die Sprache des Kapitalismus lässt unser Wirtschaftssystem wie eine natürliche Ordnung erscheinen – und verdeckt, dass es letztlich Ergebnis gesellschaftlicher Entscheidungen ist.
Keine Verschwörung, aber ein Problem
Diese Sprache ist keine Verschwörung einiger Investmentbanker, die in Hinterzimmern der Wall Street agieren. Vielmehr hat sie sich in den Jahrhunderten seit Bestehen des Kapitalismus nach und nach herausgebildet. Wir leben im Kapitalismus, wir sprechen kapitalistisch. Und insbesondere während ökonomischer Krisen kommt diese Sprache zum Tragen. Der Begriff Preisexplosion ist dabei nur ein Beispiel. Die Finanzkrise 2008/2009 wurde als „perfekter Sturm“ bezeichnet, und zwar nicht von irgendwem, sondern von Olivier Blanchard, dem damaligen Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds. Und wie oft konnten wir lesen, dass Deutschland aufgrund seiner ökonomischen Misere wieder der „kranke Mann Europas“ sei? All diese Metaphern verschieben ökonomische Fragestellungen in das Reich der Krankheit oder der Naturkatastrophen – und denen sind wir meist hilflos ausgeliefert. So funktioniert unser Wirtschaftssystem aber nicht.Ich kann Sie stöhnen hören: Noch mehr Sprachkontrolle? Reicht es nicht, dass wir übers Gendern diskutieren und unsere Sprache auf rassistische Ausdrücke abklopfen? Und ist es nicht ohnehin völlig egal, wie wir über ökonomische Zusammenhänge sprechen? Nun: Wenn ich die Sprache des Kapitalismus kritisiere, geht es mir um Genauigkeit. Ich möchte damit verdeutlichen, dass die Preiserhöhungen des Jahres 2022 und 2023 keine unausweichliche Naturkatastrophe waren. Das hat spätestens die Energiepreisbremse der Bundesregierung bewiesen, die 2023 die Strom- und Gaspreise gedeckelt hat – in ökonomischen Krisen gibt es immer politische Alternativen.
Sind an allem nur die Kosten schuld?
Kommen wir zurück zur Inflationskrise der letzten Jahre. Ein beliebtes Argument lautet, dass die Unternehmen bei steigenden Kosten gar keine andere Wahl hätten, als ihre Preise anzupassen. Doch auch das ist ungenau. Zahlreiche Studien zeigen nämlich, wie Unternehmen besonders Krisensituationen ausnutzen und Preise so stark erhöhen, dass sie ihre Gewinne sogar noch ausweiten. Das verdeutlicht: Preise steigen nicht von alleine, sie werden aktiv erhöht.In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.