Sprechstunde – die Sprachkolumne
Der Mythos von der hart arbeitenden Mitte
Die Politik bemüht gerne die sogenannte hart arbeitende Mitte, wenn sie beschreibt, wem ihre Maßnahmen zugutekommen sollen. Um wen und was geht es da genau – und wer bleibt außen vor? Daniel Stähr über ein Heilsversprechen, das nicht mehr eingelöst wird.
Von Daniel Stähr
Einer der wenigen Sätze, die wahrscheinlich jede politische Partei unterschreiben würde, lautet „Wir machen Politik für die hart arbeitende Mitte in unserem Land“. Egal ob links, konservativ, rechts oder marktliberal – alle Politiker*innen nehmen gerne für sich in Anspruch, ihre Politik käme den hart arbeitenden Menschen zugute. Dagegen kann schließlich niemand etwas haben. Doch beim genauen Hinsehen merkt man schnell, wie dieser Satz unbewusst das zentrale Mantra des Kapitalismus reproduziert.
Denn das Bild der „hart arbeitenden Mitte“ funktioniert nur, wenn dem implizit eine Gruppe gegenübergestellt wird, die nicht hart arbeitet. Gemeint sind damit sicherlich nicht grenzenlos reiche Menschen, die durch ihren Wohlstand sowieso relativ unberührt von den alltäglichen politischen Debatten sind. Vielmehr stehen der „hart arbeitenden Mitte“ die „faulen Arbeitsverweigerer“ gegenüber, wie die jüngste Debatte um das Bürgergeld wieder in ihrer ganzen Grausamkeit gezeigt hat.
Das Heilsversprechen des Kapitalismus
Ich sage nicht, dass alle, die explizit „hart arbeitende“ Menschen ansprechen, damit automatisch diejenigen abwerten wollen, die von staatlichen Leistungen abhängig sind. Aber genau das macht Formulierungen wie diese so gefährlich: Sie zeigen, wie tief das kapitalistische Heilsversprechen in unser Unterbewusstsein eingedrungen ist. Der französische Ökonom Thomas Piketty stellt in seinem monumentalen Werk Kapital und Ideologie (2019) die zentrale These auf, dass jedes System eine Rechtfertigung für seine Ungleichheit braucht. War das in feudalen Zeiten die gottgegebene Ungleichheit zwischen Adel, Klerus und Bauernstand, ist das im Kapitalismus die Leistungsgesellschaft.Und auch wenn viele intuitiv wissen, dass dieses Versprechen schon lange nicht mehr gilt, verhält sich ein Großteil trotzdem danach. Man studiert, macht Aus- und Weiterbildungen – alles in der Hoffnung, vom System belohnt zu werden und ein schönes Leben zu haben.
Die Mitte, das sind wir alle?
Daran ist nichts verwerflich. Es macht aber deutlich, weshalb die Rede von der „hart arbeitenden Mitte“ eine so effektive politische Strategie ist. Die meisten würden von sich selbst wohl sagen, dass sie hart arbeiten. Aber was genau meint harte Arbeit? Allzu oft steht dabei die klassische Lohnarbeit im Mittelpunkt. Unbezahlten Formen der Arbeit wie Kindererziehung, die Pflege von Angehörigen oder emotionale Sorgearbeit fallen dabei unter den Tisch. Arbeit, die im Übrigen vor allem von Frauen ausgeführt wird.Gleichzeitig glauben viele Menschen fälschlicherweise, sie seien selbst Teil der Mitte. In Deutschland geben 80 Prozent der Bevölkerung an, zur Mittelschicht zu gehören. Die meisten von Armut Betroffenen überschätzen dabei ihren Platz in der Einkommenspyramide, und die meisten Reichen unterschätzen ihn. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen neigen wir dazu, uns mit unserer direkten Umgebung zu vergleichen – und weil sich viele mit Menschen aus einer ähnlichen ökonomischen Schicht umgeben, verzerrt das unser Bild von der Realität. Wir halten uns selbst für repräsentative Mitglieder der Gesellschaft.
Zum anderen wird unsere Wahrnehmung von Armut und Reichtum durch die Medien geprägt, und dort sehen wir häufig ihre extremen Formen. Armut beginnt aber nicht erst bei der Rentnerin, die Flaschenpfand sammeln muss, um über die Runden zu kommen. Auch die alleinerziehende Mutter, die nur eine kaputte Waschmaschine von einer finanziellen Krise entfernt ist, gehört dazu.
Dieser falsche Glaube, wir seien alle die Mittelschicht, macht das Gerede von der „hart arbeitende Mitte“ so effektiv, weil sich viele davon angesprochen fühlen. Wenn Politiker*innen in Zukunft also wieder einmal versprechen, dass sich ihre Politik an die hart arbeitenden Menschen richtet, sollten wir genau hinhören, wer damit gemeint ist. Damit wir nicht unbewusst einem der einflussreichsten kapitalistischen Märchen auf den Leim gehen.
Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.