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Deutsch-deutsche Geschichte
Was vom Grenzzaun übrig blieb

Eine als Bushaltestelle genutzte Fachwerkhütte mit weißen Wänden und dunklen Holzbalken steht an einer sonnigen Landstraße, umgeben von Bäumen, Sträuchern und weiteren Häusern im Hintergrund.
Bushaltestelle in Ostdeutschland | Foto (Detail): © Jonas Dengler

Wie ostdeutsch fühlt sich die Nachwendegeneration 35 Jahre nach der Wiedervereinigung? Sehen sie ihre Zukunft in Ostdeutschland – oder zieht es sie weg? Antworten von Kunsthipstern in einem alten Kino und einer sächsischen Simson-Gang.  
 

Von Jakob Milzner (Text), Jonas Dengler (Fotos)

Eine Geschichte über Deutschlands jungen Osten könnte auf unzählige Weisen beginnen. An einer Haltestelle vielleicht, an der kein Bus mehr fährt. Auf einem Rave in einer alten Fabrik oder mit vermummten Fans in einem Stadion, die „Ostdeutschland“ skandieren. Diese hier beginnt mit einer Gulaschkanone. An einem Samstagmittag im September steht diese vor einem ehemaligen Kino in Bitterfeld-Wolfen. Und obwohl sie über dessen Vorplatz den Duft von Erbsensuppe verströmt, ist sie an diesem Ort mehr noch ein Symbol als eine Küche: Eine Gulaschkanone markiere heutzutage oft rechte Räume, sagt Leon, 28, der in Thüringen geboren wurde, in Brandenburg aufwuchs und in Sachsen lebt. „Wenn sich da die AfD in ein Gasthaus einmietet, steht die Gulaschkanone davor.“ 

Beim Auftakt zum Osten-Kunstfestival in Wolfen haben sie in der Gulaschkanone deshalb Tofu zubereitet. Ein Manöver in der aufgeheizten Debatte um Vegetarismus, Gender-Fragen und Migration, die in ganz Deutschland tobt, besonders aber in dessen östlichen Ländern – abzulesen beispielsweise an den Wahlerfolgen der Parteien an den Rändern des politischen Spektrums. Nicht zuletzt haben diese mit dazu beigetragen, dass derzeit wieder viel über „den Osten“ gesprochen wird, um nicht zu sagen: gelästert.

Dabei sollten 35 Jahre deutscher Einheit eigentlich Anlass zum Feiern sein. Doch beim Blick auf die Gegenwart drängen sich eher Fragen auf: Wie kann es sein, dass Unterschiede zwischen West und Ost noch immer eine solche Rolle spielen? Und wie denkt die Generation, die in der wiedervereinten Nation aufgewachsen ist, über das Leben in Ostdeutschland? Anders gefragt: Wie geteilt ist unser Land in den Köpfen junger Menschen? 

Ein anderes Materialbewusstsein  

Neben Leon sitzt vorm Wolfener Kino Helene. Sie habe erst während ihres Studiums gemerkt, wie anders sie aufgewachsen sei als ihre westdeutschen Mitstudierenden, sagt Helene, die von der Ostseeinsel Rügen kommt. „Ich würde nicht sagen, ich bin Ossi“, sagt sie, „dafür ist Deutschland zu sehr eins“. Ostdeutsch fühle sie sich aber schon ein wenig. „Das ist zum Beispiel ein Umgang mit Ressourcen“, sagt sie, als Leon dazwischenruft: „Joghurteimer!“ Er wette, sagt er, dass mindestens die Hälfte aller ostdeutsch sozialisierten Menschen einen Stapel ausgewaschener Joghurteimer im Keller stehen habe. Und wofür? Natürlich als Behältnisse, erklärt Helene, als sei das nun wirklich eine seltsame Frage. Auf jeden Fall, sagt Leon, nehme er Joghurteimer nicht als Müll wahr. „Einfach ein anderes Materialbewusstsein“ sei das im Osten. 
 
Drei junge Menschen in sportlicher Kleidung stehen und sitzen vor einem alten, verputzten Gebäude mit bröckelnder Fassade. Neben ihnen liegen gestapelte Pflastersteine.

Louis und seine Freunde sind Mitglieder des Jugendclubs Siebenlehn. | Foto: © Jonas Dengler

Der Jugendclub von Siebenlehn ist ein rohverputztes Haus am Ende eines Schotterwegs, der hinter einen DDR-Garagenhof führt. Mit den gestapelten Ziegeln vorm Eingang wirkt es zumeist wie eine verlassene Baustelle, aber an diesem Sommertag ist das anders. Die Party, die sie heute schmeißen, ist seit langem geplant. Drinnen verkabelt Louis, 18, den DJ-Controller, er wird hier nachher auflegen. Bunte Lichter durchtanzen schon jetzt den gekachelten Raum. Nebenan befüllt ein Kumpel die Bar mit Mischbier und Schnaps. 

Wirklich alles unpolitisch? 

Siebenlehn ist ein Ortsteil von Großschirma, einer kleinen Stadt in Mittelsachsen, die seit Sommer 2024 von einem AfD-Mann regiert wird. Louis sagt, es gefalle ihm hier. In Siebenlehn ist sein Freundeskreis, hier spielt er Fußball, geht ins Freibad und schraubt an seiner Simson. Wie fast alle im Jugendclub hat auch er eine: Optisch machten die einfach mehr her als diese modernen Plastikmofas, sagt Louis.  

Allerdings sind die DDR-Zweitakter auch zentraler Bestandteil rechter Jugendkultur in Ostdeutschland. Simson-Veranstaltungen machen immer wieder Negativschlagzeilen als rechte Szenetreffs. Im Jugendclub spiele Politik aber keine Rolle, sagt Louis. Und der Bürgermeister? „Im Endeffekt ist es mir egal, ob er von der AfD oder von den Grünen ist“, sagt Louis, „solange er Gutes tut“. Es höre ja auch nicht jeder dieselbe Musik. 

Nun ist jedoch auch Musik nicht immer neutral. Louis hat vor Kurzem auf einer anderen Party aufgelegt und dort auch L’Amour toujours gespielt, den Song, zu dem in diesem Sommer Rechte landauf, landab fremdenfeindliche Parolen gegrölt haben. Wirklich alles unpolitisch? Louis zuckt mit den Schultern. „Es gibt genügend Fälle, dass wir als blöde Ossis abgestempelt werden“, hat er zu Beginn begründet, weshalb sie im Jugendclub anfangs zurückhaltend auf die Interview-Anfrage reagiert haben. Eine Zurückhaltung, die sich auch während des Gesprächs nie auflöst. Stattdessen feixen die anderen zu Louis‘ einsilbigen Antworten. Für das Foto posieren er und ein Freund in den uniformartigen T-Shirts ihres Clubs, ein dritter trägt eines von Alpha Industries – eine unter Rechtsextreme beliebte Marke, da ihr Logo an das Abzeichen der NSDAP-Kampforganisation Sturmabteilung (SA) erinnert. In eine Großstadt zu ziehen, sagt Louis noch, geschweige denn in den Westen, komme für ihn nicht in Frage. Dann verschwinden sie im Haus. Die Party geht gleich los. 
Ein Motorradfahrer mit gelbem Helm fährt in der Dämmerung durch eine ruhige Straßenecke mit Kopfsteinpflaster. Im Hintergrund stehen ältere Gebäude, darunter ein gelbes Haus und ein braunes Gebäude mit Gedenktafel.

Ein Fahrer eines Simson-Motorrads | Foto: © Jonas Dengler

Zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung 

Diffamierende Berichterstattung über „den Osten“ ist auch vor dem Wolfener Kino vielen ein Begriff. Auch daher rühre die Ost-Identität der jungen Generation, sagt Wenzel, der 1986 in Magdeburg geboren wurde. „Ich glaube, das hat viel mit einer Nachwendeerfahrung des Anders-gemacht-werdens zu tun“, sagt er. Eine Reaktion darauf sei das Verinnerlichen dieses vermeintlichen Andersseins: „Wenn ihr sagt, wir sind die Anderen, dann nehmen wir diese Identität auch an“ – so beschreibt Wenzel diesen Prozess. 
Hat sich die wiedervereinte Nation also verheddert in einem Netz von Selbst- und Fremdzuschreibungen, die sich eher noch gegenseitig versteifen, als in Harmonie aufzugehen?

Wenigstens nicht nur. Das legt ein Blick ins hæßlig-magazin nah, das Klara, 26, und Lennart, 25, auf dem Osten-Festival präsentieren. Für die dritte Ausgabe haben sie Handyfotos gesammelt, die ostdeutsche Lebensrealitäten abbilden. Beim Blättern erweist sich Deutschland als erfrischend vereint: Klar, da ist die Softeiswerbung vor einer Waschbetonfassade, die man im Westen wohl vergeblich suchen würde. Aber die Frau, die im rosafarbenen Kleid vor einem Gewächshaus steht? Ähnlich uneindeutig wie das Verkehrsschild, das in gesamtdeutscher Übellaunigkeit verkündet: „Spielen im Innenhof verboten!“ 

Anhaltende wirtschaftliche Ungleichheit 

Eine Ost-Identität, sagt Lennart, sei auch bei ihm erst entstanden, als er im Studium auf Leute aus dem Westen traf. Als er merkte, dass er in der Schule zwar westdeutsche, die anderen aber kaum ostdeutsche Geschichte gelernt hatten. Die wichtigste Konfliktlinie jedoch sei ein tiefer Frust über die anhaltende wirtschaftliche Ungleichheit, sagt er: Frust darüber, dass Menschen aus dem Osten bis heute über nicht annähernd so viel Kapital verfügen wie jene aus dem Westen. Darüber, dass kaum Ostdeutsche Spitzenpositionen besetzen, und dass viele von ihnen Häuser bewohnen, die Westdeutschen gehören. 

Bleiben oder gehen? 

Im Wolfener Kino hat es vor Kurzem gebrannt; einer in einer ganzen Serie von Bränden, die seit Wochen die Stadt in Aufruhr versetzt. Zuletzt wollen Zeugen Jugendliche gesehen haben, die von einem der Brandorte flüchteten. Eine Meldung wie ein Konzentrat aus all der Perspektivlosigkeit, die man dem Osten gern unterstellt. Dabei verspricht doch gerade das alte Lichtspielhaus, wenigstens an diesem Wochenende, eine kaleidoskopische Vielfalt von möglichen Perspektiven.  
Leon und Helene wollen denn auch bleiben. Sie sei vor eineinhalb Jahren in den Osten zurückgezogen, sagt Helene, „auch aus dem Gefühl heraus: Das kann ja nicht sein, dass alle in meinem Alter wegziehen.“ Und während sie das sagt, leuchtet hinter ihr das alte Kino in der Spätsommersonne. An seinem Eingang haftet noch der Ruß.
 

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