Berlinale 2022
Das Wichtigste ist Offenheit

Politisch wird es natürlich auch auf der Berlinale, wie hier in den „Myanmar Diaries“ des Myanmar Film Collective.
Politisch wird es natürlich auch auf der Berlinale, wie hier in den „Myanmar Diaries“ des Myanmar Film Collective. | Foto (Detail): © The Myanmar Film Collective

International, emotional, unmittelbar: Die Berlinale-Sektion Panorama spürt alljährlich herausragende Werke des internationalen Kinos auf. Sie setzt dabei auf mutige und unkonventionelle Spiel- und Dokumentarfilme, die sich nah am gesellschafts-politischen Zeitgeist bewegen. Leiter Michael Stütz über die wichtigsten Themen und Trends – und das Besondere an seiner Arbeit.
 

Von Ana Maria Michel

Herr Stütz, seit 2019 sind Sie Leiter der Sektion Panorama, zuvor waren Sie bereits lange in dieser Sektion tätig. Was war für Sie das Besondere, als Sie dort anfingen?

Mich interessierte der Fokus auf das queere, das feministische Kino, das das Patriarchat auch mal kritisch anging und dem Publikum einen anderen Blick vermitteln wollte. Die früheren Panorama-Leiter Manfred Salzgeber und Wieland Speck hatten seit Anfang der 1980er-Jahre einen Markt für diese Ausrichtung aufgebaut. Mich faszinierte, wie es ihnen gelungen war, ein Publikum für diese Filme zu finden und es immer wieder herauszufordern.

Wie viele Filme sichten Sie im Durchschnitt, und wie viele schaffen es ins Programm?

Es sind so viele Filme, deshalb kann ich unmöglich jeden einzelnen sehen. Wir arbeiten im Team, damit jeder Film die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient. Viele wären es wert, gezeigt zu werden. Manchmal ist es ein schmerzhafter Prozess, zu seiner Programmauswahl zu kommen. 2022 zeigen wir im Panorama 29 Arbeiten, darunter 19 Spiel- und zehn Dokumentarfilme. Meiner Meinung nach ist es ein sehr starker Jahrgang und ein beeindruckendes Kino mit Filmen, die für die große Leinwand gemacht sind.

Welche Kriterien wenden Sie bei der Auswahl an?

Das ist schwer auf den Punkt zu bringen. Für mich ist das Wichtigste, eine Offenheit mitzubringen und sich nicht vor bestimmten Themen, inszenatorischen Ideen oder ästhetischen Umsetzungen zu verschließen. Auch Zeit ist wichtig, da man das Gesehene verarbeiten und diskutieren muss. Manchmal hat man nach ein paar Tagen plötzlich eine andere Sichtweise auf einen Film. Genau das ist das Spannende.

Welche Themen bietet das diesjährige Panorama-Programm?

Der Jahrgang ist extrem breit gefächert. Familie ist immer ein Thema, auch dieses Mal. Ich finde es toll, dass hier so unterschiedliche Narrative und Lebensperspektiven zu finden sind. Auffallend ist, dass Mütter in diesem Jahr stark im Zentrum stehen, sowohl im Spiel- als auch im Dokumentarfilm.

Warum gerade Mütter?

Es gab auch schon Jahre, in denen sich alles um Väter drehte. Das ist zu einem gewissen Grad wohl Zufall. Doch Mutterschaft und die Rolle der Mütter als gesellschaftliche Fürsorgerin werden in diesem Jahr stark hinterfragt und mit kritischen, aber gleichzeitig persönlichen Perspektiven auf die Leinwand gebracht.

Eines der Fokusthemen in diesem Jahr: die Rolle der Mutter. Im Film „The Apartment with Two Women“ von Kim Se-in geht es um eine schwierige Mutter-Tochter-Konstellation. Eines der Fokusthemen in diesem Jahr: die Rolle der Mutter. Im Film „The Apartment with Two Women“ von Kim Se-in geht es um eine schwierige Mutter-Tochter-Konstellation.

Wie machen die Filme das?


Sehr unterschiedlich. Es gibt etwa Geschichten, die sich einem familiären Mikrokosmos mit toxischen Strukturen annähern, ein Beispiel dafür ist der südkoreanische Spielfilm The Apartment with Two Women von Kim Se-in, der auf eine Beziehung zwischen Mutter und Tochter blickt. Insgesamt kann man sagen, dass wir dieses Jahr ein sehr schonungsloses und schmerzhaftes Kino im Programm haben, das gleichzeitig versucht, zu einer Versöhnung zu kommen. Nicht unbedingt in dem Konflikt selbst, aber zu einer Versöhnung der Figuren mit sich selbst. Dadurch hat der Jahrgang für mich etwas extrem Authentisches, was mich sehr bewegt. Das genau macht das Panorama aus: emotionales, unmittelbares Kino. Da ist zum Beispiel auch der wunderschöne schwedische Dokumentarfilm Nelly & Nadine von Magnus Gertten über Großmütter, Mütter und Enkeltöchter. Es geht um den Holocaust – ein überaus schmerzvolles Kapitel der Geschichte und dieser Familie – aber auch um eine triumphierende lesbische Liebesgeschichte.

Spielt die Corona-Pandemie in den Filmen eine Rolle?

Wir haben einige Filme gesehen, in denen Menschen Masken trugen. In anderen wurde die Pandemie direkt zum Thema gemacht. Am Ende hat es jedoch keiner dieser Filme ins Programm geschafft, wobei Corona kein Ausschlusskriterium war. Die meisten Filme, die wir im Panorama zeigen, wurden vor der Pandemie initiiert und geschrieben. Auch der Fokus auf Familie kann nicht unbedingt als Effekt gesehen werden. Ich denke, das Auf-sich-Zurückgeworfen-Werden ist etwas, was schon vor Corona in unseren Gesellschaften passiert ist.

Welche Entwicklungen gab es in den vergangenen Jahren beim Panorama noch?

Was die Themen angeht, existieren gewisse Zyklen. Natürlich muss sich ein gewisser Zeitgeist im Programm widerspiegeln, ein Bewusstsein für die Geschehnisse auf der Welt. Andererseits gibt es Filme, bei denen es so gar keine Überschneidungen mit dem aktuellen politischen Klima gibt, zumindest auf den ersten Blick. Ich finde es spannend, wenn das Politische über sehr persönliche Geschichten erzählt wird. Es gibt aber auch tolle Filme, die viel klarer machen, dass sie vom Privaten ins Politische gehen, etwa Klondike aus der Ukraine von Maryna Er Gorbach, der 2014 spielt und der den Krieg mit Russland ins Zentrum rückt. Eine positive Entwicklung im Panorama betrifft sicher die Gender Balance bei den Filmschaffenden. Wir sind in diesem Jahr nicht ganz bei 50 Prozent, was ich schade finde. Von 29 Filmen sind 13 von Regisseurinnen, einer ist von einer nicht-binären Person und wir zeigen einen Film von einem anonymen Kollektiv.

Ein Thema, das kaum aktueller sein könnte: „Klondike“ von Maryna Er Gorbach spielt 2014 in der Ukraine – es geht um den Krieg mit Russland. Ein Thema, das kaum aktueller sein könnte: „Klondike“ von Maryna Er Gorbach spielt 2014 in der Ukraine – es geht um den Krieg mit Russland.

 

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Es ist spannend, wenn das Politische über persönliche Geschichten erzählt wird. Es gibt aber auch tolle Filme, die vom Privaten ins Politische gehen.


Im Panorama wird nicht nur ein Publikumspreis vergeben, auch für den queeren, sektionsübergreifenden Filmpreis Teddy sind Sie verantwortlich. Warum ist gerade das Panorama zum Ort für das queere Kino auf der Berlinale geworden?

1980 sollte Manfred Salzgeber dem Panorama, das bis dahin Info-Schau hieß, ein neues Profil geben. Er war zuvor einer der Gründungsmitglieder der Sektion Forum, in der schon in den 1970er-Jahren wegweisende Filme liefen, etwa von Rosa von Praunheim. Manfred Salzgeber war Aktivist, er war offen schwul. Schwule, lesbische und feministische Themen waren seither im Panorama stark vertreten. Über die Jahrzehnte haben sich Filme mit einer queeren Thematik auch in das gesamte Festivalprogramm eingeschrieben.

Wie hat sich das queere Kino verändert?

Lange drehte es sich vor allem um schwule, weiße Mittelstands- und Coming-out-Geschichten. Inzwischen gibt es eine große Bandbreite an Themen und Formen, was zeigt, dass es kein Nischenkino mehr ist. Das queere Kino möchte sich nicht beschränken. Die schwulen Geschichten sind weiterhin da, aber sie stehen nicht mehr alleine im Zentrum. Queerness kann in einem Film durchaus ein Fakt sein, der nicht noch einmal diskutiert werden muss.

Woran haben Sie mehr Freude? Filme für das Programm auszuwählen, oder sie auf der Berlinale zu präsentieren?

Natürlich ist das Sichten wahnsinnig spannend. Für mich ist es aber das größte Geschenk, einen Film dann auch präsentieren zu können. Auf die Bühne zu gehen, dort ein Filmteam zu begrüßen und über den Film zu diskutieren. Ich denke auch, dass die Kinoerfahrung beim Publikum dazu führen kann, gewisse Haltungen zu reflektieren. Es ist etwas Wunderbares, wenn etwas aus dem Kino ins Leben hinausgetragen wird.

 

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