Migration – Emigration – Flucht
Die Brille des „National-Staates“

Briefwechsel
Briefwechsel | Foto: © Colourbox.de/Goethe Institut Max Mueller Bhavan New Delhi

Lieber Georg, 

wie es aussieht, hat sich Europa verändert, seit wir zuletzt miteinander korrespondierten: Paris wurde vom Terror heimgesucht, in Brüssel herrscht der Ausnahmezustand und wenn man den Geheimdienstinformationen glauben kann, dann ist zumindest einer der Pariser November-Attentäter mit einem gefälschten syrischen Pass gereist und hat wie ein Fisch im Wasser in den Migrantenmassen Europas Grenzen überwunden (um einen Maoistischen Slogan zu verwenden).
 
Die Verwendung eines gefälschten syrischen Passes durch den Islamischen Staat scheint zur Strategie zu gehören – es machte es für den Kämpfer leichter, über die Grenzen zu kommen, und zugleich schürt es die europäischen Ängste vor den Flüchtlingen. In Teilen der öffentlichen Vorstellung verwandelt sich der Migrant/Musafir ein weiteres Mal: Aus einem, der vor dem Terror flieht, wird jemand, der den Terror ausübt. In Europa warteten manche nur auf diesen Moment – Polen hat bereits angekündigt, die Grenzen zu schließen.
 
Frankreich – jenes Land, dem wir die Déclaration des droits de l'homme et du citoyen, die Menschenrechtserklärung, verdanken (die in den Kolonien nicht galt) – befindet sich in einem Ausnahmezustand, in dem viele dieser Rechte außer Kraft gesetzt sind, und die Frage nach der Staatsbürgerschaft steht in Frage.
 
Früher in diesem Jahr entschieden französische Gerichte, dass es rechtmäßig sei, Menschen mit zwei Pässen ihre Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn sie als Terroristen verurteilt wurden. Das schafft quasi zwei Klassen von Staatsbürgern. Diese Auslegung des französischen Zivilgesetzbuchs bezog sich auf jemanden, der ursprünglich aus der früheren Kolonie Marokko stammte.
 
Die Reise des Musafir ist plötzlich noch schwieriger geworden. Bedeutet dies, wie manche meinen, dass die Terroristen ‚gewonnen’ haben? Ich glaube das nicht. Lass mich die wenig präzise formulierte Frage hier zurückstellen und zunächst auf das zurückkommen, was Du über deinen Besuch am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) geschildert hast, denn es kann uns viel zu denken geben.
 
Es ist bemerkenswert, dass das Landesamt für Gesundheit und Soziales für die Registrierung der Flüchtlinge zuständig ist. Ich musste an den Abschnitt „Der Panoptismus“ im dritten Kapitel von Überwachen und Strafen denken, wo Foucault erläutert, wie sich der Wandel in den Träumen der Herrschaft daran ablesen lässt, wie unterschiedlich zum einen auf die Lepra (die Modelle der Ausschließung entstehen ließ) und zum anderen auf die Pest reagiert wurde (die Disziplinarmaßnahmen entstehen ließ).
 
Die von der Lepra Befallenen werden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen; die Pestkranken werden registriert, gezählt, in ihren Wohnvierteln in Quarantäne gehalten und unter die ständige Beobachtung der Behörden gestellt. In dieser neuen Form von Ordnung, die sich unablässig parzelliert und bis hin zum Individuum teilt, muss die Registrierung des Pathologischen, so Foucault, „lückenlos und zentral gelenkt sein.“
 
Was er im Folgenden dann schreibt, ist noch erkenntnisreicher und schöner: „Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor den ‚Ansteckungen’, vor der Pest, vor den Aufständen, vor den Verbrechen, vor der Landstreicherei, vor den Desertionen, vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben.“
 
Also ist es sehr wichtig, diesen Vorgang zu dokumentieren, wie Du es in Deinem Brief getan hat. Der Immigrant – eine Person, die auftaucht und verschwindet, in der Unordnung lebt und stirbt – ist für eine Nation ein Störfaktor, da sie und er die Kategorie des ‚Bürgers’ in Frage stellt.
 
Danke für Deinen Bericht. Ich freue mich schon auf weitere Neuigkeiten und Details von Deinen Besuchen im Lageso.
 
Du fragst: Aman, wie siehst du eine ideale Ordnung? Was siehst du für die Zukunft? Was kann Europa lernen, von Indien, von anderen Gegenden der Welt?“
 
Das sind interessante und schwer zu beantwortende Fragen. Lass mich mit der letzten beginnen: Was kann Europa lernen, von Indien, von anderen Gegenden der Welt?
 
Sicher ist diese Email nicht ganz der richtige Ort, um darauf wirklich hintergründig zu antworten. Doch 1947 wurden rund vierzehn Millionen Menschen auf dem indischen Subkontinent umgesiedelt, als die Teilung zwischen Indien und Pakistan stattfand.
 
Es gab Aufstände und Massaker, Durchgangslager und Beispiele für Nächstenliebe auf beiden Seiten der neuen Grenze. Meine Großeltern waren ein Teil dieser Massenmigration – sie kamen aus dem pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet und zogen nach Neu-Delhi.
 
Mit der Zeit verlor sich der Schock und der Schrecken der Teilung in der neuen Umgebung und an deren Stelle traten alltäglichere und banalere Plänkeleien und schließlich eine Art Waffenruhe. Die Erinnerung an die Teilung und die Existenz von Pakistan spielen weiterhin eine große Rolle in den öffentlichen Debatten in Indien.
 
Unlängst noch hielten Anhänger der gegenwärtigen Regierungspartei ihren politischen Gegnern vor, sie sollten doch „nach Pakistan“ gehen, als diese ihre Unzufriedenheit mit der Agenda und dem (Nicht-)Handeln der herrschenden Partei Ausdruck verliehen.
 
Diesen beleidigenden Vorwurf äußern oftmals Hindus, die ursprünglich aus dem heutigen Pakistan stammen, gegenüber Muslimen, die sich einst entschieden, im heutigen Indien zu bleiben.
 
Es ergibt eine interessante Dynamik, wenn diejenigen, die sich zum Kommen entschieden, denjenigen, die blieben, ihren Patriotismus absprechen: offenbart sie doch die Fragwürdigkeit von Begriffen wie „Kultur“, „Migrant“, „Einheimische“ – Begriffe, die in aktuellen Debatten sehr häufig verwendet werden, dies allerdings aber oft ohne ausgeprägtes historisches Bewusstsein.
 
Meine kurze Beschreibung der Teilung ist eine grobe Vereinfachung eines langen und chaotischen Prozesses; doch sie mag als Lektion dienen, die zeigen kann, dass die gegenwärtige Lage in Europa kaum als unüberwindlich zu beschreiben ist.
 
Du fragst: Zerlegt sich der Nationalstaat? Ich glaube nicht, dass die verwaltungstechnischen Rahmen des Nationalstaatlichen wirklich in Gefahr sind, aber die Brille des „National-Staates“ ist meiner Meinung nach immer weniger brauchbar, um die Welt, die Kapitalströme, die Interessen der ‚Völker’, den Einsatz von Arbeitskräften, die Beurteilung von fairen Arbeitsbedingungen etc. zu verstehen. 
 
Das Thema der Nationalitätszugehörigkeit scheint die Bevölkerungen immer weniger zu interessieren, wie sich an den Millionen von Menschen zeigt, die sich in den Entwicklungsländern darum bemühen, an neue Pässe und Staatsangehörigkeiten zu gelangen.
 
Man sollte den Marsch der Musafir nicht als Migration von Syrern/ Irakern/ Libyern/ Gambiern/ Somalis nach Deutschland/ Frankreich/ Österreich/ Griechenland sehen, sondern vielmehr als eine Bewegung der Arbeit in die Hochburgen des Kapitalismus, um einen New Deal zu schließen.
 
Was, wenn wir diese gegenwärtigen Vorgänge als eine logische Fortsetzung der „Occupy“-Bewegung sehen, die wir in aller Welt in Folge von „Occupy Wall Street“ erleben konnten.
 
Wenn die Welt eine einzige, zunehmend integrierte ökonomische Einheit darstellt (wie uns so oft weiß gemacht wird) und jede Person nach ihrem wirtschaftlichen Wert als ein in dieser Ökonomie Arbeitender oder Arbeitssuchender beurteilt wird (wie es meist der Fall ist) – dann erlebten wir im Sommer vielleicht eigentlich einen Arbeiteraufstand, an dem Arbeiter aus Afrika und dem Nahen Osten beteiligt waren.
 
Eine solche Sichtweise auf die Welt mag brauchbarere Lösungen anbieten; schon weil der Rest der Welt das Phänomen Migration bereits auf diese Weise begreift.
Hier ist ein Ausschnitt aus einem Medienbericht über das Dringlichkeitstreffen von Vertretern der EU und afrikanischer Staaten, das vor kurzem in Malta endete:   
 
“Für afrikanische Staatsführer wie den Präsident des Niger Mahamadou Issoufou sind 2 Milliarden Dollar – zusätzlich zu den 20 Milliarden, die die EU-Staaten bereits für Afrika bereitgestellt haben – nicht ausreichend. Es sollte weniger Hilfszahlungen und mehr Investitionen geben, fordern sie, und dass die multinationalen Konzerne ihre Steuern zahlen. Die Afrikanische Union hat errechnet, dass der Kontinent jährlich 50 Milliarden Dollar durch Steuerhinterziehung und unrechtmäßige Praktiken solcher Konzerne verliert. ‚Wenn wir die Steuerflucht stoppen könnten, müssten wir auch nicht länger um Hilfe bitten“, sagte Sall [Premierminister des Senegal]. "Terrorismus ist ein Thema, wo immer es Krieg gibt, fliehen die Menschen – wo es keine Entwicklung gibt, fliehen die Menschen dorthin, wo es Entwicklung gibt.“ "Wir müssen die Migration gelassener sehen, müssen ihr das Dramatische nehmen“, fügte er hinzu.
 
Natürlich spiegeln sich in den Verlautbarungen der afrikanischen Führer ihre eigenen Zwänge – es ist leichter, vorwurfsvoll Gründe für die Auswanderung aus dem eigenen Land (z.B. aus dem Senegal) anderswo (z.B. in Europa) zu finden. Der Vorschlag aber, die Migration „gelassener“ zu nehmen, verrät eine realistische Einschätzung, dass Steuerungen und Nötigung ihre Grenzen haben.
 
Zum Schluss möchte ich einige Fragen stellen, die ich habe. Ich würde gerne mehr über das westdeutsche ‚Gastarbeiterprogramm’ erfahren, durch das Millionen von türkischen Bürgern in der Wirtschaftswunderzeit nach dem Krieg nach Deutschland kamen, um in Fabriken zu arbeiten. Wie lässt sich das Programm im Rückblick beurteilen – und lassen sich aus den Erfahrungen der Sechziger Jahre vielleicht irgendwelche Schlüsse für unsere Gegenwart ziehen?
 
Wie immer freue ich mich auf Deine Antwort,
Dein
Aman

New Delhi, den 30. November 2015

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