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Max Mueller Bhavan | Indien

Eine Serienanalyse
Annäherung an Arendts Gedankenwelt

Über die Banalität des Bösen
Illustration: © Eléonore Roedel

Was haben die Serien Andor und Sense8 mit Hannah Arendts Überlegungen zur Banalität des Bösen zu tun? Susann Kabisch und Michael Seemann zeigen die spannenden Verbindungen auf.

„When truth leaves us, when we let it slip away, when it is ripped from our hands, we become vulnerable to the appetite of whatever monster screams the loudest.“

Unmittelbar vor ihrer Flucht – in ihrer letzten Rede vor dem Senat – legt Senatorin Mon Mothma Zeugnis ab – für die Wahrheit über den verleugneten Genozid an der Bevölkerung eines ganzen Planeten.

Wir befinden uns im Star Wars-Universum, vor der Rückkehr der Jedi-Ritter, vor Luke und Leia, vor Rogue One. Und vor dem Todesstern.

Die Serie Andor knüpft an das politische Potenzial der frühen Kinofilme über die Rebellion gegen das Dunkle Imperium an. Doch anders als in den Filmen wirkt das Imperium mit seiner Verführung zur Dunklen Seite der Macht nicht übernatürlich-düster, sondern unheimlich normal und erschreckend banal.

Ein anderes Beispiel für eine zeitgenössische Inszenierung der Banalität des Bösen finden wir in der Serie Sense8, wo Wesen einer anderen Spezies – „Homo sensorium“ oder „Sensates“ – Widerstand gegen eine Organisation leisten, die sie auslöschen will.

In beiden Serien lassen sich jeweils unterschiedliche Aspekte aus Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen wiederfinden. In beiden Serien zusammen gesehen nimmt eine Utopie des Widerstands Gestalt an.

Andor

Die Serie Andor zeigt, wie das Imperium als Machtapparat funktioniert: Wir sehen die Gefängnisse, die eigentlich ökonomisch ausgebeutete Arbeitslager sind. Wir sehen, wie imperiale Sicherheitskräfte nach undokumentierten Migrant*innen fahnden. Wir steigen hinab in den Maschinenraum der Bürokratie, in die Hierarchien des Sicherheitsapparats, lernen die kolonialen Verwaltungsstrukturen kennen und bekommen das Imperium als Karriereoption präsentiert. 

Über zwei Staffeln verfolgen wir den Aufstieg von Dedra Mirro, Führungsoffizierin des imperialen Sicherheitsdienstes. „Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive;” schreibt Hannah Arendt über Eichmann. Das gilt auch für Dedra: Als sie auf einer Geheimkonferenz des Imperiums, die nicht nur optisch an die Wannsee-Konferenz erinnert, den Auftrag erhält, an dem Genozid an der Bevölkerung des Planeten Ghorman mitzuwirken, bringt sie sich mit eigenen Vorschlägen ein und setzt ausgerechnet ihren Beziehungspartner Syril Karn als Spionage-Kontakt auf dem Planeten ein.

Syril Karn verfolgt ebenfalls in erster Linie seine Karriere. Er ist ambitioniert, aber nicht sonderlich schlau, verhält sich stets demütig gegenüber Vorgesetzten, dem Imperium als Ganzes, seiner Mutter und eben auch gegenüber Dedra.

Auch die Rebellion lernen wir anders kennen, als wir es von Star Wars gewohnt sind.

Cassian Andor, der titelgebende Protagonist der Serie, tritt zunächst als Kleinkrimineller auf, der vornehmlich auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Erst nach und nach – durch eine Reihe von Umständen, Zufällen und Begegnungen – findet er in die Rebellion. Bis er zuletzt alles zu opfern bereit ist.

Ohne Opfer keine Rebellion. Und keine Rebellion bleibt ohne Opfer. Das zeigt die Serie in vielen Variationen.

Mon Mothma, die Senatorin, beginnt damit, die Widerstandskämpfe im Verborgenen zu finanzieren. Sie riskiert zunächst ihr Ansehen, Amt und Würden, die Entfremdung von ihrer Familie und zuletzt – mit der eingangs zitierten Rede im Senat – ihr eigenes Leben.

Opferbereitschaft für den Widerstand

Luthen Rael, die ambivalent gezeichnete Gründungsfigur der Rebellion, hält einen langen Monolog, als er von seinem Spionage-Kontakt im Sicherheitsdienst danach gefragt wird, welche Opfer er denn bringe:
„Calm. Kindness. Kinship. Love. I’ve given up all chance at inner peace. I’ve made my mind a sunless space. I share my dreams with ghosts. I wake up every day to an equation I wrote 15 years ago from which there’s only one conclusion, I’m damned for what I do. […] What is my sacrifice? I’m condemned to use the tools of my enemy to defeat them. I burn my decency for someone else’s future. I burn my life to make a sunrise that I know I’ll never see. And the ego that started this fight will never have a mirror or an audience or the light of gratitude. So what do I sacrifice? Everything!”

Dieser Moment greift ein zentrales Thema von Star Wars auf: die Leichtigkeit der Verführung durch die Dunkle Seite der Macht. Nur kommt diese Verführung in der Serie Andor völlig ohne übernatürliche Kräfte aus.

Luthen ordnet dem Kampf gegen das Imperium alles unter. Menschen und Beziehungen werden von ihm instrumentalisiert, auch geopfert. Damit ist er auch innerhalb der Rebellion umstritten, doch Luthen lässt sich von seinen Entscheidungen nicht abbringen.

Hannah Arendt charakterisiert Eichmann über seine  „nahezu totale Unfähigkeit, jemals eine Sache vom Gesichtspunkt des anderen her zu sehen” (Arendt 124).
Vor diesem Pfad auf die dunkle Seite ist auch Luthen nicht gefeit.

Sense 8  

„Eine Sache vom Gesichtspunkt des anderen her zu sehen” – diese Fähigkeit wird in der Serie Sense8 zum Grundzug einer spezifischen Art des In-der-Welt-Seins.

Auch hier steht die Rebellion gegen ein Imperium im Mittelpunkt: Die Organisation BPO verfolgt die Ausrottung einer eigenen Spezies, den Sensates, von denen wir acht Protagonist*innen an acht unterschiedlichen Orten der Welt kennenlernen.

Sensates, auch Homo sensorium, leben unerkannt unter den Homo sapiens, sind ihnen sehr ähnlich, aber verfügen über eine sehr spezielle Fähigkeit: Sie können sich in andere Sensates hineinversetzen. Sie können sehen, was die anderen sehen, wissen, was die anderen wissen, fühlen, was die anderen fühlen. Und sie können dort sein, wo die anderen sind.

Es sind gerade auch diese Fähigkeit und ihr weltveränderndes Potential, was BPO zu vernichten versucht, „als ob sie […] das Recht [...] hätten, zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht” (Arendt 404). Wie die Jagd des Imperiums auf die Rebellen, dient auch die Jagd auf die Sensates dazu, die bestehenden Verhältnisse aufrechtzuerhalten.

Ein Beispiel für dieses Potential ist eine Begebenheit zwischen Kala und ihrem Ehemann Rajan: Die Pharmazeutin und Sensate Kala konfrontiert Rajan, Homo sapiens und Erbe eines Pharmaunternehmens in Bombay, mit einem vermeintlichen Fehler in der Buchführung. Abgelaufene Medikamente werden in andere Teile der Welt, zum Beispiel nach Afrika, verschifft. Dies sei Absicht, denn alle machen es so, erklärt Rajan. Es gehe darum, die Firma zu schützen, und ‚unsere Leute‘.

An dieser Stelle tritt, über die Sensate-Verbindung und für Rajan unsichtbar, Capheus aus Nairobi in Kalas Wahrnehmung. Seine Mutter ist HIV-positiv und auf genau jene Medikamente angewiesen.

Zeugenschaft als Widerstand

Kala nimmt die Perspektive von Capheus ein. Sie geht damit das Risiko der Entfremdung von ihrem Ehemann ein und konfrontiert ihn mit der Verwerflichkeit dieses in seiner Umgebung offenbar allgemein akzeptierten Vorgehens.
Ihre Zeugenschaft wird zum Widerstand gegen ein lebensfeindliches System.

In der Serie Sense8 schafft jedes In-die-Aufmerksamkeit-Treten eine Beziehung zwischen Menschen, die in völlig unterschiedlichen Welten leben, und hebt eine jeweils zuvor unzugängliche Wahrheit in die Wahrnehmung.

Was die Sensates können – die Welt mit den Augen der Anderen sehen – ist ansteckend.
Rajan wird schließlich sehen, was Kala sieht – und sich selbst und sein Handeln verändern.

Marginalisierte oder tabuisierte Perspektiven durch Zeugenschaft präsent zu machen und dadurch echte Veränderung zu erreichen, das ist es, was den Sensates und ihren Verbündeten in Sense8 gelingt. „Kindness, kinship, love” - das, worauf Luthen im Dienst der Rebellion verzichtet oder verzichten zu müssen glaubt – sind hier die stärkste Waffe.

Epilog

In der zweiten Staffel von Andor sehen wir, wie Syril als Doppelagent im Auftrag von Dedra Kontakte mit dem Widerstand auf Ghorman macht. Syril weiß selbst nichts von dem bevorstehenden Genozid und hat sich bis hin zu Kleidung und Haarschnitt der lokalen Kultur angenähert – und auch die Perspektive der anderen Seite wird ihm zunehmend zugänglich und nachvollziehbar.
Als er viel zu spät versteht, dass es dem Imperium um einen Genozid an der Bevölkerung Ghormans geht, konfrontiert er Dedra und kehrt sich vom Imperium ab.

Doch bei der Serie Andor gibt es für niemanden Erlösung. Syril stirbt schließlich bei dem impulshaften Versuch, an Cassian Andor Rache zu nehmen.

Und doch ist dieser Moment, der Moment der Zeugenschaft, wichtig, weil er die Möglichkeit des Entkommens aus der Banalität des Bösen aufzeigt.

Hannah Arendt beschreibt Völkermord als
“Verbrechen an der Menschheit im eigentlichen Sinne, nämlich an dem »Status des Menschseins« oder an dem Wesen des Menschengeschlechtes,  […]
einen Angriff auf die menschliche Mannigfaltigkeit als solche [...], also auf ein Wesensmerkmal des Menschseins, ohne das wir uns Dinge wie Menschheit oder Menschengeschlecht nicht einmal vorstellen können.” (Arendt 391)

In der Serie Sense8 zeigen Zeugenschaft und Empathie den Weg in eine Gesellschaft, die von Mannigfaltigkeit und Respekt vor Andersheit geprägt ist.
Beide Serien, Andor und Sense8 zeigen, dass Widerstand möglich ist. Widerstand fängt mit Empathie und Hinsehen an und wird mit der Zeugenschaft real – und manchmal kostspielig. Egal ob der Kampf gegen ein materielles Imperium, oder in der Selbstverteidigung gegen eine hegemoniale Gesellschaftsordnung; ein Mittel gegen die Banalität des Bösen ist Zeugenschaft – semantischer Widerstand gegen Wegsehen und Ignoranz.

Literatur:
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 2007.
 

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