Home-Office
„Eine neue Verfügbarkeit“

Home-Office. Belo Horizonte, 2021
Home-Office. Belo Horizonte, 2021 | Foto (Ausschnitt): © Marlon de Paula

Noch nie wurde so viel aus Distanz gearbeitet wie in der Pandemie. Berufstätige sind außerhalb des Büros heute genauso verfügbar wie in Präsenz. Oft sogar mehr. Was also gewinnt man und was geht verloren, wenn Arbeit keine physische Nähe mehr braucht?

Von Juliana Vaz

Die Coronapandemie beschleunigte Veränderungen der Arbeitswelt und machte Home-Office weltweit zur Realität. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation ILO übten während der Pandemie zwischen 20 Prozent und 30 Prozent der Beschäftigten in Lateinamerika und der Karibik ihre Arbeit von zu Hause aus. 2019 waren es noch weniger als drei Prozent. In wenigen Monaten wurde die Sphäre des Heimischen umdefiniert: Die Wohnung mit ihren traditionellen Funktionen der Unterkunft und Erholung wurde zum Ort der Produktivität. Besprechungen im Büro verloren an Bedeutung, und an ihre Stelle traten Zoom-Konferenzen und andere Videoformate – im Wohnzimmer, in der Küche, im Schlafzimmer.

Ähnlich unüblich wurden die Arbeitszeiten. Auf Whatsapp, Telegram oder per Mail ist die oder der Beschäftigte heute erreichbarer als je zuvor und fühlt sich gedrängt, ständig verfügbar zu sein. Für viele droht die so ersehnte Flexibilität in völligen Kontrollverlust über ihre Arbeitszeit zu entgleiten. Wie reagiert man zum Beispiel auf eine E-Mail des Chefs nach dem Abendessen? Regulierungen halten nicht Schritt mit dem Tempo, in dem technische Entwicklungen die Arbeitswelt verändern, aber immerhin wird schon über ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ diskutiert, das es Angestellten erlauben würde, berufliche Nachrichten außerhalb der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit um der eigenen Gesundheit und des Wohlergehens willen zu ignorieren. Angesichts eines drohenden Verwischens von Grenzen zwischen Privatleben und Arbeit stellt sich die Frage: Arbeiten wir eigentlich noch zu Hause oder leben wir auf der Arbeit?

Home-Office ist Luxus

In Brasilen allerdings ist es immer noch Luxus, zu Hause zu arbeiten. Laut dem brasilianischen Institut für angewandte Wirtschaftsforschung Ipea arbeiteten 8,2 Millionen Brasilianer*innen während der Pandemie von zu Hause aus. Das entspricht 11 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung – ein sehr niedriger Prozentsatz verglichen mit Ländern wie Deutschland, wo 2020 bis zu 27 Prozent der Beschäftigten von zu Hause aus tätig waren. Und das Profil der Beschäftigten im Home-Office legt die schreiende Ungleichheit der brasilianischen Gesellschaft offen: Überwiegend (zu 65,6 Prozent) sind es Weiße mit höherer Ausbildung (74,6 Prozent) im Südosten (58,2 Prozent), die in der Privatwirtschaft tätig sind(63,9 Prozent).

Für den Soziologen Ricardo Antunes, Autor der Studie Coronavirus: o trabalho sob fogo cruzado (Coronavirus: Arbeit im Kreuzfeuer), wurde aus dem zunächst positiv belegten Home-Office eine „neue Hölle“: „Wir haben uns die negativen Aspekte der Arbeit nach Hause geholt, also Arbeit, berufliche Tätigkeit, dabei aber den Kaffee unter Kolleg*innen, die Gespräche, die sich im Alltag ergebenden Sedimente der Begegnungen liegengelassen“, stellt er fest. „Es gibt ja eine Dialektik der Arbeit. Sie ist nicht ausschließlich wunderbar, aber auch nicht nur entsetzlich.“

Doppelte Belastung für Frauen

Arbeiten aus der Distanz, sagt Antunes, neige auch dazu, sich zu individualisieren und weniger sichtbar zu sein, was gewerkschaftliche Organisierung erschwert. Zudem kann es zu einer Verdoppelung und Intensivierung des weiblichen Arbeitstags kommen, insofern als sich produktive Arbeit – außerhalb und im strengeren Sinn marktgerecht – mit der reproduktiven Arbeit im Haushalt vermischt.

„In einem machistischen, patriarchalen Land wie dem unseren wird reproduktive Arbeit noch immer hauptsächlich von Frauen geleistet. Also übernehmen sie neben der Arbeit Betreuung und Pflege, machen Essen, bringen die Kinder zur Schule. Und der Mann trägt seinen negativen Teil dazu bei, indem er darauf besteht, dass sie die häusliche Arbeit erledigt, die er in der soziosexuellen Aufteilung der Frau zuschreibt. Das hat zu mehr Leid, mehr häuslicher Gewalt und zu Femiziden geführt. Im akademischen Bereich schreiben Frauen inzwischen deutlich weniger Beiträge als die Männer“, stellt Antunes fest.

Just-in-Time-Tätigkeit

Und es gibt Grund zur Befürchtung, dass Distanzarbeit zur Präkarisierung der Arbeitnehmerrechte beiträgt, insbesondere im Dienstleistungsbereich, wo sich eine Art „digitaler Versklavung“ entwickelt. „Wie kann man sicher sein, dass Home-Office nicht den Weg in Richtung einer Umwandlung von regulären Beschäftigungsverhältnissen zu Freelance oder Selbstständigkeit einschlägt, eines ‚neuen Dienstleistungsproletariats des Digitalzeitalters‘? Das ist eines der größten Risiken“, warnt Antunes.

Während die überwiegend weiße und gut ausgebildete Minderheit das Privileg genießt, zu Hause zu bleiben, müssen die vulnerableren Schichten hinaus auf die Straße und sich dem Virus aussetzen. Beschäftigte von Lieferdiensten, Fahrrad- oder Motorradboten, die für Apps wie Uber, iFood oder rappi arbeiten und im brasilianischen Straßenbild zunehmend sichtbar werden. Es sind Just-in-Time-Arbeitende, die „on demand“ tätig sind und ohne reguläre Arbeitsverhältnisse keinen geregelten Arbeitstag kennen. Diese weltweite Tendenz gibt Beschäftigten theoretisch mehr Flexibilität und Autonomie durch die freie Wahl der jeweiligen Arbeitszeit. In der Praxis jedoch ist über Plattformen vermittelte Arbeit komplexer.

„Es gibt tatsächlich einen Entscheidungsraum des Beschäftigten darüber, wie er seine Zeit einteilt. Es gibt nicht mehr die Stechuhr, die seinen Arbeitstag in der Firma erfasst, was aber nicht heißt, dass er deswegen mehr Selbstständigkeit genießt“, sagt Ludmila Costhek Abílio, die an der Unicamp zum Phänomen der „Uberisierung“ in Brasilien forscht. Laut ihr sind in dieser Art von Beschäftigung andere Formen der Kontrolle wirksam: „Die Macht über die Höhe der Vergütung sowie die Kriterien der Vergabe von Arbeit liegen in der Hand der Unternehmen. Der Fahrer bei Uber weiß, in welcher Gegend oder zu welchen Uhrzeiten es für ihn mehr und einträglichere Fahrten gibt, also verlegt er seine Arbeit dorthin. Ist das Selbstständigkeit? Oder bestimmen nicht eher doch Vorgaben des Unternehmens, wann er arbeitet?“, fragt Abílio. Man müsse die selbstständige Arbeit für Plattformen, sagt die Wissenschaftlerin, als „selbstständige Arbeit auf Anweisung“ verstehen. Aus ihrer Sicht gibt es tatsächlich eine Verlagerung der Arbeitszeitverwaltung auf den Beschäftigten selbst, der als Untergebener weiterhin den Regeln der Unternehmens-App folgt.

Untersuchungen deuten darauf hin, dass das Home-Office gekommen ist, um zu bleiben, und dass auch nach dem offiziellen Ende der Pandemie nach den Regeln der Weltgesundheitsorganisation die Tendenz sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor dahin geht, dass Arbeit hybrid geleistet werden kann, also manchmal im Büro und an anderen Tagen von zu Hause aus.
 

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