Die Bedürfnisse von Kinder priorisieren
Die unzureichende Dateninfrastruktur in Deutschland

Illustration von Jan Paul Heisig (links) und Paromita Vohra (rechts)
Illustration von Jan Paul Heisig (links) und Paromita Vohra (rechts) | Illustration (Ausschnitt): © Nik Neves

Jan Paul Heisig, Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin, beantwortet die Fragen des südkoreanischen Philosophieprofessors Kwang Sun Joo: „Hat die gesellschaftliche Ungleichheit in Deutschland in Zeiten des digitalen Unterrichts den Einfluss auf die Bildung verstärkt? Wenn dem so ist, inwiefern ist der Einfluss größer geworden? Und was kann man tun, um dieses Problem zu lösen?“ Die Schulschließungen haben offenbar auf der einen Seite negative Auswirkungen auf das Lernverhalten gehabt, vor allem für benachteiligte Kinder. Auf der anderen Seite hat die Krise vielleicht sogar einige positive Langzeitfolgen mit sich gebracht.

Von Jan Paul Heisig

Kwang Sun Joo, Sie fragen, ob das Lernen digital und von zu Hause während der Pandemie die sozialen Ungleichheiten in Deutschland noch verstärkt hat.

Diese Frage lässt sich überraschenderweise nur sehr schwer klar, wissenschaftlich begründet beantworten, da es in Deutschland nur eine unzureichende, flickenteppichartige Kontrolle von schulischen Leistungen gibt. Meiner Ansicht nach ist eins der wichtigsten Dinge, die die Pandemie uns gelehrt hat, dass wir diese Infrastruktur dringend verbessern müssen, indem wir regelmäßig und standardisiert den Lernstand an den Schulen erfassen und die Ergebnisse von Expert*innen auswerten lassen.

Dennoch gibt es in einigen deutschen Bundesländern Daten zum tatsächlichen Leistungsstand. In zahlreichen anderen Ländern mit hohem Einkommen, in denen eine bessere Dateninfrastruktur herrscht, finden wir ebenfalls zahlreiche Belege. Wenn man diese betrachtet, ergibt sich ein Bild von deutlich abnehmender Lernkompetenz und wachsender Ungleichheit. Darüber hinaus haben Umfragen zu den Erfahrungen von Lernenden und ihren Eltern während der Pandemie ergeben, dass benachteiligten und leistungsschwachen Schüler*innen das Online-Lernen schwerer fällt, diese oftmals technisch schlecht ausgestattet sind und von ihren Eltern weniger Unterstützung erhalten. Ihre Sorgen scheinen also berechtigt, ebenso die Frage, wie man die Situation ändern kann. Statt konkrete Maßnahmen vorzuschlagen, möchte ich zunächst einige allgemeine Anmerkungen machen.

Lehren aus den Zeiten des digitalen Unterrichts ziehen 

Zuallererst müssen wir schneller, pragmatischer und kreativer werden, wenn es um die Bedürfnisse von Kindern geht. Für Erwachsene sind ein paar Monate nicht viel, für Kinder ist es jedoch ein langer Zeitraum, in dem je nach den Umständen viele Entwicklungsschritte vollzogen werden können. Ich schreibe diesen Brief Mitte November 2021 und Deutschland befindet sich mitten in der vierten Coronawelle. Die Anzahl der Infizierten ist so hoch wie nie, die Todes- und Krankenhausfälle steigen. Die Frage, wie man die Übertragung des Virus in Schulen eingrenzen kann, wird nun wieder diskutiert. Aufgrund der Behäbigkeit von Politik und Verwaltung gibt es in vielen Klassenzimmern jedoch immer noch keine Luftfilter, obwohl diese möglicherweise einen bedeutenden Beitrag leisten können, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen.

Zweitens müssen wir uns dringend mehr um benachteiligte Kinder kümmern. Man muss zwar zugestehen, dass es vielerlei Bemühungen gab, das Versäumte nachzuholen, etwa durch kostenlosen Zusatzunterricht, Ferienkurse und andere Maßnahmen, aber Umfrageergebnisse zeigen, dass viele dieser Angebote nicht bei jenen Kindern ankommen, die sie am dringendsten benötigen. Die Ergebnisse zeigen einerseits, dass leistungsschwache Schüler*innen eher an solchen Maßnahmen teilnehmen, auf der anderen Seite spielt aber auch die Ausbildung der Eltern eine deutliche Rolle: Kinder, deren Eltern einen akademischen Abschluss haben, haben solche Hilfsangebote eher angenommen als solche, deren Eltern keinen Universitätsabschluss haben.

Als dritten und letzten Punkt möchte ich anführen, dass unsere Bemühungen, die Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche aufzufangen, ein umfassendes Verständnis der kindlichen Entwicklung voraussetzt. Der Unterrichtsausfall im Bereich Lesen, Mathematik und anderen Fächern ist bedeutend und muss unbedingt auf die gemeinsame Agenda. Wir müssen jedoch auch sehen, dass Schulschließungen und andere Maßnahmen auf sozio-emotionaler Ebene den jungen Menschen viele Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung genommen haben. Es gab weniger Kontakte mit Gleichaltrigen, dafür mehr mit den Eltern und weniger Begegnungen mit anderen Erwachsenen. Inzwischen ist auch klar, dass die geistige Gesundheit vieler Kinder beeinträchtigt wurde und die Krise sie psychisch belastet hat. Es mag zwar noch zu früh sein, um festzustellen, ob die Kinder auf den Stress dieser Zeit und die Lockdown-Maßnahmen nur zeitlich begrenzt reagieren oder aber die Pandemie für viele traumatisierend gewirkt und bleibende Schäden verursacht hat. Die Erkenntnisse zeigen jedoch eines ganz sicher, nämlich dass die kognitive Entwicklung nur eine von vielen Facetten der kindlichen Entwicklung und des kindlichen Wohlbefindens darstellt.

Positive Ausblicke

Die oben genannten Punkte lassen erahnen, dass wir in den nächsten Monaten, wenn nicht sogar Jahren, vor gewaltigen Herausforderungen stehen. Es scheint also, als gäbe es nichts Positives, dass ich am Ende noch anfügen könnte. Vielleicht aber doch: Krisen sind immer auch eine Chance auf Erneuerung, Innovation und Wachstum. Was die Bildungssituation in Deutschland betrifft, so hat die Pandemie einen längst überfälligen Schritt in Richtung Digitalisierung angestoßen, der vielleicht auch nach der Pandemie noch bleibenden positiven Einfluss haben wird. Die Schülerinnen und Schüler haben vielleicht auch nicht nur Unterrichtsausfall und sozio-emotionale Entbehrungen hinnehmen müssen, sondern sich möglicherweise auch wertvolle Fähigkeiten im Bereich Selbstorganisation und Bewältigungsstrategien angeeignet, die ihnen sowohl beim Lernen als auch allgemein im Leben von Nutzen sein werden. Diese Chancen auf Wachstum werden wahrscheinlich wieder nur einer ausgewählten Gruppe zuteil, und die Kinder aus mittleren und höheren Schichten werden wohl eher die Möglichkeit haben, Positives aus der Krise zu ziehen, weil diese sie nicht so hart getroffen hat wie viele andere. Aber sie sind und bleiben dennoch eine Chance auf Wachstum.

Paromita, ich bin mir sicher, dass die Pandemie und die Schulschließungen negative Auswirkungen auf die Kinder in Indien hatten und die Ungleichheit dort noch verschärft hat – und ich denke, dass wir darüber unbedingt mehr erfahren müssen. Dennoch frage ich mich, ob Sie nicht auch wenigstens ein kleines Licht im Dunkel erkennen können, irgendeinen Hinweis darauf, dass die Erfahrungen der letzten Monate nicht trotz allem am Ende noch etwas Gutes bewirken könnten?
 

Top