Indiens ungleiche Verhältnisse
Soziale Ungerechtigkeit in Zeiten der Pandemie

Wanderarbeiter stehen in Mumbai, Indien, an einem Bus Schlange, um während des landesweiten Lockdowns im Jahr 2020 nach Hause zu fahren.
Wanderarbeiter stehen in Mumbai, Indien, an einem Bus Schlange, um während des landesweiten Lockdowns im Jahr 2020 nach Hause zu fahren. | Foto (Ausschnitt): © Manoej Paateel/shutterstock.com

Die Nähe zu pulsierenden Metropolen, der politischen Hauptstadt und anderen Großstädten bedeutete für Entrechtete und Minderheiten immer bessere Chancen auf soziale Gerechtigkeit als ein Leben auf dem Land, vor allem in Indien. In der Pandemie ist dies noch einmal so deutlich geworden wie noch nie zuvor.

Von Dr. Rina Mukherji

Nähe und Distanz lassen sich in vielen Lebensbereichen beobachten – in zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch in der Nähe oder Distanz zu infrastrukturellen Einrichtungen oder Machtzentren. Für Bevölkerungsgruppen in Entwicklungsländern kann die Nähe zu einem Machtzentrum wie einer Metropole oder einem Bezirkshauptquartier mit besseren Einrichtungen gleichgesetzt werden, insbesondere wenn es um die Versorgung von Grundbedürfnissen wie der medizinischen Versorgung, Bildung und sanitäre Einrichtungen geht. Dies wird oft gewünscht von diejenigen, die in kleineren Städten und Gemeinden wohnen. Reichtum und finanzielle Mittel können die Nachteile von Kleinstädten aufwiegen, allerdings nicht für die Armen, Analphabeten oder Besitzlosen.

Der Grund dafür ist die enorme in Indien herrschende Ungleichheit, wie der gerade veröffentlichte World Inequality Report (Bericht zur weltweiten Ungleichheit) 2022 zeigt. Der von führenden internationalen Ökonomen vorgelegte Bericht erklärt Indien zu einem von Armut und Ungleichheit gekennzeichnetem Land mit einer sehr wohlhabenden Elite. Die Armen haben quasi keinen Besitz, und auch die Mittelklasse lebt in vergleichsweise ärmlichen Verhältnissen.

Ein weiterer Bericht, der Inequality Report 2021 von Oxfam, bekräftigt diese Beobachtungen und betont, wie das COVID-19-Virus diese Ungleichheiten noch verschärft hat. Indiens ungleiches Gesundheitssystem belegt, dass sich Menschen in Staaten mit besserer Gesundheitsversorgung eher von dem Virus erholt haben. Der Bericht zeigt, wie öffentliche Gelder in zweit- und drittrangige Pflegeprojekte, die ein höheres Maß an spezialisierter Pflege erfordern, gesteckt wurden, während die gesundheitliche Grundversorgung nicht gesichert war. Was die Ungleichheiten noch verstärkt hat sind private Gesundheitsservicedienstleister, die vermehrt auf den Markt drängen. Eine Umfrage unter Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert hatten oder sich gerade davon erholt haben, zeigt, wie perfide die Diskriminierung hier vonstattengeht. Der Prozentsatz an Patient*innen, die beispielsweise selbst ihren eigenen Krankentransport zum Krankenhaus arrangieren mussten während des Lockdowns (in Ermangelung öffentlicher Verkehrsmittel), war in der Befragtengruppe mit höherem Einkommen nur halb so groß wie in der Gruppe mit niedrigem Einkommen. 

Die Oxfam Studie Securing Rights Of Patients In India (Rechte von Patientinnen und Patienten in Indien sicherstellen) hat herausgefunden, dass durch die Ineffizienz des Gesundheitssystems rund 43 Prozent der Armen nicht in den Gesundheitszentren der Regierung geimpft werden konnten, da  nicht genügend kostenlose Impfangebote zur Verfügung standen. Da in den staatlich geführten Krankenhäusern der Impfstoff knapp war, blieben viele ungeimpft. Wohlhabendere Menschen der Oberschicht konnten sich dagegen in privaten Krankenhäusern impfen lassen, die genügend Impfstoffe vorrätig hatten.

Die Not der Arbeitsmigrant*innen  

Arbeitsmigrant*innen sind das Rückgrat der Wirtschaft; ihre Fähigkeiten sind ein unverzichtbarer Teil der Bau-, Textil- und Gastronomiebranche. Die meisten sind jedoch auf Gelegenheitsjobs in einem informellen Arbeitsbereich angewiesen. Die Not der indischen Arbeitsmigrant*innen rückte durch den pandemiebedingten nationalen Lockdown in den Fokus, als der Zivilgesellschaft und der Regierung vielleicht zum ersten Mal vor Augen geführt wurde, wie viele Menschen in diesem Land von der Hand in den Mund leben. Wie eine Studie der NGO Aajeevika zeigte, haben viele im Lockdown im Jahr 2020 ihre Betriebe geschlossen, ohne den migrantischen Arbeiter*innen ihre Löhne zu zahlen. Obwohl das Ministry Of Home Affairs (Innenministerium) alle Arbeitergeber*innen am 29. März 2020 aufgefordert hatte, auch im Lockdown volle Gehälter zu zahlen und keine Arbeiter*innen zu entlassen. Da diese nun weder Lebensgrundlage noch Transportmittel hatten und vom Hungertod bedroht waren, entschlossen sich viele, einfach nach Hause zu laufen. Schätzungen der Regierung zufolge sind rund 6,7 Millionen Arbeiter*innen zu Fuß in ihre Heimatstädte und -dörfer zurückgekehrt, nachdem der Lockdown ausgerufen worden war. Als sie dann feststellen mussten, dass auch dort weder Arbeit noch Geld vorhanden waren, sind viele wieder zurück in die Städte gegangen. Und das, obwohl 82 Prozent der Arbeiter*innen nicht mit Lebensmitteln versorgt und 70 Prozent keine warmen Mahlzeiten erhielten.

Ungleichheiten in der Gesundheitsvorsorge

Die dem indischen Gesundheitssystem zugrundeliegenden Ungleichheiten wurden auch in der Pandemie deutlich. Im Bundesstaat Bihar gab es nur wenige Testmöglichkeiten für Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert hatten. Und durch den hohen Anteil von Analphabeten und dem Mangel an medizinischen Einrichtungen haben sich die Menschen gegen eine Impfung gestellt und stattdessen lieber Quacksalber aufgesucht, um sich mit dubiosen Mitteln behandeln zu lassen. Die Menschen in den östlichen Gebieten des Bundestaates Uttar Pradesh und in Bihar, an der Grenze zu Nepal, haben angeblich jede Nacht nicht verschriebene Medikamente als Vorsorge gegen COVID-19 eingenommen, da es im gesamten Umkreis weder Ärzte noch medizinische Einrichtungen gab. Wegen dieser Unterversorgung und dem Mangel an Teststationen konnte man auch nicht feststellen, ob die zahlreichen Dorfbewohner*innen, die im Bundesstaat Uttar Pradesh mit Atemnot, Fieber und Husten starben, am Coronavirus erkrankt waren. Auch in vielen anderen Städten des Hindi-Gürtels in Nord- und Zentralindien bot sich ein ähnliches Bild, da auch hier der Mangel an angemessener Hygiene und medizinischen Einrichtungen die Lage erschwerte.

Effektives Gesundheitsmanagement beruht auf Daten und Tests. Darum hat der Bundestaat Kerala im Umgang mit der Pandemie am besten abgeschnitten. Denn hier war aufgrund besserer medizinischer Versorgung die Impfquote hoch. In den Staaten Bihar und Uttar Pradesh hat man dagegen die Flut von Infizierten nicht in den Griff bekommen.

Am deutlichsten hat sich die Ungleichheit wohl im Umgang mit den Toten bemerkbar gemacht. Die Reichen und Angehörigen der Oberschicht konnten ihren Verstorbenen einen würdigen Abschied bieten. Die Ärmsten waren nicht in der Lage, ihre Toten einzuäschern oder ordentlich zu begraben. Stattdessen mussten sie sich damit behelfen, die leblosen Körper einfach in den fließenden Fluss zu werfen, was wiederum viele andere Menschen in Gefahr brachte.

Ein harter Schlag für den Arbeitsmarkt

Obwohl es auf dem Arbeitsmarkt der letzten Monate im Jahr 2021 dank der abflauenden Pandemie und dem Ende des Lockdowns inzwischen ein wenig besser aussieht, ergibt sich hier immer noch ein düsteres Gesamtbild. Die Arbeitslosenquote in Indien wächst ständig. 2018 lag die Beschäftigungsrate bei 46,8 Prozent gemessen an der Gesamtbevölkerung. Als auf dem Höhepunkt der gesundheitlichen Notlage der Pandemie viele Wirtschaftsbereiche komplett geschlossen wurden, war das ein harter Schlag für den gesamten Arbeitsmarkt in Indien. Die Zahl der Menschen mit Beschäftigung ist laut den Daten des Centre for Monitoring Indian Economy (CMIE, Zentrum für Wirtschaftsüberwachung in Indien), die im dritten Quartal nur noch bei 40,9 Prozent lag, im vierten Quartal 2020 wieder auf 42,4 Prozent angestiegen.

Die Leidtragenden dieser Krise waren nicht nur Gelegenheitsarbeiter*innen und Arbeitsmigrant*innen, sondern auch Fahrer*innen, Dienst- und Hauspersonal. Da die meisten Haushalte auf einmal nur noch 30 bis 50 Prozent ihres Gehalts zur Verfügung hatten, konnte kein Fahrdienst mehr beschäftigt werden. Auch eine Kinderbetreuung war nicht mehr notwendig, da die Familien nun selbst auf die Kinder aufpassten. Geschlossene Wohnanlagen haben nicht mehr jeden auf ihre Gelände gelassen, und so hatten auch Handwerksbetriebe wie Klempner, Elektriker oder Schreiner unter der Situation zu leiden.

Ausblick in die Zukunft

Heißt dies nun, dass uns düstere Zeiten bevorstehen? Die Fakten lassen andere Schlüsse zu. Die Pandemie hat zwar die Missstände im indischen Gesundheitssystem offengelegt, war aber gleichzeitig auch ein lang fälliger Weckruf an die lokalen und nationalen Regierungen, die nun endlich mehr in den Gesundheitssektor investieren. Am stärksten zeigt sich der Wandel im Bundesstaat Bihar, wo in Städten wie Bhagalpur gerade gut ausgestattete Krankenhäuser errichtet werden. Außerdem hat der Staat zugesagt im Jahr 2022 1.600 von der Regierung geführte Krankenhäuser zu bauen.

Doch wie das Sprichwort sagt: „Wenn das Leben schwer wird, kommt der Zähe erst in Schwung“ – die wirklich Widerstandsfähigen haben ihre Schwierigkeiten überwunden und ihr Leben erneut neu aufgebaut. In der Stadt Khunti im Bundesstaat Jharkhand etwa machten sich Frauen eines indigenen Stammes als Kleinstunternehmerinnen selbständig. Cristina Herenj, deren kleiner Marktimbiss im Lockdown geschlossen werden musste, ist in ihrem Dorf mit dem Motorrad von Tür zu Tür gefahren und hat frisch geerntetes Gemüse verkauft.

Natürlich bestimmt die Distanz hier immer noch das Leben, und die Kluft zwischen Arm und Reich ist mit Sicherheit noch lange nicht überwunden. Doch langsam erlaubt die über allem liegende Distanz auch mehr Nähe zwischen beiden Seiten, und viele sind entschlossen, die Chancen, die die Pandemie bietet, zu ergreifen. Durch mehr Investition in Bildung und Gesundheit seitens der staatlichen Stellen könnte die Bevölkerung schon bald besser ausgebildet und gesundheitlich versorgt sein.

 

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