Indigene Bevölkerungsgruppen
Die Vorstellung(en) von Maskulinität bei den Adivasi

Männerbilder - How to tackle the topic?
© Goethe-Institut Chennai

Will man sich den Vorstellung(en) von Maskulinität bei den indigenen Bevölkerungsgruppen der Adivasi nähern, muss man zunächst die Kategorie der Adivasi aufschlüsseln und in einen historischen Kontext stellen, um die immense Vielfalt der mit dem Begriff „Adivasi“ bezeichneten Gruppen und die Veränderbarkeit ihrer Gesellschaften zu erkennen.

Von Aditya Pratap Deo and Prachi Vaidya (Dublay)

Einhergehend mit dieser Erkenntnis müssen wir konsequenterweise ebenso anerkennen, dass die Merkmale der Adivasi-Gesellschaften nicht immer der klassischen und äußerst problematischen Vorstellung von einem - im Vergleich zu unserer „modernen“ Gesellschaft -  einfachen Volk entsprechen. Sind diese Vorbehalte erst einmal angebracht und berücksichtigt, müssen wir uns weiterhin fragen, ob und inwieweit unsere Vorstellungen von Gender und damit die klassische Vorstellung von Maskulinität, die oftmals als universell und zeitlos angenommen wird, auf diese vielfältigen, sich wandelnden und komplexen Gesellschaften zutrifft.1)

Werden diese Vorbehalte nicht berücksichtigt, neigen Wissenschaftler*innen meist dazu, Adivasi-Gesellschaften entweder als vollständig „befreit“ von Geschlechternormen - und häufig exotische Geschlechterkonzepte praktizierend - zu betrachten oder als vollständig und „verfälscht“ eingeordnet in die regulären Gender-Vorstellungen und -Praktiken, wie wir sie in unserem Kontext als gegeben ansehen. Eine differenzierte Vorgehensweise wäre es, die Adivasi-Gesellschaften von Fall zu Fall zu betrachten und sich weniger darauf zu konzentrieren, den Grad der Konformität oder des sich Entziehens von regulären Normen zu ermitteln, sondern zu skizzieren, wie sich Vorstellungen von Gender in diesen Gesellschaften durchsetzen und niederschlagen. Die Aufgabe, wenn es darum gehen soll,  Konzepte und Praktiken / Performances von Maskulinität bei den Adivasi zu verstehen, würde dann darin bestehen, die Art und Weise zu erforschen, wie männliche / weibliche Merkmale soziokulturell zwischen Männern und Frauen verteilt werden.

Sind Adivasi also genau wie all die anderen zahlreichen soziologisch unterschiedlichen Gruppen / Gemeinschaften / Kollektive, die ohnehin das umfassen, was wir als „Mainstream“ oder die „breite Masse“ bezeichnen würden? Da die Advasi weder hermetisch von der Mainstream-Gesellschaft abgeschottet noch vollständig in sie eingebunden sind, stellt sich die Frage, wie wir uns dann eine im Allgemeinen von Nicht-Adivasi zu treffende Unterscheidung vorstellen können? An dieser Stelle sollte daran erinnert werden, dass alle Gesellschaften Spannungen zwischen Strömungen erleben, nämlich zwischen den Strömungen einerseits, die versuchen, Normen des Seins und der Erfahrung zu definieren, festzuschreiben und durchzusetzen, und jenen Kräften andererseits, die sich stets diesen Bemühungen widersetzen. Im Falle von Gender entfalten alle Gesellschaften ein gewisses Maß dieser Spannungen zwischen der starren Festlegung von Werten, die sich als maskulin und feminin bezeichnen lassen, und dem, was dies erschüttert, um diese Werte entweder zum Schwanken zu bringen oder zu stürzen, oder besser, um Werte zu artikulieren, die über diese Kategorien hinausgehen.

Hier, auf der Skala der hohen oder niedrigen Verfestigung von Normen, neigen die meisten, aber nicht alle Mainstream-Gesellschaften zu größerer Konformität und die meisten, aber nicht alle Stammesgesellschaften zu größerer Offenheit. Eine solche Unterscheidung, die durch einen Komplex von unter anderem historischen, geografischen, soziologischen usw. Faktoren geschaffen wird und im Vergleich zum Mainstream insgesamt einen geringeren Wandel des natürlichen Umfelds der Adivasi-Völker beinhaltet, ist nicht absolut. Und es ist definitiv nicht die Funktion von Primitivität und Einfachheit, sondern eher die einer aktiven Entscheidung, nicht nur die eigene Umwelt, sondern auch die damit verbundene Gesellschaft, weniger im Vergleich zum Mainstream, zu regulieren.

Diese Unterscheidung ist, wie in einigen Nicht-Adivasi-Gesellschaften, letztendlich auf das tiefe menschliche Verlangen zurückzuführen, einfallsreich, kreativ und frei zu sein. In keiner Weise sind Adivasi-Gesellschaften wesentlich unschuldiger und freier von Schibboleths oder Konventionen. Vielleicht können wir uns Adivasi-Gesellschaften als solche Gemeinschaften vorstellen, die - im Kampf des menschlichen Wesens um die Kontrolle über seine Lebensweise, aber auch um dieser Kontrolle zu widerstehen - Elemente darstellen, die eine heterogenere, fließendere und uneingeschränktere soziokulturelle Landschaft fordern. Zwischen Fixierung und Versenkung von Gender-Normen und dem normativen Konzept von Maskulinität gibt es auch hier eine einfallsreiche und kontingente Gestaltung von Werten, die schwer zu beschreiben und zu kontrollieren sind.

Aus der obigen Darstellung wird deutlich, dass nichts leichthin und allgemein über Vorstellung(en) von Gender und Maskulinität bei den Adivasi gesagt werden kann. Wo, wann, welche Gemeinschaft, wie? Diese Überlegungen legt jede Erfahrung, jede Praxis nahe. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden einige Beispiele aus Adivasi-Gemeinschaften aufgeführt, die angesichts der Reichweite nur zufällig sein können und nur als eine sehr unzureichende und vorläufige Einführung in Welten dienen können, die vielfältig und schwer zu bestimmen sind.

Bei den Gamit Bhils in Westindien entführen während des Holi-Festivals, bei welchem traditionelle Normen des sozialen Miteinanders häufig auf den Kopf gestellt und umgedreht werden, ausgelassene Frauenbanden solche Männer, die ihnen gefallen, und nehmen auf diese Weise männliche Verhaltensweisen von Dominanz, Kontrolle und Gewalt an.2)

In einem anderen Fall, im Bhil Mahabharata, Bharath, wird das Ideal der Männlichkeit in den konventionellen Versionen des Epos, nämlich Arjuna, als ohnmächtig dargestellt. Sonst das wahre Abbild von Tapferkeit und Männlichkeit wird Arjuna hier nun vom Schlangenkönig Vasuki gefesselt und muss zusehen, wie Vasuki seine willige Frau Dhopa / Draupadi verführt.3)

In diesem Fall erfährt die maßgebende Gestalt eine Entmannung ihres wesentlichen Elements. In Zentralindien haben Wissenschaftler*innen seit der Zeit der kolonialen Anthropologie bis hinein in unsere Zeit bei mehreren Gond-Gemeinschaften festgestellt, dass die Gestalt des Erdgottes mit Attributen der Geburt und Erziehung ausgestattet, die biologisch und normativ als der Frau / weiblich zugeordnet angesehen werden, häufig als männlich betrachtet wurde, was zu einer interessanten Verschiebung des Männlichen in das Weibliche führte.4)

In einem Liebesgedicht, das ein Adivasi-Aktivist der Oran-Gemeinde des heutigen Jharkhand verfasste, verwirklicht sich der (männliche) Liebhaber, „der wie eine Frau alle von seiner Geliebten ausgetauschten Liebesgeschichten in einer Tasche aufbewahrt, indem er sie bemuttert", sich selbst feminisierend.5)  Diese Beispiele zeigen eine interessante Umkehrung, Unterminierung, Verschiebung bzw. Sublimierung des männlichen Aspekts.

Der Mensch von Lingo führt uns aber nun tatsächlich über normative Geschlechterwerte hinaus. Dieser „kultige Held“ wird in den meisten der verschiedenen Gond-Adivasi-Gemeinschaften als Ursprung der Adivasi-Vorfahren (einer von sieben Gond-Brüdern), der Gesellschaft und Kultur betrachtet. In einer gemeinsamen Geschichte, auf die ich während meiner Recherchen gestoßen bin, hilft Lingo den Gonds, die turbulenten Meere zu überqueren und in Sicherheit zu gelangen, Lingo hilft ihnen dabei, Feuer zu machen und lehrt sie Landwirtschaft zu betreiben. Dabei singt und tanzt er, er verliebt sich, ist immer verspielt und lässt künstlerisch Tag und Nacht entstehen. In diesem Fall verliert sich der Begriff der Männlichkeit in der Figur des Lingo, dem überaus einflussreichen Inbegriff von Männlichkeit unter den Advasi, in einer Melange von Werten und Attributen, die das Normative berühren, aber darüber hinausgehen.6)

Diese Fälle zeigen, wie achtsam wir mit diesen Themen umgehen sollten, welche Vielfalt des Seins und der Erfahrung dort draußen existiert und wie viel mehr erforscht und verstanden werden muss, was Vorstellungen von Gender und Maskulinität bei den Adivasi betrifft. Die Wahl besteht tatsächlich darin, leichthin etwas Stereotypes zu sagen oder Welten anzusprechen sowie Möglichkeiten, über Welten zu sprechen, die sich nicht einzufrieren lassen.


1) For an attempt to problematize a modular idea of gender see Oyeronke Oyewumi, The Invention of Women: Making an African Sense of Western Gender Discourses (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1997).
2) Prachi Vaidya, Gamit Community Field Notes, Interview with Sumir Gamit, 2011.
3) Bharath (Vadodara: Bhasha Publication and Research Center, 2012)
4) Aditya Pratap Deo, Kings, Spirits and Memory in Central India: Enchanting the State (London: Routledge, Forthcoming, September 2021).
5) Prachi Vaidya, Interview with Jascinta Kerketta, 2021
6) Deo, Kings, Spirits and Memory.

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