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Musik
Hamburg, Katowice, Berlin. Was hinterlassen wir den nachfolgenden Generationen? Nur die Konzertsäle?

Die Probe vor dem Konzert
Die Probe vor dem Konzert | © Grzegorz Mert

Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung, denke ich mir, als ich mir nach dem Konzert die ergriffenen Besucher ansehe, die am Drink Truck stehen, sich angeregt unterhalten und ein Glas Riesling trinken. Vielleicht ist es dort, wo wir hingehen, doch nicht so schlecht?
 

Von Joanna Strzałko

Das Boot hält in der Mitte des Flusses und schwankt leicht zur Seite, als die Passagiere geschlossen in Richtung Steuerbord drängen. Der Bootsführer, der einen Marinemantel mit silbernen Knöpfen trägt, greift zum Megafon. „Kein Grund zur Panik“, sagt er in norddeutschem Singsang. „Wir halten hier für ein paar Minuten, damit ihr alle Bilder machen könnt.“

Die Wellen eines vorbeifahrenden Tankschiffes bringen das Boot zum Schaukeln und brechen sich geräuschvoll am Ufer. Das Spiegelbild des 26-stöckigen Gebäudes, das so große Emotionen unter den Passagieren auslöst, verschwimmt und zerspringt in Tausende glitzernde Funken. Die Fotoapparate klicken, Blitzlichter leuchten auf. In der Ferne ertönt eine Hafensirene. Auf der Uferstraße fährt jemand mit quietschenden Reifen an einer Ampel an, und irgendjemand hat das Radio voll aufgedreht: „Guten Morgen, Hamburg!“, verkündet der Radiosprecher mit freudiger Stimme.
 

„Was denkt ihr, wie viel der Bau der Elbphilharmonie gekostet hat?“, dringt die Stimme des Bootsführers durch die Geräuschkulisse der Stadt.

Einer der Passagiere löst sich von seiner Kamera und fragt aufs Geratewohl: „100 Millionen Euro?“

Der Bootsführer schüttelt mit unverhohlener Befriedigung den Kopf. „Fast zehnmal so viel!“, ruft er. Die Zahl macht sichtlich Eindruck bei den Passagieren, auch wenn der Bootsführer ein wenig übertreibt: Es ist nur achtmal so viel. „Überlegt euch mal, wie viele Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser man für 800 Millionen Euro bauen könnte“, fügt er hinzu.

Doch seine Bemerkung fällt nicht auf fruchtbaren Boden. Als wir das über hundert Meter hohe Gebäude mit seiner Fassade aus Ziegel und Glas – das sich neben unserer kleinen Schaluppe wie eine mythische Schatzinsel aus 18 000 Tonnen Stahl, 63 000 Kubikmetern Beton sowie mehreren Tausend Glasscheiben und Aluminiumplatten in den Himmel erhebt – von drei Seiten umfahren, geben die Passagiere begeisterte Ausrufe von sich. „Das sieht aus, wie ein Schiff, das über den Fluss gleitet!“, rufen einige verzückt. „Nein, eher wie Wellen im Meer“, schütteln andere den Kopf. Und noch ein weiterer Fahrgast behauptet mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet: „Die Elbphilharmonie wurde von Schweizer Architekten entworfen [dem Architekturbüro Herzog & de Meuron, Anm. d. Aut.], das Gebäude ist den Schweizer Alpengipfeln nachempfunden!“

Ich suche mit meinen Augen nach dem Bereich zwischen der 12. und 23. Etage, in dem sich der große Konzertsaal für 2100 Besucher befindet. In ihm spielt heute das Nationale Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks NOSPR aus Katowice. Die Eintrittskarten zu Preisen von bis zu 82 Euro waren im Nu ausverkauft.
 

Kein Wunder – das NOSPR ist schließlich ein weltweit anerkanntes Orchester, das bereits mit Künstlern wie Leonard Bernstein, Martha Argerich, Plácido Domingo und Artur Rubinstein zusammengespielt hat. Und dem polnische Komponisten wie Witold Lutosławski, Wojciech Kilar, Henryk Mikołaj Górecki und Krzysztof Penderecki ihre Werke zur Uraufführung anvertrauten.

Laute Rufe im Publikum


„Wir hatten ein wenig Angst vor diesem Konzert“, erklärt mir Piotr Tarcholik, Konzertmeister des NOSPR und Professor an der Musikakademie Krakau am nächsten Tag. „Unser Repertoire, das Werke von Witold Lutosławski, Alexander von Zemlinsky und Friedrich Cerha enthält, ist für die Musiker äußerst anspruchsvoll. Sowohl inhaltlich als auch konditionell. Wir mussten also besonders konzentriert spielen – was nicht ganz einfach war, denn das Orchester war in letzter Zeit viel unterwegs. Wir sind gerade erst von einer Tour durch Japan zurückgekehrt, wo wir jede Woche mehrere Konzerte gegeben haben. Dieses ständige Hin und Her ist doch mit einigem Stress verbunden. Und nach unserer Ankunft auf dem Hamburger Flughafen stellte sich auch noch heraus, dass 22 unserer Koffer verschwunden waren – unter anderem mit den Kleidern und Anzügen der Musikerinnen und Musiker. Einige von uns waren darüber sehr frustriert.“

Und doch war das Konzert in der Elbphilharmonie ein voller Erfolg, wie Piotr Tarcholik mit unverhohlenem Stolz zugibt. Das Publikum bereitete dem Orchester einen äußerst warmen Empfang, und die lebhaften Reaktionen ließen die Musiker ihre Erschöpfung schnell vergessen. Die positive Atmosphäre war bereits zu spüren, als das Orchester den Saal betrat. Und als der Schweizer Dirigent Titus Engel die Solisten nach dem Konzert zum Aufstehen aufforderte, waren sogar laute Ausrufe der Begeisterung zu hören.
 

„Ja, ich war angenehm überrascht“, sagt der Konzertmeister. Als ich ihn frage, was ihm noch gefallen hat, antwortet er mir: „Die Leichtigkeit, mit der man in der Elbphilharmonie spielt. Auf der Bühne ist jeder Ton klar und deutlich zu hören, der Prozess der Tonerzeugung ist also außerordentlich einfach. Es gibt keine dunklen Bereiche im Saal, und sicherlich nehmen die Besucher auch die Musik auf diese Weise wahr: als klar, durchsichtig, präzise und subtil. Auch wenn ich zugeben muss, dass der Saal einen gewissen Nachhall hat, der manchmal hilfreich sein kann, aber nicht immer. Nun ja, die Elbphilharmonie ist ein spektakuläres Gebäude, der große Konzertsaal ist wunderschön, und die Wände haben eine äußerst delikate, nahezu organische Struktur – die sogenannte „weiße Haut“. Ja, alles ist hier vom Feinsten, und doch muss ich zugeben, dass ich lieber in Konzertsälen spiele, die mit Holz verkleidet sind. Denn ein warmer Klang, insbesondere der Streichinstrumente, ist für mich das Allerwichtigste.“

Piotr Tarcholik erzählt weiter, dass er am liebsten im Concertgebouw in Amsterdam spielt, aber auch ein großer Fan des Konzertsaals des NOSPR in Katowice ist, der seiner Meinung nach sogar dem Vergleich mit japanischen Konzertsälen standhält. Zum Beweis liefert er ein Zitat des ehemaligen Konzertmeisters der Berliner Philharmoniker Daniel Stabrawa: „Bei euch singen meine Geigen ganz besonders!“

 

„Dem kann ich nur zustimmen“, sagt Piotr Tarcholik. „Ja, unser Konzertsaal führt einen Dialog mit den Musikern. Außerdem hat das verwendete Holz die Farbe einer Stradivari-Geige. Ich liebe sowohl diese Farbe als auch den warmen Klang, durch den sich unser Konzertsaal auszeichnet.“

Besser als London, Paris und Rom


Das Konzerthaus des NOSPR befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Steinkohlenbergwerks Katowice. Es wurde vor acht Jahren fertiggestellt. Die Kosten in Höhe von 305 Millionen Euro wurden fast zur Hälfte aus Mitteln der Europäischen Union finanziert. In dem Gebäude auf dem Wojciech-Kilar-Platz, das nach Entwürfen des Architekturbüros Konior Studio entstand, befinden sich auf einer Fläche von 35 000 Quadratmetern 116 Räume, darunter ein Aufnahmestudio, Verwaltungs- und Technikräume, Gästezimmer, ein Archiv mit Aufnahmen und Noten, ein Kammermusiksaal mit 300 Plätzen und vor allem der große Konzertsaal mit 1800 Plätzen. In eben diesem Saal wird 2023, wie die General- und Programmdirektorin des NOSPR Ewa Bogusz-Moore ankündigt, eine der größten Orgeln Europas eingeweiht werden.

„Niemand – weder London, noch Paris, noch Brüssel, noch Madrid, noch Rom und nicht einmal Berlin – hat einen solchen Konzertsaal“, freut sich der Pianist Krystian Zimerman über den neuen Sitz des NOSPR. „Für mich besteht kein Zweifel daran, dass der Konzertsaal in Katowice zu den fünf besten der ganzen Welt gehört“, lobt der deutsch-britische Dirigent Sir Simon Rattle. „Es ist einer der wenigen Konzertsäle auf der Welt, dessen Akustik jede klangfarbliche Nuance der einzelnen Instrumente in einem Orchester hervorbringt“, schreibt das Londoner Musikmagazin Bachtrack. Diese und andere Meinungen von bedeutenden Musikern und Musikkritikern zitiert das NOSPR voller Stolz auf seiner Internetseite

„Es ist kein Wunder, dass unser Konzertsaal zu den besten der Welt gehört – schließlich wurde er von Yasuhisa Toyota, dem Chef der amerikanischen Niederlassung von Nagata Acoustics entworfen“, erzählt mir Ewa Bogusz-Moore, als wir uns vor einem Konzert des NOSPR in der Berliner Philharmonie zu einem Gespräch treffen. „Ja, derselbe Yasuhisa Toyota, der auch die Klangarchitektur der Elbphilharmonie entwarf. Sicherlich war dieser Umstand mit dafür verantwortlich, dass unser Konzerthaus in die European Concert Hall Organisation (Echo), ein Netzwerk der führenden Konzerthäuser Europas, aufgenommen wurde.
 


Anschließend unterhalte ich mit der Direktorin des NOSPR noch über die weiteren Pläne des Orchesters, die kommenden Gastspiele in Dresden, Warschau und Posen und die Konzertabonnements für das kommende Jahr, deren Verkauf trotz der schwierigen Zeiten um zehn Prozent anstieg, als unser Gespräch plötzlich von einem lauten Knacken unterbrochen wird. Eine aufgeregte Stimme dringt aus einem an der Garderobenwand befestigten Lautsprecher: „Ein Frack ist verschwunden. Hat ihn vielleicht jemand gesehen?“

Das Konzert beginnt in 20 Minuten. Die Musiker des NOSPR haben sich bereits im großen Warteraum versammelt. Jemand trinkt noch eben seinen Espresso aus, ein anderer nimmt schnell einen Schluck Wasser zu sich, und ein Dritter blickt konzentriert auf seine Handflächen. Scheinbar haben alle ihre Konzertkleidung wiedergefunden. In wenigen Momenten werden sie die Bühne der renommierten Berliner Philharmonie betreten.

„Nach dem Konzert in Hamburg schwärmte das Publikum, dass unsere Musiker Lutosławski verstehen wie niemand anders und dass sie seine Musik gewissermaßen in ihrer DNA haben“, sagt Ewa Bogusz-Moore lächelnd zum Abschied. „Mal sehen, wie das Berliner Publikum reagiert.“

Klänge aus PET-Flaschen


Währenddessen schließen die Berliner Besucher in aller Ruhe ihre Fahrräder an und reihen sich in die Schlange vor dem Drink Truck ein. Ein lächelnder Mann mit langen Dreadlocks und einer selbst gedrehten Zigarette hinter dem Ohr serviert Glühwein in Pappbechern, Bier in Flaschen und Cocktails in Dosen. Sein silberner Kleinbus steht direkt neben dem Haupteingang des zeltförmigen, honiggelben Gebäudes der Berliner Philharmonie. Das von dem Architekten Hans Scharoun entworfene Konzerthaus gehört fast schon zur alten Garde – schließlich sind seit seinem Eröffnungskonzert, bei dem Herbert von Karajan Beethovens 9. Sinfonie dirigierte, bereits 59 Jahre vergangen.

„Die Berliner Philharmonie ist einer der wichtigsten Konzertsäle Europas“, sagt Piotr Tarcholik. „Nicht nur wegen seines Renommees, sondern auch wegen seiner Akustik. Man kann hier sehr leise spielen, und trotzdem ist jeder Ton hörbar. Ja, die alten Konzertsäle klingen am schönsten. Die neuen, vor allem die mit Holz verkleideten, müssen sich erst ein wenig einschwingen, wie ein Instrument. Wenn wir uns bewusst machen, wer hier alles bereits gespielt und dieses Holz in Schwingungen versetzt hat – unter anderem Dawid Fjodorowitsch Oistrach und Itzhak Perlman – wird uns klar, wem dieser Konzertsaal seinen hervorragenden Klang zu verdanken hat.“

Allmählich füllt sich der große Saal, der Platz für 2250 Besucher bietet. Manche tragen Abendkleidung, andere kommen in Jacken, Mänteln und Mützen. Es gibt keine Kleiderordnung in der Berliner Philharmonie. Als schließlich Stille eintritt, eröffnet der Ansager das Konzert mit einigen Worten, für die er viel Applaus erhält: „Ich freue mich, dass wir heute so großartige Musiker aus Polen bei uns zu Gast haben.“ Anschließend betritt der deutsche Schriftsteller Philipp Blom das Podium. In einer kurzen Vorrede spricht er über die Trauer, den Schmerz und die Sehnsucht, die in der Musik Ausdruck finden. „Unsere Welt befindet sich am Ende von etwas: Die Eisberge schmelzen, jeden Tag werden große Flächen Regenwald zerstört. Wohin gehst du?“, stellt er die Frage, die das Leitmotiv des Konzerts darstellt.

Vivi Vassileva © Adriana_Yankulova) Zur Antwort auf diese Frage erklingen Alexander von Zemlinskys „Sinfonietta“, die mit lautem Beifall bedacht wird, und Witold Lutoslawskis Orchesterstück „Mi-parti“, nach dem einen Moment Stille herrscht, bevor die Begeisterung sich in lauten Bravorufen und Pfiffen Bahn bricht. Vor dem abschließenden „Konzert für Schlagzeug und Orchester“ von Friedrich Cerha betritt die 28-jährige Schlagzeugerin Vivi Vassileva in einem langen roten Abendkleid und schwarzen Springerstiefeln die Bühne und baut ihre Instrumente auf. Als alles bereit ist, steht sie breitbeinig, wie eine Schamanin, vor ihren großen Trommeln, reckt ihre bunten Klangstäbe in die Höhe, lächelt geheimnisvoll und schließt die Augen.

Die Berliner Morgenpost wird am nächsten Tag schreiben „Es ist absolut faszinierend, welche Klanglandschaften Engel und das exzellente polnische Orchester hier erschufen“. Und Vivi Vassileva als „fulminante Schlagzeugvirtuosin“ bezeichnen. Ähnlich empfindet auch das Berliner Publikum, dessen stehende Ovationen kein Ende zu nehmen scheinen. Vivi Vassileva gibt noch drei Zugaben, in denen sie demonstriert, welche Klänge man durch Schlagen, Kratzen und Schleudern aus zwei PET-Flaschen hervorzaubern kann. Ihre „Kadenz für zwei Plastikflaschen“ aus dem „Recycling Concerto“ von Gregor A. Mayrhofer versetzt das Publikum vollends in Begeisterung. Niemand will den Saal verlassen.

Einige Worte, die Piotr Tarcholik mir zum Abschluss unseres Gesprächs auf den Weg gab, klingen noch lange in mir nach: „Ich mache mir Sorgen darüber, dass die Kunst keine angemessene Wertschätzung erfährt, nicht genügend gefördert wird und keinen Platz im Schulunterricht hat. Und ich stelle mir, ebenso wie der italienische Dirigent Riccardo Muti, die Frage: »Was hinterlassen wir den nachfolgenden Generationen? Nur die Konzertsäle?«“
Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung, denke ich mir, als ich mir nach dem Konzert die ergriffenen Besucher ansehe, die am Drink Truck stehen, sich angeregt unterhalten und ein Glas Riesling trinken. Vielleicht ist es dort, wo wir hingehen, doch nicht so schlecht?

Der Artikel in der Berliner Morgenpost über das Konzert des NOSPR in der Berliner Philharmonie.

Informationen über die Elbphilharmonie und die geplanten Veranstaltungen.

Informationen über die Berliner Philharmonie, ihre Architektur und die geplanten Veranstaltungen.

Informationen über das Nationale Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks und die kommenden Konzerte.

Informationen zum Recycling Concerto von Gregor A. Mayrhofer und Vivi Vassileva.

 

Oto niemcy (das ist deutschland)

Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Reportagen „Oto Niemcy“ (Das ist Deutschland), die das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Magazin Weekend.gazeta.pl veröffentlicht.

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