Ein Leben ohne Wald ist für die Deutschen undenkbar

Obwohl sie eine der am stärksten industrialisierten Nationen der Welt sind, fühlen sich die Deutschen im Wald doch nach wie vor am wohlsten. Die deutsche Kultur ist seit jeher eng mit der Liebe zur Natur verbunden, und dafür gibt es zahlreiche interessante Beispiele.
Von Urszula Schwarzenberg-Czerny
Wenn die Deutschen vom „Pfeifen im Walde“ sprechen, beschreiben sie damit den Versuch, sich in einer bestimmten Situation davon zu überzeugen, dass keine Gefahr droht. Dies rührt daher, dass der Wald in Deutschland ein so starkes Symbol für das Geheimnisvolle und Bedrohliche ist. Gleichzeitig ist der Wald für die Deutschen ein Ort, dem sie sich besonders nah fühlen, wovon nicht zuletzt das Motiv der „Waldeinsamkeit“ zeugt. Die Verbundenheit mit der Natur ist bei unseren westlichen Nachbarn besonders stark ausgeprägt und hat eine lange Tradition. Bereits die alten Römer beschrieben diese Eigenschaft als eines der kennzeichnenden Merkmale der germanischen Stämme. Der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere bezeichnete die Schlacht im Teutoburger Wald, bei der gleich drei römische Legionen von einem germanischen Heer aufgerieben wurden, als ein epochales Ereignis. Und für die Deutschen wurde diese Schlacht, durch die der Vormarsch der römischen Legionen in diesem Teil Europas gestoppt wurde, zu einem Gründungsmythos. Es ist hierbei von großer Bedeutung, dass sich diese Schlacht in einem dichten Wald abspielte, in dem die vereinigten germanischen Stämme einen entscheidenden taktischen Vorteil hatten. Tacitus, ein anderer römischer Geschichtsschreiber, beschrieb diese Landschaft als einen bedrohlichen, dichten Wald voller trügerischer Sümpfe. Das Gebiet der Germanen bestand in jener Zeit zu 70 bis 90 Prozent aus ebensolchen Waldgebieten, die den römischen Vormarsch erschwerten. Tacitus kam sogar zu dem Schluss, dass ein Volk, das eine so unwirtliche Landschaft bewohnte, eine besondere Beziehung zu ihr haben müsse, da es ansonsten selbst darin nicht zurechtkommen würde.
Der römische Geschichtsschreiber täuschte sich nicht. Die Liebe der Deutschen zur Natur wurde mit der Zeit immer stärker: in der Sprache, der Folklore, der Mythologie, der Kunst und der Literatur. Im 20. Jahrhundert zeigt sie schließlich ihr hässliches Gesicht, als die germanischen Mythen und die Symbolik des Waldes von den Nationalsozialisten für ihre Zwecke missbraucht wurden. Doch es gibt sowohl in der früheren deutschen Geschichte als auch in der Gegenwart zahlreiche andere Beispiele für die große Naturverbundenheit unserer westlichen Nachbarn. Eines dieser Beispiele ist die Gestalt des deutschen Malers Albrecht Altdorf, der im 15. Jahrhundert in der Gegend des Bayerischen Waldes lebte – eines Gebietes, das zu jener Zeit als Heimat von Hexen und Dämonen galt. Altdorfer traf eine für die damalige Zeit äußerst mutige Entscheidung, indem er sich ganz bewusst von rein religiösen Themen abwandte und sich ganz der Darstellung der Natur widmete. Altdorfer war der erste europäische Landschaftsmaler: Die Natur war bei ihm nicht mehr nur ein Hintergrund der dargestellten Szene, sondern wurde zu einem eigenständigen Bildthema. Die Natur, die Altdorfer auf seinen Gemälden verewigte, war wild und unzugänglich. Er füllte ganze Leinwände mit verschlungenen Ranken aus dem Dickicht des Waldes. Menschen traten in seinen Werken – wenn überhaupt – nur als winzige Silhouetten auf, die mit der Größe der jahrhundertealten Bäume konfrontiert waren. Ebenso revolutionär war, dass Altdorfer, obwohl er – wie die meisten Menschen seiner Epoche – zutiefst religiös war, nicht im Auftrag der Kirche arbeitete. Seine Werke wurden gedruckt, wodurch sie ein großes Publikum erreichten. Man konnte seine Holzschnitte und Aquarelle bei sich zu Hause aufhängen oder sie mit auf Reisen nehmen. Nach Ansicht zahlreicher Kunsthistoriker war sich Albrecht Altdorfer der Konsequenzen der von ihm ausgelösten künstlerischen Revolution vollauf bewusst.

Albrecht Altdorfer „Drachenkampf des hl. Georg", 1510 | © Creative Commons CC BY-SA 4.0 / Bayerische Staatsgemäldesammlungen - Alte Pinakothek München
In der Zeit der Romantik wurde auch erstmals – dank der wissenschaftlichen Forschung der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm – ethnografisches Wissen über den deutschen Wald zusammengetragen. Der Wald spielte in den meisten der von ihnen gesammelten Märchen und Volkslieder eine wichtige Rolle. Die Brüder Grimm sammelten ihre Geschichten überwiegend in ihrem Heimatland Hessen, doch ihre Studien zeigten, dass die Verbindung zur Natur auch für die Menschen in anderen Teilen Deutschland von besonderer Bedeutung war. In vielen Fällen ist es gerade der Wald, in dem die Heldinnen und Helden der Grimmschen Märchen tief greifende Veränderungen durchmachen. Sie ziehen in die Welt hinaus und gewinnen neue Perspektiven (wie im Märchen vom Rotkäppchen), sie begegnen wundersamen Wesen (zum Beispiel in Form von Füchsen, die ihnen helfen, den richtigen Weg zu finden) oder stoßen auf magische Gegenstände (zum Beispiel im Märchen „Tischlein, deck dich“). Der Wald ist ein Ort der Zuflucht, in dem sich die Heldinnen und Helden vor einer drohenden Gefahr verstecken (wie zum Beispiel Schneewittchen). Eben deshalb ließen sich die Animatoren der Disney-Studios in den 30er-Jahren bei ihren Hintergründen für den Film „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ vom Thüringer Wald inspirieren. Doch der Wald bietet nicht nur Menschen, sondern auch anderen Wesen Zuflucht, wie zum Beispiel den Bremer Stadtmusikanten.
In den deutschen Wäldern wachsen derzeit rund 90 Milliarden Bäume. Es gibt in Deutschland 77 einheimische Baumarten und 1.215 Pflanzenarten. 11,5 Millionen Hektar, also etwa ein Drittel der Landesfläche, sind mit Wald bedeckt.
In den deutschen Wäldern wachsen derzeit rund 90 Milliarden Bäume. Es gibt in Deutschland 77 einheimische Baumarten und 1.215 Pflanzenarten. 11,5 Millionen Hektar, also etwa ein Drittel der Landesfläche, sind mit Wald bedeckt. 48 Prozent des deutschen Waldes befinden sich in Privateigentum (in Europa stellen lediglich Polen und Belarus in diesem Zusammenhang eine Ausnahme dar: Dort befinden sich sämtliche Wälder im Besitz der öffentlichen Hand). Einen besonderen Ruf genießt der Schwarzwald, doch auch im Umland von Berlin und München gibt es ausgedehnte Waldgebiete, in denen die Deutschen am Wochenende gerne spazieren gehen. Einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller, der Nobelpreisträger Hermann Hesse, beschrieb die deutsche Sehnsucht nach der Waldeinsamkeit vielleicht am besten: „Eine Sehnsucht nach Wandern zerreißt mir das Herz, wenn ich abends Bäume im Wind rauschen höre. Wenn man ihnen lange Zeit still zuhört, offenbart diese Sehnsucht ihren Kern, ihre Bedeutung. Es geht nicht so sehr darum, seinem Leiden zu entfliehen, auch wenn es den Anschein hat. Es ist eine Sehnsucht nach Heimat, nach einer Erinnerung an die Mutter, nach neuen Metaphern für das Leben. Es führt nach Hause.“