Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Friederike Schmitz
Sind Tierversuche falsch?

Tierversuche
© pexels-eman-genatilan

Gehören alle Schlachthöfe abgeschafft? Spricht etwas dagegen, sich einen Hund zu kaufen? Ist es richtig, an Mäusen Medikamente zu testen? Die Meinungen zum richtigen Umgang mit Tieren gehen weit auseinander. Die Philosophin Friedericke Schmitz schildert in ihrem Buch „Tierethik“ die jüngste Entwicklung der Debatte und erklärt die Argumente zu den wichtigsten praktischen Fragen.

Ein Ausschnitt aus diesem Buch „Tierethik“ von Friederike Schmitz, die am 21.04.2023 im Goethe-Institut Krakau zusammen mit Darek Gzyra über Ansätze der deutschen und polnischen Tierethik diskutiert, wird dank freundlicher Unterstützung des Verlags compassion media abgedruckt. Das Buch kann in der Bibliothek des Goethe-Instituts Krakau ausgeliehen werden. Andere Bücher der Autorin finden Sie in unserer Onleihe.

Im Jahr 2015 wurden allein in Deutschland über 2 Millionen Wirbeltiere in Tierversuchen genutzt und getötet. Fast 60 % der Experimente fanden in der Grundlagenforschung statt, etwa 14 % in der angewandten Forschung wie in der Arzneimittelentwicklung. Im Rahmen von gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuchen wie z.B. Giftigkeitsprüfungen wurden etwa 450.000 Tiere (23 %) getötet. Dazu kamen über 750.000 Tiere, die nicht direkt in Experimenten eingesetzt, aber z.B. zur Entnahme von Organen getötet wurden. Die am häufigsten in Versuchen verwendeten Tiere sind Ratten und Mäuse. Aber auch Kaninchen, Meerschweinchen, Hunde, Katzen, Affen, Fische, Hühner und viele andere Tiere werden zu Versuchszwecken verwendet. Nicht berücksichtigt sind in dieser Statistik. Tiere, die im Rahmen der Herstellung genetisch veränderter Linien getötet werden, wirbellose Tiere sowie Tiere, die schon vor dem Versuch, bei Haltung, Zucht und Transport sterben oder getötet werden. (…)

Die Notwendigkeitsbehauptung


In politischen Diskussionen über Tierversuche hört man häufig die Behauptung: „Natürlich sind Tierversuche nicht schön, aber sie sind leider notwendig!" Damit sollen Tierversuche gerechtfertigt und Kritik abgewehrt werden - nach dem Motto: Wir würden ja gern damit aufhören, aber wir können nicht. Tatsächlich ist aber nichts, was Menschen tun, schlechthin notwendig. Alles ist immer nur notwendig zu einem bestimmten Zweck - so ist es z.B. notwendig für mich zu lernen, wenn ich eine Prüfung bestehen will. Wofür sind Tierversuche (vermeintlich) notwendig?

Coverbild für Friederike Schmitz' „Tierethik. kurz + verständlich“ © roots of compassion eG Befürworter*innen von Tierversuchen sagen dazu z.B., wie die Experimentatoren Heldmaier und Treue in einem Zeitungsartikel: „Tierversuche sind unvermeidlich, um die Grundlagen des Lebens zu verstehen und Fortschritte in der Medizin zu erreichen." Diese Behauptung ist aber widerlegbar.

Der Verein ,,Arzte gegen Tierversuche" argumentiert, dass die Tierversuchsforschung durch alternative Forschungsmethoden ersetzt werden solle - und dass die Medizin dadurch sogar besser und sicherer werden würde. Denn die Ergebnisse von Tierversuchen ließen sich häufig gar nicht auf Menschen übertragen.

Die Verteidiger*innen von Tierversuchen halten zwar dagegen und sagen, ohne Tests im lebenden Organismus könnten bestimmte Krankheiten und Heilungsmethoden nicht weiter erforscht werden. Aber klar ist trotzdem, dass ein Ende von Tierversuchen nicht das Ende der medizinischen Forschung wäre. Sie würde sich lediglich verändern - ob zum Schlechteren oder zum Besseren, wird noch diskutiert. (…)

Die drei R


Für viele Wissenschaftler*innen und Institutionen wird die Art der Rücksicht, die wir Tieren in der Forschung schulden, von den so genannten "3 R" beschrieben. Laut der Tierversuchslobby-Organisation "Pro Test Deutschland" stellen diese die "Leitlinien für ethischen Einsatz von Tieren in Wissenschaft und Forschung" dar. Die 3 R besagen dreierlei: Erstens, dass Tierversuche wenn möglich durch Alternativmethoden ersetzt werden sollten (replace). Zweitens, dass bei jedem Versuch möglichst wenig Tiere benutzt werden sollten (reduce). Und drittens, dass alle Versuche für die Tiere möglichst schonend gestaltet werden sollten (refine). Entsprechende Bedingungen sind auch im Tierschutzgesetz vorgesehen. Genehmigungspflichtige Tierversuche in der medizinischen Forschung werden von der zuständigen Landesbehörde daraufhin geprüft, ob tatsächlich alle Möglichkeiten zur Ersetzung des Versuchs, zur Verringerung der Tierzahl und der Belastungen in Betracht gezogen wurden. Dabei wird die Behörde von einer "Tierversuchskommission" unterstützt.

  Tierversuche © pexels-chokniti-khongchum

Hierbei ist aber erstens zu beachten, dass die 3 R durchaus unterschiedlich ausgelegt werden können. Zum Beispiel wird häufig davon ausgegangen, dass ein Tierversuch stattfinden darf, sofern es keine Alternativmethode gibt, die exakt dieselbe Fragestellung beantwortet. Wenn sich allerdings die Fragestellung bereits auf ein Tiermodell bzw. auf Vorgänge im lebenden Organismus bezieht, ist diese Bedingung automatisch schon erfüllt. Wenn ich z.B. untersuchen will, wie ein lebender Organismus nach einem Herzinfarkt auf bestimmte Stoffe reagiert, dann muss ich eben zunächst einen Herzinfarkt in einem Tier auslösen und dann den Versuch machen. Eine Forschung ohne Tierversuche müsste daher wahrscheinlich generell andere Schwerpunkte setzen. In jedem Fall könnte nicht jeder Versuch einfach eins zu eins ersetzt werden.

Zweitens ist unklar, wie das "möglichst schonend" zu verstehen ist. Um Tierleid zu verringern, werden die Tiere z.B. in kritischen Phasen des Versuchs häufiger kontrolliert, um bei Anzeichen von starken Schmerzen eingreifen zu können (und die Tiere zu töten). Es wäre zweifellos möglich, die Tiere kontinuierlich zu beobachten. Trotzdem werden aber meistens nur Kontrollen in bestimmten Zeitabständen z.B. von einigen Stunden gemacht, die auch mit den normalen Arbeitszeiten von Labormitarbeiter*innen verträglich sein müssen.

Nutzen und Schaden


Darüber hinaus gilt, dass die 3R eine entscheidende ethische Frage gar nicht beantworten: die Frage nämlich, ob der erwartete Nutzen des Tierversuchs es tatsächlich wert ist, den Tieren die jeweiligen Leiden und Schäden zuzufügen. In der „Basler Deklaration", in der sich fast 4.000 Wissenschaftler*innen aus aller Welt zu Tierversuchen bekennen und die ethische Verantwortung dabei betonen, ist z.B. von einer solchen SchadenNutzen-Analyse gar nicht die Rede. Es wird stattdessen davon ausgegangen, dass ein Versuch schon dann legitim ist, wenn er eine wichtige Forschungsfrage beantwortet und die 3 R eingehalten wurden.

Tatsächlich ist aber eine Schaden-Nutzen-Analyse sogar vom Tierschutzgesetz her vorgesehen. Dort heißt es unter Paragraph 7a: „Versuche an Wirbeltieren oder Kopffüßern dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Tiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind." Es wird im Gesetz allerdings nichts dazu gesagt, wie diese Abwägung im Einzelnen durchzuführen ist. Aufgrund theoretischer und praktischer Schwierigkeiten ist sie in der Tat so gut wie unmöglich.

Zunächst sind beide Seiten der Abwägung, Nutzen und Schaden, kaum zu messen. Der Nutzen in Form von Erkenntnisgewinn oder zukünftiger Leidverringerung ist in der Forschung nie klar einzuschätzen. Auch der Schaden in Form von Tierleid ist anhand zweifelhafter Belastungstabellen höchstens grob einzugrenzen. Außerdem ist fraglich, wie diese beiden Größen miteinander verglichen werden sollten. Welcher Erkenntnisgewinn oder die Verhinderung welcher menschlicher Leiden rechtfertigen die Tötung wie vieler Tiere oder welches Ausmaß von Tierleid? Zählen Tiere und Menschen und ihr jeweiliges Leid dabei gleich viel, oder zählen Tiere weniger, und wenn ja, wie viel weniger?

Das Fehlen jeglicher Maßstäbe für die Abwägung ist wohl auch ein Grund dafür, dass in Kommissionen und Behörden faktisch gar nicht abgewogen wird. Ein Missverhältnis von Nutzen und Schaden ist nur in ganz seltenen Fällen, z. B. manchmal bei Affenversuchen, der Anlass für die Ablehnung eines Versuchs. Die Entscheidungen finden ansonsten praktisch unter der Voraussetzung statt, dass jeder noch so kleine Nutzen jedes noch so große Leid rechtfertigt.

Ablehnung von Tierversuchen


Im Kontrast dazu könnte man die Unmöglichkeit einer vernünftigen Abwägung auch zum Anlass nehmen, Tierversuche für niemals gerechtfertigt zu erklären. Möglich ist auch eine Position, die besagt, dass Tierversuche nur stattfinden sollten, wenn die beiden Seiten der Abwägung hinreichend klar sind und der Nutzen intuitiv eindeutig den Schaden überwiegt. Das könnte z.B. der Fall sein, wenn wir wüssten, dass ein Experiment mit einem Dutzend Katzen sehr wahrscheinlich dazu führen würde, dass wir ein Heilverfahren für eine Epidemie finden, die Millionen Menschenleben bedroht. Auch wenn man die Versuche in so einem Fall für gerechtfertigt hielte, könnte man allerdings die routinemäßige Verwendung von Tieren in der Forschung ablehnen. Man könnte nämlich argumentieren, dass die routinemäßige Verwendung von Tieren nie solche Bedingungen erfüllt – und dass die Normalität der Verwendung auch verhindert, dass der Einzelfall ernsthaft überprüft wird.

Schließlich ist es möglich, die utilitaristische Abwägung und Aufrechnung von Schaden gegen Nutzen grundsätzlich in Frage zu stellen - z.B. mit dem Verweis darauf, dass wir solche Rechtfertigungen nicht überzeugend finden würden, wenn es um Menschen ginge. Tatsächlich verfährt das geltende Recht nach dem Prinzip "Utilitarismus für Tiere, Kantianismus für Menschen". Das bedeutet, dass Menschen als Individuen Grundrechte haben, die verbieten, sie zugunsten eines zukünftigen Gemeinwohls zu verletzen oder zu töten. Wenn wir empfindungsfähigen Tieren ebensolche Grundrechte zuschreiben würden, dürfte es auch mit ihnen keine unfreiwilligen belastenden Experimente geben. Dasselbe können wir fordern, auch ohne auf den Rechtsbegriff Bezug zu nehmen, indem wir z.B. sagen, dass kein fühlendes Wesen je nur als Mittel zu unseren Zwecken gebraucht werden sollte.


Seiten 47-57 gekürzt aus:
Schmitz, Friederike „Tierethik. kurz + verständlich“ © 2020 compassion media / https://www.rootsofcompassion.org/compassion-media_3__Tierrechte-Tierbefreiung

Friederike Schmitz – ist eine deutsche Philosophin und Publizistin, die mehrere Jahre in Forschung und Lehre an verschiedenen Universitäten beschäftigt war. Seit 2017 ist sie als Autorin, Referentin und Trainerin freiberuflich tätig. Dr. Friederike Schmitz spezialisiert sich auf Tierethik und Mensch-Tier-Beziehung und engagiert sich in der Tierrechts-, Tierbefreiungs- und Klimagerechtigkeitsbewegung.

Mehr Informationen zu Autorin und ihrer Veröffentlichungen: https://friederikeschmitz.de/




 

Top