Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Mikroreisen
Die kleine Reise

Mikroreisen
Mikroreisen | Foto (Zuschnitt): nina volare / CC BY-SA 2.0

Der Knoten der Enge hat sich im Gehen gelöst. Die kleine Reise hat die Welt wieder weiter werden lassen. Es ist Abend jetzt, im Osten, hinter den Bergen ist der Himmel fast grün, im Westen orange.

Von Esther Kinsky

Es ist Mai. Anfang Mai 2020. Der Holunder blüht, die Akazien. Der Weißdorn. Nach fast sechs Wochen der Kontrolle, der Verbote, der Einschränkungen, des Fünfhundertmeterradius der sogenannten Freiheit darf man sich in Italien draußen wieder bewegen. Spazieren! Gehen! 

Ich lebe im Friaul, auf halbem Weg zwischen Meer und Gebirge. Aus meinem Fenster sehe ich die Ebene in Richtung Südwesten, Richtung Venedig. In die andere Richtung sehe ich die karnischen Alpen, hellblau, die Gipfel sind jetzt Anfang Mai noch mit Schneeadern überzogen, die Kette der Voralpen fast violett davor.  Ich lebe im Hügelland, einer alten Moränenlandschaft zwischen Isonzo und Tagliamento, zwei Flüssen von den Alpen zur Adria, steinige, breite Betten, gleißend vom Kalkfels des Karsts und, wie es hier heißt, den weißgebleichten Knochen der unzähligen Soldaten, die an der Isonzofront im Ersten  Weltkrieg fielen.  Eine der vielen europäischen Landschaften, in denen sich Schönheit und Traurigkeit miteinander verwoben, verflochten, verheddert haben, sie lassen sich nicht mehr entwirren.  

Es ist ein heller Tag. Früh am Morgen konnte man vom Hügel hinter meinem Haus das Meer in der Ferne sehen. Die Lagune von Grado schimmerte rötlich unter der aufgehenden Sonne, sogar die kleinen, nur von Vögeln besiedelten Inseln ließen sich ausmachen, wie Grasbüschel standen sie auf dem Glanz. 

Wohin an diesem ersten Tag nach der „stretta”, wie man es hier genannt hat, nach der Enge? Wie lässt sich wieder eintreten ins Freie, Offene? Man übt die Schritte, langsam. Gewöhnt sich wieder an den Boden unter den Füßen, den Boden, auf dem man gehen kann, gehen darf. An das Knirschen und Rascheln und leise Seufzen von Stein, Sand, Gras unter jedem Schritt.

Wohin geht die erste Reise? Und wie?

Wohin an diesem ersten Tag nach der „stretta”, wie man es hier genannt hat, nach der Enge? Wie lässt sich wieder eintreten ins Freie, Offene? Man übt die Schritte, langsam.

Die erste Reise ist eine Reise zu Fuß. Sie führt an die Orte der alltäglichen Wanderungen, die in diesen Wochen gefehlt haben, an die im Gedächtnis zurückgelegten Strecken in naher Umgebung, über den steinigen Boden, die sanften Hänge, zwischen Feldern und kleinen Wäldern, unspektakuläres Gelände. Eine Wiedereroberung der Alltäglichkeit. Des Gehens als Körper- und Denkbewegung. 
Ich wohne am Rand des verschachtelten, wabenartigen Dorfes mit so vielen Stein- und Mauergrenzen zwischen Höfen, Höfen und Gassen, Gassen und Häusern. Doch mit wenigen Schritten bin ich von meinem Haus aus draußen in den Feldern.

Die Erde ist steinig hier, jeder Stein ein Zeugnis der Eis- und Fels- und Erdverschiebungen, die zu diesem Hügelland zwischen Gebirge und Ebene geführt haben. Die beim Pflügen aufgeworfenen Steine werden an Weg- und Ackerecken zusammengetragen und aufgeschichtet, nicht, wie in anderen Gegenden, für Trennmauern verwendet.  Sie bilden kleine Erhebungen an den Ecken der Felder und Kreuzungen der Pfade, die Spalten und Ritzen bieten Unterschlupf für die schwarzen Schlangen, die es hier gibt, die Carabon. Sie sind nicht giftig, aber angriffslustig: zur Abwehr beißen sie sich in den eigenen Schwanz und bilden so einen elektrisch geladenen Ring, der sich rasend schnell bergab bewegen kann, auf vermeintlich Feindliches zu. Später im Mai, wenn die Rosen blühen, sieht man sie auf Paarungssuche; vor allem in der Ebene werden sie nicht selten Opfer ihres Umherschweifens, liegen mit weißen und rosa Hundsrosenblüten berieselt im Regen auf den kleinen Straßen.

Die Grenzen zwischen den Feldern und zwischen Feld und Weg markieren hier keine Steine sondern Bäume. Fast immer sind es die tief gefurchten, raurindigen Maulbeerbäume, von weitem gleichen sie im Winter Kopfweiden, doch jetzt sind sie unverkennbar mit ihrem glänzend grünen Frühlingslaub. Als ich das letzte Mal hier entlang ging, war es fast noch Winter, die blassgelben Primeln waren kaum erblüht, die kahlen Bäume standen unbelaubt, nackt und wie hilflos in frischer Gestutzheit. Im Januar und Februar werden die Kronen bis auf die Aststümpfe geschnitten, damit sie dicht und rund bleiben. Wochenlang liegen die Reisighaufen an den Feldern, bis sie zum Zündeln trocken genug sind. In einer Gegend, in der das Land bis ins 20. Jahrhundert hinein von den Bauern nur bestellt wurde, dem Adel aber gehörte, waren die Maulbeerbäume das einzige, was die Bauern gemeinsam außerhalb von Haus und Hof besaßen. Längs den Feldern der Herren, von deren Ertrag sie sich einen Teil nehmen durften, hielten die Bauern Seidenraupen in den Maulbeerbäumen, eine kleine Industrie neben dem Ackerbau. Die Bäume sind bis heute geblieben, die Seidenraupen nicht. Am Tagliamento, wenige Kilometer von hier, an der Ostseite einer alten Brücke über das breite Kiesbett des Flusses, steht die Ruine einer „Filanda”,  einer Seidenspinnerei. Ein schönes Fabrikgebäude, eine Industriekirche des 19. Jahrhunderts mit gotisierenden Spitzbogenfenstern und Bleiglasrosetten im Giebel. Das Glas ist längst zerbrochen, die Einfassungen verbogen. Hierher brachten früher die Bauern aus der Gegend die Erträge der Seidenraupen von den Grenzbäumen zwischen den Feldern, gesponnen wurde von Frauen, Kindern, Greisen, den sogenanten Schwachen, die hier für kleines Geld arbeiteten. Doch gab es hier auch den ersten Streik Italiens, heißt es. 

Die Felder hinter dem Dorf sind klein. Gerste, Mais, Klee wird angebaut. Futter für die Kühe, die hier meistens im Stall stehen. Die einstige von der Landlosigkeit diktierte Not ist zur Tradition geworden, an der man festhält, auch wenn man weiß, dass Licht und Luft für die Kühe besser wären. Doch Widerstand lehrt Hartnäckigkeit, die schnell zum Starrsinn wird, wenn dem Widerstand der Gegendruck genommen ist.

Wiesen gibt es wenige, nur Felder, die brachliegen, gesäumt von Taubnesseln, Vergissmeinnicht und Sauerklee, von zähem Seggengras durchsetzt. In den feuchten Senken stehen frühe Iris in blau und violett.

Wiesen gibt es wenige, nur Felder, die brachliegen, gesäumt von Taubnesseln, Vergissmeinnicht und Sauerklee, von zähem Seggengras durchsetzt.

Von dem Weg zwischen den Feldern aus sieht man die Berge im Norden und Osten, die dunklen Monti Musi, dahinter die kalkigen Gipfel des beginnenden Karst. Der höchste Berg im Blickfeld ist der Monte Canin, noch schneebedeckt: er markiert die Grenze der Italia Slava, der spärlich bevölkerten Täler mit aussterbenden slavischen Sprachen. Dahinter beginnt Slowenien.

Nie lässt sich hier vergessen, dass dies ein Durchzugsland war, ein Korridor für kleinasiatische Stämme, die den schmalen Streifen Küste unterhalb des Karsts nutzten, um nach Westen zu ziehen, für Etrusker, Römer, Kelten. Wohin man auch schaut, der Blick wird immer an einem Punkt hängenbleiben, der mit Geschichte behaftet und befrachtet ist. Von hier, zwischen den Feldrainen, aus, erkennt man die Kerbe des Fellatals zwischen den Hängen und Gipfeln im Norden, dort bahnten die Römer den Weg ins heutige Kärnten und erkundeten dabei die Goldadern und Rohstoffe in den Bergen. Die Kelten kamen aus der Gegenrichtung über dieselbe Straße und brachten das durchscheinende, noch nicht durchsichtige, Glas – und den Bernstein, Wunderwerke für die Bewohner dieser steinigen Gegenden. Auf einigen Hügeln stehen Burgen – zu Ruinen zerfallen oder trutzig wiederhergestellt –, die von den vielen Kleinkriegen des Spätmittelalters und der Frührenaissance zeugen. Über den schmalen Landstreifen im Osten, am Golf von Triest, kamen die Türken und stießen bis nach Venetien vor. Die Habsburger und Deutschen folgten demselben Weg wie die Kelten, doch hatten sie mehr mit Waffen im Sinn als mit leuchtenden kleinen Wunderwerken. Zwischen dem Golf von Triest und dem Fluss Piave wüteten viele Kriege, um Salz, Gold, Rohstoffe und Territorium, unterbrochen von halbwegs friedlichen Jahren der Freskenmalerei und der Mosaiken. Und immer gab es harte Arbeit.

*
 
In den Wochen der Ausgehsperre herrschte eine noch nie dagewesene Stille. Nachts hörte man das rhythmische Gurlen des Ziegenmelkers, die Frösche, seufzende Triller der Heckenvögel im Schlaf. Und dann, als die Autos wieder – wenn auch eingeschränkt – fahren durften, erfüllte gleich nervöses Rauschen die Luft, dieses Auf- und Abflauen von Motorengeräuschen, das man früher, vor der großen Stille,  kaum wahrgenommen hat. Doch zum Glück waren bald die Zikaden da. Jedes Jahr erscheinen sie so plötzlich. Von einem auf den anderen Tag, und sogleich weiß man nicht mehr, wie sich die Welt ohne sie anhörte. Nun vibrieren Luft und Erde von ihren Lauten, im offenen Gelände, auf dem sonnigen Weg zwischen den Feldern übertönen sie sogar die Vögel.

Es geht bergab, der Monte Canin rückt aus dem Blickfeld, ringsum zeigt sich die Landschaft lieblich ländlich, in solchem Kontrast zu den eben noch sichtbaren schroffen Gebirgskämmen. Der Pfad führt durch ein kleines Waldgebiet, gesäumt von Holunder, Weißdorn und Schneeball, in den schattigen Mulden blüht der Bärlauch, ein Meer weißer Sterne im Halbdunkel unter dem dichten Laub. Hinter dem Wäldchen tun sich leere, größere Felder auf, dazwischen Dörfer mit den spitzen weißen, minarettartigen Kirchtürmen dieses Landstrichs. Und wieder schließen die Berge das Bild ab, in anderem Winkel jetzt, als hätte die Welt außerhalb des Wäldchens sich unmerklich um ein paar Grad gedreht. An einer Weggabelung muss ich mich entscheiden – den Hügel hinauf ins nächste Dorf, an dessen höchstem Punkt man einen weiten Blick über die ganze Ebene hat, oder weiter auf ebenem Gelände zur Torbiera, dem alten Torfmoor. Ich nehme den Weg zum Moor, ein verwunschen unwirklicher Ort, solange noch keine Mücken unterwegs sind. An winterlichen Frosttagen ist es ein Märchenland reifglitzernder Gestalten und eiskrustiger Tümpel, in lauter Grau- und Silbertönen erstarrt. Doch jetzt sind die Bäume belaubt und voller Vögel, die sich in den Wipfeln bewegen. Auf dem weichen Waldboden fällt der Schritt lautlos. Früher wurde hier Torf gestochen, auch das ein Armutsberuf. Beim Anblick der steinigen breiten Flussbetten dieser Gegend, in denen das Wasser monatelang nur als Rinnsal fließt, kann man sich kaum denken, wieviel Sumpf es hier gibt, wieviel von Wasser durchzogenes, als Nutzland untaugliches Gelände mit dürftigem Holz der Weiden, Erlen, Holundergebüsche, mit dunklem, weichem Boden, in den sich kein Stein verirrt hat. Die Torbiera liegt heute unberührt, sich selbst überlassen, drei Seen in wucherndem Sumpfwald. Am Rand der Pfade Farne, Orchideen, Iris in Büscheln. Seerosen auf dem Wasser, noch ohne Blüten.  Der Torfmoorwald – eigentlich kaum mehr als ein Hain und früher sicher ein offenes Gelände, in dem kein Baum hoch wuchs – ist eine fremde Insel mit merkwürdig unsüdlicher Stimmung, wie versprengt aus einer anderen Region, einer anderen Geschichtslandschaft. Und überhaupt gehört dieses leise, etwas düstere Zwischenspiel der Torbiera mehr in eine Geschichte als in eine Landschaft, und wenn ich hinaustrete, auf den hellen Weg, Weinfelder sehe, eine Mühle, die Obstgärten mit Kirschbäumen am Rand des nächsten Dorfes, liegt die Torbiera hinter mir wie eine Kulisse aus einem ausgedienten Historienstück.

In den Wochen der Ausgehsperre herrschte eine noch nie dagewesene Stille. Nachts hörte man das rhythmische Gurlen des Ziegenmelkers, die Frösche

Über den Feldern kreisen die Störche, lautlos, ausdauernd, gleitend. Schauflüge für mögliche Gefährten, Einübung in die Pflichten bevorstehenden Familienlebens. Im Winter sah ich regelmäßig eine Gruppe von sieben Störchen auf den Feldern an einer bestimmten Wegkreuzung. Wie die sieben verzauberten Gestalten aus dem Märchen, das es in einer weiblichen und einer männlichen Variante gibt – in der weiblichen sind es Schwäne, in der männlichen Raben. Aber hier, im Friaul, sind es Störche. Im Winter suchten sie auf den Feldern nach Nahrung, weit verstreut, jeder für sich, doch sobald sie sich gestört fühlten und aufflogen, fanden sie sich alle wieder zu einem Schwarm zusammen. Dutzende Storchenpaare brüten in dem kleinen Dorf am Ende des Weges. Einige – mindestens sieben – bleiben im Winter hier. Ausgangs des Dorfes liegt ein Vogelschutzgebiet, wo Störche in kalten Wintern Schutz und Obdach finden. Auch das ist ein Sumpfgebiet, hier waren früher die Lehmgruben der Gegend. Die Brennerei für Bau- und Dachziegel gibt es längst nicht mehr. Hinter den Lehmgruben liegt ein Streifen Wald, wo die Bauern der umliegenden Dörfer auf zugeteilten Parzellen eine festgesetzte Menge Brennholz für den Winter schlagen konnten. Mein alter Nachbar erzählt mir immer wieder, wie sie früher, als er Kind war, auf Frost warten mussten, um mit dem Fuhrwerk über die zugefrorenen Lehmgruben zu fahren und auf der anderen Seite das im Sommer geschlagene Holz zu holen. Und immer erzählt er dann auch, wie man das Holz nach dem Mondkalender schlagen muss. Immer nur bei abnehmendem Mond. Sonst gibt das Holz keine rechte Wärme. Und es weint im Feuer, dass es nicht zum Anhören ist.

Kalte Winter gibt es schon lange nicht mehr. Der letzte richtige, die Landschaft auf Wochen verwandelnde Schneefall liegt Jahrzehnte zurück.

*

Hinter den ehemaligen Lehmgruben biegt der Weg nach Westen, kaum merklich bergauf. Eichenhaine wechseln ab mit jungen Olivenpflanzungen, schmalen Weingärten. Mit dem Ausbleiben der harten Winter sind die Oliven gekommen, die hier erst heimisch werden müssen, um zu ersetzen, was im Süden unter immer heftigeren Unwettern und zunehmendem Regen von einem noch nie dagewesenen Schädling vernichtet wird.

Wieder hat sich die Welt unmerklich gedreht, haben sich die Kirchtürme und Dorfdächer verschoben. An jedem Ausblickspunkt muss ich mich neu orientieren, als hätte die „stretta” meinen Richtungssinn verwirrt. Vielleicht liegt es an den Wochen der Eingesperrtheit, in denen sich die Welt, wie jedes Frühjahr, so wandelte, ohne dass man im Begehen der Wege Zeuge der Veränderungen wurde. Und ich muss einen ungewohnten Weg eingeschlagen haben: nach einer Biegung gelange ich an einen Ort, den ich lieber meide. In einer Mulde liegt das „Fort”, eine Art Kasernenbunker, in den gegenüberliegenden Hang der Mulde hineingestemmt, aus stumpfgrauem dunklem Betonstein, gekrönt von vier Kuppeln mit Schießscharten. Eine Wehranlage der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit unbeholfenen Jugendstilanklängen, eine steinerne Drohgebärde des rabiaten Nationalismus und der Grenzlüsternheit, wie sie zum Vorspiel des Ersten Weltkriegs gehörten. Etliche solche Trutzfesten stehen auf der Ostseite des Tagliamento, ausgediente Kulissen der Gemetzel vor über hundert Jahren. Aus den Betonritzen sprießt dünnes störrisches Gras, das der Wind in eine Richtung bürstet. Auf den Pfosten des Tors zum Hof vor dem Gebäude sind die italienischen Nationalfarben aufgemalt, ziemlich frisch, wie es scheint.

In einer Mulde liegt das „Fort”, Kulissen der Gemetzel vor über hundert Jahren.

Bis auf den Wind ist es still, sogar die Vögel scheinen sich fern zu halten, nur den Grünspecht höre ich von einer verwilderten Obstwiese hinter mir. Der Grünspecht ist einer meiner Lieblingsvögel, und sein melancholisches Meckern ist ein Trost an diesem  Ort, der etwas Düster-Bitteres ausstrahlt.

Auf dem Heimweg komme ich an einem winzigen Friedhof mit einer kleinen Kapelle vorbei. Die Kapelle ist noch geschlossen, es gibt kein Fresko zu entdecken, kein überraschendes und bewegendes Bild eines weniger bekannten Renaissancemalers, wie sie in der Gegend gelegentlich ganz unverhofft anzutreffen sind. Die Pforte des Friedhofs steht offen, ein paar Frauen machen sich an den steinernen Gräbern zu schaffen, wechseln die längst verblühten Blumen aus, fegen, polieren ein wenig an den Grabsteinvignetten mit emaillierten Fotos herum. Das Schild mit dem Motto der letzten Wochen baumelt noch an der Klinke: Io resto a casa – ich bleib zu Haus. Vielleicht ist das Makabre des Spruchs an diesem Ort noch niemandem aufgefallen. Das letzte Stück des Weges im Abendlicht ist friedlich, fast idyllisch, zwischen Holunderbüschen, Weißdorn, lilablauen Witwenknöpfen und dem ersten roten Mohn am Wegrand. Idyllisch – das geht so von der Hand als Wort, aber was ist eine Idylle heute? Eine Grübelfrage in dieser von unzähligen Pfaden der Furcht, Flucht, Sehnsucht, Gier und Neugier durchspurten Landschaft. Nach der nächsten Wegbiegung sehe ich hinter den Feldern die ansteigenden lehmroten Dächer meines Dorfes, den kleinen Hügel mit Kastanienbäumen, die noch keine Blätter haben. Wenn sie belaubt sind, ist der Blick von meinem Haus in die Ebene ganz schmal.

Der Knoten der Enge hat sich im Gehen gelöst. Die kleine Reise hat die Welt wieder weiter werden lassen. Es ist Abend jetzt, im Osten, hinter den Bergen ist der Himmel fast grün, im Westen orange, der Widerschein lässt den Gipfel des Monte Canin erglänzen. Ein Bussard ruft klagend, vielleicht sind es auch zwei, die einander suchen. Immer wieder frage ich mich, was einen Raubvogel so klagen lässt. Ich bin noch nicht dahintergekommen. 
 
Juni 2020
 
„Die kleine Reise“ kommt aus der Reihe „Mikroreisen“, die in Zusammenarbeit mit dem Magazin dwutygodnik.com entstanden ist, und die Texte von fünf Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Polen beinhaltet. Neben Esther Kinsky sind das:

Roland Schimmelpfennig, „Die weiteste Reise um die Welt“
Wojciech Nowicki, „Die Passage“
Małgorzata Rejmer, „Wilde Tiere“
Adam Robiński, „Die Decke im Koferraum“.

Die Essays, ausgehend von den aktuellen Beschränkungen in Reisen, konzentrieren sich auf unserer unmittelbaren Umgebung in der Stadt, auf dem Lande, im Wald oder im Park und schildern achtsam und zärtlich ein Mikrouniversum aus kleinen Dingen, Phänomenen, Wahrnehmungen von Menschen, Tieren und Pflanzen. 

Top