Von de luxe zu low cost
Die Geschichte zweier Projekte von Ludwig Mies van der Rohe

Villa Tugendhat
Villa Tugendhat | © David Zidlicky

Obwohl sie in unterschiedlichen Ländern entstanden sind und sich in Größe und Charakter völlig voneinander unterscheiden, haben diese beiden von Ludwig Mies van der Rohe entworfenen Stadtvillen viel miteinander gemein. Beide Häuser verkörpern die Idee der modernistischen Architektur, und es spielt keine Rolle, ob sie in einer De-luxe-Version oder bescheidener als Low-Cost-Projekt entworfen und ausgeführt wurden.

Von Paulina Olszewska

De luxe

Als Greta Löw-Beer im Jahr 1928 ein zweites Mal heiratete und Fritz Tugendhat zum Mann nahm, schenken ihre Eltern, reiche jüdische Industrielle aus Brno ihr für den neuen Lebensweg einen Hausentwurf. Dazu überschreiben sie ihr einen Teil eines ausgedehnten Anwesens aus ihrem Besitz, das auf einer Anhöhe liegt und die ganze Stadt überblickt. Das Budget für dieses Geschenk ist unbegrenzt, und die Eltern lassen ihrer Tochter freie Hand bei der Auswahl des Projekts. Greta interessiert sich seit langem für Architektur und verfolgt die neuesten Trends. Von Ludwig Mies van der Rohe hört sie schon, als sie noch mit ihrem ersten Mann in Berlin lebt, und lernt die von ihm entworfene Villa im Berliner Stadtteil Zehlendorf kennen, die dem Historiker Edward Fuchs gehört. Greta beschließt, dass eben dieser Architekt ihr neues Haus planen soll.
 
Ludwig Mies van der Rohe ist auf dem Gipfel seiner Karriere angelangt und kann über einen Mangel an Aufträgen nicht klagen. Die Vision der Eheleute Tugendhat kommt ihm sehr entgegen. Sie suchen eine reine und einfache Form, ohne überflüssige Gegenstände und überladene Möbel. Daher übernimmt er die Planung einer Villa für die fünfköpfige Familie.
 
Er schafft ein Gebäude, das in seiner Form sehr innovativ ist und mit der Anhöhe verschmilzt, auf der es errichtet ist, und so die Vorzüge einer solchen Lage nutzt. Innovativ ist alles, sowohl die Planung der Räumlichkeiten, als auch die Konstruktion, bis hin zum Entwurf der Ausstattung. Mies van der Rohe setzt eine Eisenträgerkonstruktion ein, die es erlaubt, alle möglichen Außenwände des Gebäudes zu verglasen. Man betritt das Haus von der Straße aus, aber „von der anderen Seite”, d.h. von der Ebene der Privaträume der Familie. Erst nachdem man eine gewundene Treppe hinabsteigt, gelangt man in den repräsentativen Teil. Die Villa ist mit einer Reihe fortschrittlicher technischer Lösungen ausgestattet: sie verfügt über ein geschlossenes Ventilationssystem und eine Klimaanlage, die im Fensterboden verborgen ist, außerdem über moderne Bäder und eine Küche. Das Gebäude hat außerdem ein Überwachungssystem und ein elektrisches Tor. Beim Arrangement des Raumes ist die Lieblingsparole des Architekten „less is more“ maßgebend; dieser ist offen und sauber. Trotzdem gelingt es, eine Aufteilung nach einzelnen Funktionen zu bewahren. Der Architekt verwendet seine Lieblingsmaterialien: Glas, Stahl und Beton. Da ihn rechtwinklige Linien reizen, die sich im Raum schneiden, reichen Türen und Fenster vom Fußboden bis zur Decke. Dank der Glaswände durchdringen das Hausinnere und seine Umgebung einander, und die Natur scheint in die Räume zu gelangen, so dass sie ein integrales, sich mit den Jahreszeiten veränderndes Element von ihnen wird. Die Dekoration des Hauses besteht in seiner eigenen Architektur und wird ergänzt um exotische Hölzer aus Asien in der Bibliothek und im Speisesaal, um Palisanderpaneele im Schlafzimmer der Eheleute und weißen italienischen Travertin auf den Fußböden und der Terrasse. Die Materialien sollen nicht nur exklusiv, sondern auch praktisch sein. Daher sind die Schlafzimmer der Familienmitglieder mit makellos weißem Linoleum ausgelegt. Möbel und Vorhänge wählt und entwirft Lilly Reich in enger Zusammenarbeit mit Mies van der Rohe. Der Gipfel der Extravaganz ist die Onyxwand, die den Wohnzimmerbereich von den Tagesräumlichkeiten trennt und je nach Einfall des Tageslichts die Farbe wechselt. Das einzige klassische Kunstwerk im Raum ist eine Frauenbüste von Wilhelm Lehmbruck aus dem Jahr 1913, die an das klassisch-antike Schönheitsideal anknüpft. Dem Architekten gelingt es umzusetzen, wovon das Ehepaar von Anfang an geträumt hat: ein Haus, das ihnen ein Gefühl uneingeschränkter Freiheit gibt.
  • Innenräume der Villa Tugendhat © David Zidlicky

    Innenräume der Villa Tugendhat

  • Innenräume der Villa Tugendhat @ David Zidlicky

    Innenräume der Villa Tugendhat

  • Innenräume der Villa Tugendhat @ David Zidlicky

    Innenräume der Villa Tugendhat

  • Innenräume der Villa Tugendhat @ David Zidlicky

    Innenräume der Villa Tugendhat

Die Zusammenarbeit mit dem herausragenden Architekten selbst erweist sich indes als keine geringe Herausforderung. Mies van der Rohe ist kompromisslos und will von irgendwelchen Beratungen mit seinen Auftraggebern nichts wissen. Wenn ihm selbst minimale Änderungsvorschläge unterbreitet werden, droht er, sich von der weiteren Zusammenarbeit zurückzuziehen und das Projekt fallenzulassen. Es gelingt, die Villa binnen zwei Jahren zu bauen, und im Dezember 1930 ist sie bezugsfertig.

Low costs

Gleich darauf nimmt die Karriere des Architekten einen anderen Weg. In der Wirtschaftskrise und angesichts anwachsender nationalistischer Stimmungen sind Mies van der Rohes Modernismus und seine reinen Formen nicht mehr so gefragt wie ehedem. Als Direktor des Bauhauses in Berlin ringt er mit vielen Schwierigkeiten, darunter auch mit einem Mangel an Aufträgen. Grimassenschneiden kann er sich nicht mehr erlauben, und schon gar nicht, seinen Kunden harte Bedingungen zu diktieren.
 
Diesen Umständen ist es möglicherweise zu verdanken, dass das kinderlose Ehepaar Karl und Martha Lemke es sich im Jahr 1932 leisten kann, bei Mies van der Rohe einen Entwurf für ein neues Haus in Auftrag zu geben. Die Eheleute wollen ein Vorstadthaus am östlichen Stadtrand von Berlin bauen, auf einem Grundstück, das an den künstlichen Obersee heranreicht. Den Architekten empfiehlt ihnen – ähnlich wie den Tugendhats – der Historiker Eduard Fuchs.
 
Die Lemkes gehören zur Berliner Mittelschicht. Sie sind aber keine Millionäre und haben für einen Hausbau nur sehr begrenzte Mittel. Es soll nicht groß, aber praktisch und bequem sein. Karl, der Eigentümer einer florierenden und bekannten Druckerei ist, die sich auf farbige Reproduktionen von Kunstwerken spezialisiert, wünscht sich, dass das Gebäude schnell errichtet wird und vollständig mit dem Garten integriert wird. Daher berät sich der Architekt lange mit seinen Auftraggebern. Gemeinsam erwägen sie verschiedene Varianten und Hausentwürfe. Am Ende beschließen sie, dass es ein flaches Parterregebäude mit einem L-förmigen Grundriss werden soll, dass aus einfachsten gebrannten Ziegeln gebaut wird. Der Eingang befindet sich auf der Nordseite, von wo aus ein kleiner Flur in zwei Richtungen führt: geradeaus ins Wohn- und Esszimmer sowie zur Küche, zur Linken aber ins Büro des Hausherrn und ins Schlafzimmer der Eigentümer.
 
Der Grundriss der Räume selbst ist praktisch. In ihnen finden Möbel Platz, die das Ehepaar schon besitzt. Und doch verzichtet Mies van der Rohe selbst bei einer so bescheidenen Durchführung und vielen Beschränkungen nicht auf edle Materialien: Schmuckränder aus Zitronenholz im Wohnzimmer, eine Palisanderbibliothek oder verchromte Klinken. Licht, Luft, Bewegung, die wichtigsten Grundsätze Mies van der Rohes finden auch im Haus Lemke Anwendung. In Wohnzimmer und Büro finden sich gewaltige Fenster zum Garten hin; sie sind zwar industriell hergestellt, reichen aber von der Decke bis zum Fußboden, und das auf der ganzen Breite. Zugleich durchdringen Garten und Hausinneres einander, wie Karl Lemke es sich gewünscht hat. Ein Durchgangselement ist die Terrasse mit Nussholz, die im Sommer als Gartenzimmer fungiert. In der Küche befinden sich Längsfenster zur Straße hin, die recht hoch angebracht sind und so vor neugierigen Blicken der Passanten schützen. Hinter der Küche befinden sich das Boudoir der Hausherrin und auch ein Haushaltseingang, der in den Gemüsegarten führt. Das Schlafzimmer am gegenüberliegenden Ende des Gebäudes hat nur ein großes Fenster, bietet aber einen schönen Blick auf den See.
  • Haus Lemke @ René Müller

    Haus Lemke

  • Haus Lemke @ René Müller

    Haus Lemke

  • Haus Lemke @ René Müller

    Haus Lemke

Eine Extravaganz, die Karl und Martha sich erlauben, ist außer den hohen Türen der repräsentative Eingangsflur mit verchromter Garderobe und einem in Travertin gefassten Spiegel gleich am Eingang. Mies van der Rohe platziert hier ein Kunstwerk – eine glasierte Vase des begehrten deutschen Bildhauers Otto Douglas-Hill. Die ganze Einrichtung des Hauses in Rot-, Gelb- und Brauntönen gehalten. In den Räumen ist ein Spiel der Kontraste zwischen dunkler Holzfarbe und hellen, lichtdurchlässigen Glastüren zu sehen. Trotz eines bescheidenen Budgets für Bau und Ausstattung verfügt das Haus über die Attribute eines modernen Haushalts: fließend Wasser in Bädern und Küche sowie Zentralheizung. Der Garten nach einem Konzept von Hertha Hammersbacher soll sich mit den Jahreszeiten verändern. Wegen fehlender Mittel verschieben die Lemkes die Realisierung dieses Entwurfs aber auf unbestimmte Zeit.

Die Eheleute Lemke beziehen ihr Haus im Jahr 1933, müssen es aber kurz vor Ende des Krieges wieder verlassen, weil die Umgebung schwer bombardiert wird. Karl und seiner Frau gelingt es, einen Teil der Ausstattung zu retten, die nach Marthas Tod im Jahr 1984 ins Berliner Kunstgewerbemuseum gelangt. Nach dem Krieg flieht das Ehepaar nach Westberlin, von wo aus Karl das Haus noch eine gewisse Zeit verwaltet. Als die Grenze zwischen Ost und West geschlossen wird, beschließt er, es zu verkaufen.

Das Haus Lemke ist der letzte architektonische Entwurf von Ludwig Mies van der Rohe, der bis zu seiner Emigration aus Deutschland im Jahr 1938 Berufsverbot hat. Das nächste deutsche Projekt, das er realisiert, ist in den sechziger Jahren die Neue Nationalgalerie.

Gemeinsame Schicksale

Die Tugendhats haben nicht lange Freude an ihrem neuen Haus. Nach der Einverleibung der Tschechoslowakei in das Dritte Reich im Jahr 1938 flieht die Familie über die Schweiz nach Venezuela. Infolge der Beschlagnahmung jüdischen Besitzes übernimmt der Staat das Haus und macht es hochrangigen NS-Notabeln zugänglich. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dringt die Rote Armee ein und zerstört die bewegliche Habe des Hauses. Nach dem Krieg wird das Haus zum Sitz einer Tanzschule und anschließend ein Krankenhausrehabilitationszentrum für Kinder. Fritz Tugendhat sieht sein Haus nie wieder; er stirbt noch in den vierziger Jahren in Venezuela. Greta kehrt in den sechziger Jahren nach Brno zurück, um gemeinsam mit den Mitarbeitern des Büros von Mies van der Rohe und den lokalen Behörden zu überlegen, wie sich das Gebäude erhalten lässt. Das Speisezimmer der Tugendhats spielt eine wesentliche Rolle in der Geschichte Tschechiens und der Slowakei, denn hier wurde im Jahr 1992 am Esstisch die Tschechoslowakei aufgelöst. Im Jahr 2001 wird die Villa in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen und dann von 2010 bis 2012 restauriert.

Ein ähnliches Schicksal ereilt auch das bescheidene Haus Lemke. Im Jahr 1945 besetzt es die Rote Armee, verwüstet die Ausstattung und macht es zu einem Magazin, das von Lieferfahrzeugen durch die Gartentüre wird fahren. Nach Kriegsende wird der ganze Stadtteil Hohenschönhausen von der Stasi kontrolliert. Ein Mitarbeiter, dem das Haus zugewiesen wird, erkennt darin einen Entwurf Mies van der Rohes und erhält im Rahmen seiner Möglichkeiten die Originalform des Hauses. Da ihm indes ein zusätzliches Zimmer fehlt, teilt er das Schlafzimmer und schlägt das Fenster auf der Terrassenseite heraus. In den folgenden Jahren dient das Lemke-Haus dazu, die Nachbarvilla zu versorgen, in der Stasichef Erich Mielke wohnt. Erst nach der Wiedervereinigung Berlins gelingt es, den Entwurf Mies van der Rohes unter Denkmalschutz zu stellen. Die mühselige, hauptsächlich aus Spenden finanzierte Rekonstruktion dauert vier Jahre, von 2000 bis 2004. Dank ihr gelingt es, dem Haus sein ursprüngliches Aussehen zurückzugeben.

Die Villa Tugendhat und das Haus Lemke teilten das Schicksal vieler anderer, ähnlicher Objekte in Europa. Während des Krieges zerstört oder teils auch danach, haben sie einen schwierigen und mühseligen Weg zurückgelegt, um ihren ursprünglichen Glanz zurückzuerlangen. Jetzt sind sie einer architekturinteressierten Öffentlichkeit zugänglich, die alle Grundsätze der modernen Architektur bewundern, die Mies van der Rohe mit Leben erfüllen wollte. Als „Museen“ haben sie aber die Bewohner und Nutzer verloren, für die sie einmal entstanden sind.

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