Ist Digitalisierung die Zukunft des Gedenkens?

Workshop zum "Building Bridges of Remembrance"
© Fot. Petra Hajska

Mit Blick auf die Herausforderungen, vor denen Kulturinstitutionen, darunter insbesondere Gedenkstätten und historische Museen, heutzutage bei ihrer Anpassung an die sich wandelnden Medienkonsumgewohnheiten stehen, möchte ich kurz einige unterschiedliche Möglichkeiten aufzeigen, wie digitale Medien im Bereich des Erinnerungstransfers genutzt werden können. In den 2000er-Jahren entstanden zahlreiche neue Vertriebswege, und jede der hier besprochenen Technologien ermöglicht völlig unterschiedliche Begegnungsarten – sei es mit den Überlebenden selbst oder auch mit bestimmten Orten als materiellen Zeugen der Geschichte. Sie alle haben das Potenzial, die Geschichtsvermittlung zu revolutionieren, indem sie bisher unbekannte Möglichkeiten der Immersion und Interaktion bieten. Der Einsatz der neuen Medien an Erinnerungsorten wirft jedoch auch die Frage auf, wie sichergestellt werden kann, dass die Erfahrung der erweiterten Realität wirklich eine Reaktualisierung der Vergangenheit bewirkt und nicht in einer Respektlosigkeit gegenüber den Opfern oder einer sekundären Traumatisierung resultiert.

Von Sylwia Papier

2018 startete das United States Holocaust Memorial Museum ein Pilotprojekt zur Verbesserung der Besuchererfahrung durch den Einsatz neuer Technologien. Das Museum ergänzte die Ausstellung The Tower of Faces (mit 600 Fotografien, die zwischen 1890 und 1941 in der jüdischen Siedlung Eišiškės in Litauen entstanden) um eine App, die die Besucher*innen mit dem weiteren Kontext der in der Ausstellung präsentierten Inhalte vertraut macht, zum Beispiel mit bestimmten Realien der Vorkriegszeit oder Schicksalen einzelner Personen[1]. Sobald die Besucher*innen die einzelnen Fotografien mit ihrem Mobilgerät erfassen, liefert ihnen die App zusätzliche Informationen zur Geschichte der abgebildeten Personen, Familien oder Orte. Ein weiterer Schritt sind Projekte, die es den Besuchern erlauben, historische Orte individuell zu erforschen. Ein Beispiel hierfür ist die 2014 entwickelte App zur Erkundung der Gedenkstätte Bergen-Belsen, die die Besucher über ein GPS-Signal im Gelände verortet und ihnen eine virtuelle Rekonstruktion des ehemaligen Konzentrationslagers liefert. Mithilfe mobiler Endgeräte können Besucher*innen nachvollziehen, wie das heute bewaldete und von jeglichen Spuren des ehemaligen Konzentrationslagers befreite Terrain am 15. April 1945, dem Tag der Befreiung durch die US-Armee, aussah. Ein weiteres Projekt ist die 2017 entstandene, weltweit erste 360°-Dokumentation Inside Auschwitz, in der drei Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau – Anita Lasker-Wallfisch, Philomena Franz und Walentyna Nikodem – ihre Schicksale erzählen. 2024 entstand das VR-Projekt Inside Kristallnacht, in dem die Zeitzeugin Dr. Charlotte Knobloch die Nutzer*innen durch das München von 1938 führt. Dank XR-Technologie und Natural Language Processing können die Nutzer*innen der virtuellen Charlotte Knobloch auch selbst Fragen zu den Novemberpogromen, der Familie der Zeitzeugin oder allgemein zum Holocuast stellen.[2]

Ein innovatives und für die Befragung von Zeitzeugen äußerst interessantes Werkzeug ist die vom Frauenhofer HHI entwickelte „3D Human Body Reconstruction“-Technologie. Die mit ihrer Hilfe entstandene VR-Dokumentation „Ernst Grube – Das Vermächtnis“[3] erzählt vom Schicksal eines der letzten deutschen Überlebenden des Holocausts. Grubes Erinnerungen wurden 2019 im volumetrischen Studio der Volucap GmbH  für zukünftige Generationen festgehalten[4]. Die Nutzer*innen werden gemeinsam mit dem Zeitzeugen in virtuelle Umgebungen versetzt – historische Orte, die speziell für den Film digital rekonstruiert wurden. Das Projekt des Frauenhofer HHI wurde im Juni 2022 in der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen offiziell eröffnet. Mithilfe derselben Technologie entstand 2023 das Münchner Projekt LediZ (Lernen mit digitalen Zeugnissen)[5]: Am Leibniz-Rechenzentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften entstehen interaktive, dreidimensionale, deutschsprachige Interviews mit Holocaust-Überlebenden wie Abba Naor und Eva Umlauf.[6]  Als letztes Beispiel möchte ich das 2022 vom Illinois Holocaust Museum and Education Center ins Leben gerufene Projekt The Journey Back: A VR Experience erwähnen, von dem manche Kritiker behaupteten, es revolutioniere die Zukunft des Gedenkens an den Holocaust. Es ist das erste Projekt dieser Art, in dem Holocaust-Überlebende die Nutzer*innen selbst durch ehemalige Konzentrationslager führen.

Eine weitere Anwendungsmöglichkeit der neuen Technologien besteht in der Erstellung realistischer digitaler Darstellungen von Menschen und Orten. Die Rede ist von Initiativen wie dem Projekt (New) Dimensions in Testimony (2012) der USC Shoah Foundation und dem Forever Project (2016) des National Holocaust Centre and Museum in Großbritannien[7], die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Dialog mit Holocaust-Überlebenden (in Form von lebensgroßen 3D-Modellen) aufrechtzuerhalten – indem sie Spracherkennungstechnologien verwenden und den – von sämtlichen hier vorgestellten Initiativen beabsichtigten – Eindruck erzeugen, den Zeitzeugen (auch ohne die Verwendung einer VR-Brille) hautnah zu begegnen.

Diese kurze Übersicht deutet an, in welchem Maße digitale Erinnerungsprojekte heutzutage dazu beitragen, den Kontakt mit der Vergangenheit aufrechterhalten. Gleichzeitig zeigen sie auf, wie sich Zeitzeugenarchive zukünftig weiterentwickeln können, um Nutzer*innen stärker zu involvieren, sie zu einem kritischen Engagement aufzufordern und sie dazu einzuladen, eine aktive Rolle bei der Reaktualisierung der Vergangenheit und des Gedenkens zu spielen – insbesondere, indem sie bei ihnen ein Gefühl der Anwesenheit (presence effects) erzeugen[8]. Mit ebendiesen Herausforderungen und Dilemmata beschäftigen sich auch die an diesem Projekt beteiligten Institutionen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Antworten auf die Frage zu finden, wie wir den Spannungen zwischen dem wachsenden Bedürfnis nach zugänglichen und immersiven Zeitzeugenberichten und den Vorbehalten gegenüber den zu diesem Zweck verwendeten Technologien, die sich von den traditionellen Formaten wesentlich unterscheiden, sinnvoll begegnen können.





 

Quellen

[1] Vgl.: Stories from a Tower of Faces, [online:] https://medium.com/memory-action/stories-from-a-tower-of-faces-85dc89d08aab, abgerufen am: 21.01.2024.

[2] Ebenda.

[3] Immersive and Interactive Virtual Reality Experience of History „Ernst Grube – the Legacy“, [online:] https://www.youtube.com/results?search_query=grube+-+legacy, abgerufen am: 20.01.2024.

[4] Ernst Grube. The Legacy, [online:] https://volucap.com/portfolio-items/ernst-grube-the-legacy/, abgerufen am: 21.01.2024.

[5] Learning with digital testimonies (LediZ), [online:] https://www.en.lediz.uni-muenchen.de/index.html, abgerufen am: 20.01.2024.

[6] Ebenda; A. Ballis, M. Gloe, Interactive 3D Testimonies of Holocaust Survivors in German language, [in:] Holocaust Education Revisited, Hrsg.: M. Gloe, A. Ballis, Wiesbaden 2020, S. 343–368.

[7] The Forever Project, [online:] https://the-forever-project.com/portfolio/forever, abgerufen am: 20.10.3023.

[8] Vgl.: A. Pinchevski, Transmitted Wounds: Media and the Mediation of Trauma. Oxford, 2019, S. 101.

 

Top