„Kannitverstan“ – „Kann nicht verstehen!“
Märchenpädagogik und Sprachlernen

Junge liest aus einem Buch
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Kannitverstan ist der Titel einer seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bezeugten Anekdote. Ein Handwerksbursche ist unterwegs im Ausland, betrachtet ein schönes Gebäude und fragt jemanden, wem es gehört. Die Antwort „Kannitverstan“ missversteht er und denkt, dass dies der Name des Eigentümers sei. Wenig später erkundigt er sich nach dem Besitzer eines großen Schiffes und erhält die gleiche Antwort. Er wird neidisch auf den Reichtum des vermeintlich Glücklichen. Als er schließlich einen Leichenzug vorübergehen sieht und erfährt, dass „Kannitverstan“ zu Grabe getragen wird, findet sich der Handwerksbursche mit seinem eigenen bescheidenen Stand ab und geht zufrieden weiter seines Weges.

Die Geschichte Kannitverstan kursiert in verschiedenen Fassungen und spielt mal in Paris, mal in Amsterdam, Hamburg, Wien oder Moskau. In Deutschland ist sie bekannt geworden durch Peter Hebel im Jahre 1809. Trotz der humorvollen Handlung verdeutlicht sie, dass es die Verständigung erleichtert, wenn man eine Fremdsprache richtig beherrscht. Zumindest beugt dies Missverständnissen, wie den hier geschilderten vor. Kannitverstan ist kein „echtes“ Märchen, sondern eher als Anekdote oder Schwank einzuordnen. In Märchen, insbesondere den Zaubermärchen, gibt es solche Sprachbarrieren grundsätzlich nicht. Die Märchenheldin oder der Märchenheld können meist problemlos mit allen nur erdenklichen Wesen kommunizieren. Das Aschenputtel unterhält sich ebenso selbstverständlich mit den Tauben, wie der Müllerssohn mit seinem gestiefelten Kater oder das Schneewittchen mit den sieben Zwergen. Da die Märchenheldinnen und -helden keine Sprachbarrieren kennen, eignen sie sich gut als Vorbild für Sprachlernende. Warum Fremdsprachen, insbesondere die deutsche Sprache, besonders gut mithilfe von Märchen erlernt werden können, werde ich im Folgenden anhand einiger Beispiele erläutern.

Märchen sind spannende Geschichten mit ausdrucksstarken Bildern

In Märchen passieren die unglaublichsten Dinge: Die böse Hexe will Hänsel und Gretel töten, muss aber schließlich selbst im Ofen verbrennen. Drachen, die Prinzessinnen entführt haben, sind zu besiegen, oder dem Teufel müssen drei goldene Haare ausgerissen werden. Um die Aufgaben zu bewältigen, bedarf es oft der Unterstützung von gut gesonnenen magischen Helferinnen und Helfern. Das können Zauberrequisiten sein, manchmal hilft aber auch ein Jäger wie bei Rotkäppchen oder die Großmutter des Teufels. Viele dieser Märchen kennen wir seit unserer Kindheit. Einmal gehört, vergisst man diese Bilder nicht mehr. Man mag sich zwar nicht mehr an die genauen Einzelheiten vieler Märchen erinnern, aber die zentralen Bilder – der Wolf frisst das Rotkäppchen oder Rapunzel lässt ihr Haar herunter – behalten wie unser Leben lang im Kopf.
Wenn wir eine fremde Sprache mit Hilfe von Märchen erlernen, ist das ein großer Vorteil. Verknüpft mit solch spannenden Geschichten und ausdrucksvollen Bilder bleibt das neue Wissen besser im Gedächtnis haften, als wenn man bloße Grammatikübungen oder Vokalbellisten paukt. Ganz ohne solche Übungen wird es jedoch beim Fremdsprachenlernen nicht gehen können. Aber Deutsch zu lernen mit deutschsprachigen Märchen steigert die Motivation, denn es lernt sich leichter, wenn wir Altbekanntes (das Märchen) mit Neuem (die fremde Sprache) verbinden.
 

Nicht zu unterschätzen sind zudem die häufig mit Märchen verknüpften positiven Erinnerungen. Viele jugendliche und erwachsene Lernende fühlen sich bei der Beschäftigung mit Märchen in ihre Kindheit zurückversetzt, was oft mit dem Gefühl von Geborgenheit verbunden ist. Dass die Märchen fast immer gut ausgehen, unterstützt dies zusätzlich. Positive Emotionen sind ungemein wichtig für Lernprozesse. Und wenn sich diese positive Energie für das Fremdsprachenlernen nutzen lässt, lernt es sich insgesamt leichter und besser.

Die Magie der Märchensprache

Nicht nur die eindrucksvollen Bilder, die fantastische Handlung und die Magie der Geschichten wirken sich positiv auf das Sprachenlernen mit Märchen aus. Auch die Sprache und die Erzählweise des Märchens machen es für das Fremdsprachenlernen bedeutsam. Märchen sind in der Regel kurze und eher einfach strukturierte Texte. Das erleichtert das Verstehen im Vergleich zu anderen komplexeren Texten. Es gibt oft ähnlich verlaufende Handlungsschemata und Wiederholungen, sowohl auf inhaltlicher als auch auf sprachlicher Ebene. Viele Märchen beginnen mit der berühmten und einprägsamen Anfangsformel „Es war einmal…“ und enden mit der Schlussformel „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
Inhaltliche Wiederholungen strukturieren den Handlungsverlauf, wenn zum Beispiel drei Brüder nacheinander ausziehen und ihr Glück versuchen oder ein Held mehrere Aufgaben bestehen muss. Solche Wiederholungen und wiederkehrende Formulierungen sind besonders hilfreich, wenn es eine neue Sprache zu erlernen gilt, denn dadurch prägen sich neue Begriffe und Redewendungen leichter ein.
Entscheidend für das Erlernen einer Fremdsprache ist es, selbst viel zu sprechen. Das lässt sich hervorragend (ein-)üben mit den sich reimenden Märchensprüchen: „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“ oder: „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“.
Screenshot aus der „Märchenstunde“
© Goethe-Institut Warschau

Natürlich ist zu bedenken, dass viele der Märchen der Brüder Grimm sprachlich sehr herausfordernd sein können.  Die meisten ihrer Texte sind über zweihundert Jahre alt und daher finden sich dort zum Teil antiquierte Begriffe wie zum Beispiel „das Spinnrad“, „die Kutsche“ oder „der Diener“. Diese Begriffe sollten dann erklärt oder gegebenenfalls sogar ersetzt werden. Man muss also nicht unbedingt mit den Märchen in der Originalfassung einsteigen. Es gibt zahlreiche Märchenfassungen, die in einfacher Sprache umgeschrieben wurden und speziell für Fremdsprachenlernende mit entsprechendem didaktischen Material erstellt wurden (vgl. die Literaturangaben am Ende).
Dennoch ist festzuhalten, dass die Brüder Grimm nicht nur die wichtigsten deutschen Märchensammler waren, sondern auch als Begründer der modernen Germanistik das große „Deutsche Wörterbuch“ initiierten, das erst über hundert Jahre nach ihrem Tod im Jahre 1961 abgeschlossen wurde. Gerade ihre Märchenbearbeitungen gelten als stilbildende Sprachvorbilder. Womit könnte man daher besser Deutsch lernen als mit ihren Märchen?

Märchen kennen keine Grenzen

Kein anderes deutsches Buch hat eine so weite Verbreitung gefunden wie die Kinder- und Hausmärchen. Es wurde in rund 100 Sprachen übersetzt und ist in fast allen Ländern dieser Welt bekannt. Die meisten der Märchen sind aber gar keine „echten deutschen Märchen“, sondern stammen aus den unterschiedlichsten Ländern und Regionen. Viele der bekanntesten Grimmschen Märchen finden sich schon in älteren französischen oder italienischen Quellen, einige verwenden sogar Motive aus Tausendundeine Nacht, wie zum Beispiel das Märchen Simeliberg.
In Polen waren rund zwei Drittel der Märchenstoffe des Grimmschen Werkes schon vor der ersten Veröffentlichung im Jahre 1812 bekannt. Daher werden viele Deutschlernende aus anderen Nationen in den Märchen der Grimms ähnliche Motive und Varianten aus den Volksmärchen ihrer eigenen Heimat wiederfinden. Das kann für einen sogenannten „Aha-Effekt“ sorgen und zusätzlich motivieren, sich mit Märchen in einer für sie fremden Sprache zu beschäftigen. Märchen kennen also keine Grenzen, im Gegenteil: Mit Märchen lassen sich Grenzen überwinden und Brücken bauen. Einerseits zwischen den verschiedenen Regionen, Ländern und Kulturen, da durch die ähnlichen Märchenmotive viel Gemeinsames und Verbindendes zum Vorschein kommt, andererseits zwischen Jung und Alt. Denn Märchen begeistern nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene, für die sie ursprünglich (aus)gedacht und erzählt wurden. Insofern eignen sich Märchen für das Fremdsprachenlernen für Menschen jeden Alters.

Vom Zauber des Märchens

Dass die Märchenheldinnen und -helden keine Sprachbarrieren kennen und mit allen und jedem – egal, ob Mensch, Tier oder Fabelwesen – sprechen und sich verständigen können, ist also kein Zufall. Es zählt zum Programm des Märchens und macht neben vielen anderen Aspekten seinen Zauber aus. Bei aller pädagogischer Inanspruchnahme des Märchens für das Sprachenlernen sollte das nicht vergessen werden. Denn wenn das Märchen nur als Mittel zum Zweck fungiert, um mit ihm Grammatik und Vokabeln zu lernen, dann verfliegt dieser Zauber. Bleibt aber die Faszination für die fantastische und realitätsenthobene Erzählung im Gewand seiner klaren Sprache, dann gelingt das damit verbundene Sprachenlernen vielleicht ähnlich leicht wie es dem tapferen Schneiderlein gelang, den Riesen zu bezwingen, ein Einhorn zu fangen und am Ende sogar die Königstochter für sich zu gewinnen.     
Screenshot aus der „Märchenstunde“
© Goethe-Institut Warschau
 

Literaturhinweise:


Geister, Oliver: Kleine Pädagogik des Märchens. Begriff – Geschichte – Ideen für Erziehung und Unterricht. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. Baltmannsweiler 2021.
Gernet, Katharina: Mein Märchen-Buch in Leichter Sprache. 6 Märchen der Brüder Grimm. München 2017.
Rumpelstilzchen. Drei Märchen der Brüder Grimm. Nacherzählt von Franz Specht. Deutsch als Fremdsprache Niveau A2. Ismaning 2010.
Van de Kooi, Jurjen: Sprachmissverständnisse. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 12. Berlin und Boston 2017. Sp. 1094-1099.

Märchen in leichter Sprache zum kostenlosen Anhören:


https://www.ndr.de/fernsehen/barrierefreie_angebote/leichte_sprache/Maerchen-in-Leichter-Sprache,maerchenleichtesprache100.html [letzter Zugriff am 6.7.2021]

Die Märchenstunde des Goethe-Instituts Warschau finden Sie hier: https://www.goethe.de/ins/pl/de/spr/unt/kum/dfk/mar.html