Werner Herzog
Glocken aus der Tiefe. Glaube und Aberglaube in Rußland
- Produktionsjahr 1993
- Farbe / LängeFarbe / 60 Min.
- IN-Nummer IN 3576
Werner Herzog beobachtet in Sibirien Wunderheiler, selbst ernannte Erlöser, die sich als Nachfolger Christi ausgeben, und Menschen, die am fernen Svetlojar-See seltsame und kaum erklärte Rituale durchführen.
Ein Mann robbt übers Eis, ein zweiter folgt. Die Konzentration ist nach unten gerichtet, in die Tiefe, aus der angeblich Glocken zu hören sind. Das Motiv, das in vielen europäischen Sagen und Legenden anklingt, kreist um die Sehnsucht nach dem Versunkenen, Unsichtbaren, das in besonderen Momenten wahrnehmbar werden könnte. Wie in den meisten seiner scheinbar dokumentarischen Arbeiten verzichtet Herzog auf verbale Erklärungen, er hält einfach fest, was ihn fasziniert; hier gibt er sporadisch wenige Zusatz-Informationen oder spricht aus dem Off übersetzte O-Töne ein. Es wäre einfach gewesen, dem Zuschauer ein paar Erklärungen über das Vakuum an Heilslehren und Utopien nach dem Zerfall der Sowjetunion zu liefern; Herzog überlässt diese Erwägungen dem denkenden Betrachter. Manchmal entsteht dabei der Eindruck, der Filmemacher scheue sich aus Respekt vor den Menschen, ihre echten oder vermeintlichen Mysterien zu entzaubern.
In der Gegend des Oberlaufs des Jenissejs findet Herzog ein paar ärmliche Hütten; drinnen befinden sich mehrere Menschen, allesamt verstummt; ein Mann führt ein Ritual durch mit Feuer, Rauch und Wasser, die Anwesenden trinken aus einer Schale. Eine Frau erläutert: Wir sind krank. Der Schamane soll den bösen Geist austreiben – und dem Nomadenvolk den Weg in die richtige Richtung weisen. Dazu hört man immer wieder den fremdartigen Kehlgesang sibirischer Sänger.
Eine Frau verkündet, der Erlöser sei gekommen und fordert, man möge sich ihm anschließen. Und der „Erlöser“ selbst, eine Mischung aus Rasputin, Nazarener-Malerei und Oberammergau-Kostümen, erklärt unbeirrt: „Ich sage nur, dass ich das Wort des Vaters bin!“ Die Zahl solcher selbst ernannter Nachfolger Christi, das hat Herzog bei einer Podiumsdiskussion erklärt, sei ständig im Wachsen begriffen. Ein anderer Erlöser behauptet, er würde Wasser und Salben energetisch aufladen und bewegt seine Arme, als würde er Geister dirigieren. Auch Yuri Tarassow gibt selbstbewußt den Heilsbringer: „Ich, der Magier Russlands, befehle euch...!“ Auf einer Bühne erleiden Frauen – scheinbar oder wirklich, das ist nicht zu entscheiden – hysterische Anfälle; sie heulen und stöhnen, auf dass der Magier sie heilen möge.
In den Tiefen des Sees von Kitezh soll eine versunkene Stadt liegen, die untergegangen sei, weil Gott die frommen Menschen vor dem Angriff der Tataren retten wollte. In der Nähe befindet sich ein Hügel; ein Greis umrundet ihn auf Händen und Knien – es sei der „siebte Hügel Jerusalems“. Eine Frau erzählt von einem Dämon, den sie gesehen habe, von einem Schwein, das wahnsinnig geworden sei, von Glocken, die sie aus der Tiefe gehört habe. Im Hintergrund robben Männer über das dünne Eis auf dem See; was sie unter sich haben, scheint nicht immer wirklich tragfähig zu sein. Aber – man muss genau hinsehen, denn Herzog zeigt das nur am Rande – der See wird auch von Eisanglern und Schlittschuhläufern genutzt.
In einem Kloster betätigt ein Mann ein Glockenspiel; er sagt, er will mit seiner „Kunst“ die Menschen erfreuen. Früher war er Filmvorführer. Er erzählt, dass er ein Waisenkind sei und keine Ahnung von seinen Eltern habe. Der Mann, erfahren wir, ist 1944 geboren. Herzog unterlässt es, auf den Hintergrund des II. Weltkriegs hinzuweisen, auf das Grauen der Historie; den Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und der tiefen Sehnsucht, mag sie rational oder irrational sein, nach Erlösung muss der Betrachter schon selbst herstellen. Aufschlussreich ist auch das Spannungsverhältnis zwischen Großaufnahmen und unendlich weit sich öffnenden Totalen, in denen die Menschen klein und verloren wirken – eine Ästhetik, die schon in Herzogs 1974 entstandenem Spielfilm JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE zu sehen war; auch in dieser Geschichte vom Findelkind Kaspar Hauser ging es um die Verlorenheit eines Einzelnen in der Weite der Welt.
H.G. Pflaum
- Produktionsland
- Deutschland (DE), USA (US)
- Produktionszeitraum
- 1993
- Produktionsjahr
- 1993
- Farbe
- Farbe
- Bildformat
- 1:1,37
- Länge
- Mittellanger Film (31 bis 60 Min.)
- Gattung
- Dokumentarfilm
- Thema
- Religion, Filmgeschichte
- Rechteumfang
- Nichtexklusive nichtkommerzielle öffentliche Aufführung (nonexclusive, noncommercial public screening),Keine TV-Rechte (no TV rights)
- Anmerkungen zur Lizenz
- Hinweis: Vorführungen der Werner Herzog Filme außerhalb der Goethe-Institute im Ausland, z.B. in herkömmlichen Kinos, müssen im Vorfeld mit der Werner Herzog Stiftung abgesprochen werden.
- Lizenzdauer bis
- 14.12.2026
- Permanente Sperrgebiete
- Deutschland (DE), Österreich (AT), Schweiz (CH), Liechtenstein (LI), Südtirol (Alto Adige), Belgien (BE), Luxemburg (LU), Italien (IT)
- Verfügbare Medien
- DCP, Blu-ray Disc, DVD
- Originalfassung
- Deutsch (de)
DCP
- Untertitel
- Deutsch Teil UT, Englisch (en), Französisch (fr), Spanisch (Lateinamerika), Italienisch (it), Portugiesisch (Brasilien), Chinesisch (zh), Russisch (ru), Türkisch (tr), Arabisch (ar), Litauisch (lt)
- Anmerkung zum Format
- DCP ist verschlüsselt
Blu-ray Disc
- Untertitel
- Deutsch Teil UT, Englisch (en), Französisch (fr), Spanisch (Lateinamerika), Italienisch (it), Portugiesisch (Brasilien), Chinesisch (zh), Russisch (ru), Türkisch (tr), Arabisch (ar), Litauisch (lt)
DVD
- Untertitel
- Deutsch Teil UT, Englisch (en), Französisch (fr), Spanisch (Lateinamerika), Italienisch (it), Portugiesisch (Brasilien), Chinesisch (zh), Russisch (ru), Türkisch (tr), Arabisch (ar)