Andreas Kleinert
Lieber Thomas
- Produktionsjahr 2021
- Farbe / LängeFarbe / 156 Min.
- IN-Nummer IN 4569
Der Regisseur Andreas Kleinert, 1962 in Ostberlin geboren, zeigt den Dichter Thomas Brasch, der bis 1976 ebendort lebte. Kleinert weiß also, wovon er erzählt, jedenfalls was den Ort und das alltägliche Leben dort angeht. Braschs Biografie fiktionalisiert er im Detail, hält sich aber generell an reale Vorgaben: Man sieht, wie Brasch die Frauen liebte und die Rebellion, wie er die DDR gleichzeitig schätzte und verachtete, dass er sich weder dort noch im Westen an gesellschaftliche oder politische Erwartungen verkaufte. Kleinerts Drama seziert die Forderungen der Kunst, den Umgang mit Erfolg und die Zeitgeschichte im geteilten Deutschland.
In CinemaScope und schwarz/weiß setzt Regisseur Andreas Kleinert das Leben des Autors, Poeten und Filmemachers Thomas Brasch in Szene. Diese Biografie unterteilt er lose in Kapitel, die jeweils mit einem Zitat aus einem Brasch-Gedicht überschrieben sind. Er wird neben Brasch als Privatperson dessen Dasein als Künstler betrachten, sofern das überhaupt zu trennen ist. Dem Anspruch, die Kunst auch visuell mit einzubringen, folgt Kleinert gleich mit einem Anfangsbild, in dem Thomas Brasch einen nackten, liegenden Frauenkörper mit Filzstift vollschreibt.
Dann erscheinen Titel, die alles zurück auf 1955 datieren: Der 10-jährige Thomas Brasch wird gerade von seinem Vater Horst in die Kadettenschule der NVA gefahren. Man sieht die sommerliche DDR in einer langen Totalen, aber die friedliche Stimmung trügt. Thomas ist nicht begeistert vom Internat, Horst hingegen, SED-Parteifunktionär, setzt es durch. Schon hier ahnt man, dass die beiden selten derselben Meinung sein werden. „Du machst immer nur, was du willst“, sagt Thomas' Mutter Gerda später zu ihm, und das ist garantiert nicht das, was sein Vater will oder auch nur gutheißen könnte.
Der Film springt mindestens zehn Jahre nach vorn, der unbequeme Thomas zieht von zuhause aus, um Schriftsteller zu werden. In seiner „Bude“ sind Partys ohne Ende, es wird gesoffen, getanzt, Gedichte werden rezitiert, man bekommt eine DDR-Bohème serviert, in der Brasch intellektuell und sexuell ungebärdig auftritt. Er fliegt von der Filmhochschule, er schwängert seine Freundin Bettina, er verliebt sich stetig in andere Frauen, die sich willig verführen lassen. Als im August 1968 der Prager Frühling vom Militär des Warschauer Pakts gewaltsam niedergeschlagen wird, verteilt Brasch in Berlin Flugblätter, um dagegen zu protestieren. Die politische Aktion endet damit, dass er festgenommen und für 2 Jahre und 3 Monate ins Gefängnis geschickt wird – sein Vater hat ihn angezeigt.
Früh entlassen muss Brasch seine Bewährung als Fräser in einem Transformatorenwerk abarbeiten. Das inspiriert ihn, er schreibt wie manisch, und Kleinert schenkt ihm zusätzlich ein paar obskure literarische Visionen. Trotz solcher Beschäftigung besucht er abends das „Berliner Ensemble“, er verliebt sich ins Theater. Darunter fällt insbesondere die Elevin Katarina, die allerdings bereits vergeben ist. Brasch schreibt das Stück „Lovely Rita“ für sie, was dazu führt, dass sie am Tag nach ihrer Hochzeit mit ihm auf dem Fahrrad durchbrennt. Die beiden bleiben zusammen, nach seinen zahlreichen, unbeschwerten Affären hat Brasch jetzt eine lange währende Liebe gefunden.
Weitere Jahre später ist beiden der Erfolg fast greifbar nahe: ihr als Schauspielerin, ihm als Autor. Aber der rebellische Geist des Paares wird in der DDR nicht geschätzt, es gibt Verbote oder Gebote für ihre Kunst, auch die Stasi schleicht sich ein. Zuerst schmuggelt Brasch seine Manuskripte in den Westen, bald danach stellen er und Katarina einen Ausreiseantrag. 1976 wechseln sie damit in den anderen Teil der Stadt, um von nun an in westlicher Dekadenz zu leben, beide eher betrübt als begeistert. Aber der Erfolg wird jetzt real, er bringt Angebote in New York City, Engagements in Wien, Preise in Cannes mit sich, viel Geld, aber auch Schmarotzer, Schnaps und Kokain.
Brasch macht Filme, Brasch weigert sich, seine künstlerische Integrität aufzugeben, Brasch wird immer manischer. Kleinert zeigt den Absturz nicht chronologisch, man sieht immer wieder die ungeheure Produktivität von Brasch, die zahllosen Manuskripte auf Tischen, Böden, Sofas, selbst die Zimmerwände sind beschrieben von oben bis unten. Aber der Film geht sprunghaft erst dem Mauerfall, dann dem Ende des Dichters entgegen. Noch immer verweigert der sein Talent der Korruption, aber diese Haltung wird zunehmend schwerer, zermürbt vom Alter und von Einsamkeit.
Thomas Brasch stirbt 2001 in Berlin, wo er sein Leben verbrachte, mit nur 56 Jahren. Kleinerts Film bleibt dabei sanft. Man hört noch einmal Zitate aus Braschs Texten, man sieht kurze Momente aus seiner Vergangenheit, aus den glücklicheren Tagen, bis Brasch sich mit Kusshand von uns verabschiedet, lächelnd.
Doris Kuhn (20.04.2022)
Kritiken, Empfehlungen, Presseschau:
Der Film empfiehlt sich sowohl für den Ethik- und Religionsunterricht als auch für Literatur und Geschichte. Er macht mit dem Milieu der künstlerischen DDR-Opposition bekannt und zeigt, wie komplex die familiären und politischen Verstrickungen einiger damaliger Akteur/-innen waren. Ihre Anstrengung, zu einer eigenen Position zu gelangen, wird ebenso deutlich wie die Unberechenbarkeit der staatlichen Repressionen. Anhand der in den Film einfließenden Texte Braschs kann diese Suche nach einer autonomen Position am konkreten Beispiel herausgearbeitet werden. Von besonderem Interesse bei dieser Filmbiografie ist die übergangslose Vermischung von verbürgten Lebensdaten mit freier Fiktionalisierung. Während zum Beispiel einige Akteur/-innen mit ihren historisch nachprüfbaren Namen auftreten (Biermann, Havemann), tragen andere Personen Pseudonyme. Dieser Kunstgriff regt zur Diskussion über die Legitimität des Verfahrens an. Wo liegen seine Vorteile und Grenzen? (Dr. Claus Löser)
Die ausdrucksstarke Bildsprache und das phänomenale Ensemble mit einem wie entfesselt aufspielenden Albrecht Schuch in der Titelrolle machen diese Künstlerbiografie zu einem filmischen Glanzstück. (Deutsche Film- und Medienbewertung FBW)
Kleinert erzählt souverän und überaus gelungen: Einerseits für ein heutiges Publikum soweit verständlich, dass dies nie ein Erklärfilm wird, sondern eben ein Spielfilm über einen Künstler, dessen Charakter, dessen Fühlen, aber vor allem auch dessen heute für viele nicht leicht zu verstehende politische Entscheidungen jederzeit nachvollziehbar, verständlich und in den allermeisten Fällen auch hochsympathisch, also emotional nachvollziehbar sind.
Und Kleinert tut es so – und das ist nicht weniger wichtig! –, dass er seine Figuren nicht verrät. Denn man sollte sich auch in dieser Hinsicht nichts vormachen: Die heutige Kultur mit ihren Nivellierungen und ihren Infantilismen und ihrer Fixierung auf Unterhaltung wäre Thomas Brasch ein Graus. (Rüdiger Suchsland, artechock)
Es geht um jemanden, der aneckt, rebelliert und vor Kompromissen und Frieden flieht. Kurz: Lieber Thomas fokussiert sich auf das „Unbequeme“ seiner Hauptfigur und porträtiert damit lediglich einen persönlichen Charakterzug. … Der Antrieb des politischen Künstlers Brasch bleibt brach liegen. (Robert Wagner, critic.de)
Preise:
2022 LOLA
2021 Tallinn Film Festival: Grand Prix für den Besten Film
2021 Tallinn Film Festival: Best Actor für Albrecht Schuch in „Lieber Thomas“
- Produktionsland
- Deutschland (DE)
- Produktionszeitraum
- 2019-2021
- Produktionsjahr
- 2021
- In Zusammenarbeit mit
- Arte Deutschland TV GmbH (Baden-Baden)
- Farbe
- Farbe
- Bildformat
- 1:2,35
- Basiert auf
- Klaus Pohl
- In Koproduktion mit
- Norddeutscher Rundfunk (NDR) (Hamburg) || Bayerischer Rundfunk (BR) (München) || Westdeutscher Rundfunk (WDR) (Köln)
- Länge
- Langfilm (ab 61 Min.)
- Gattung
- Spielfilm
- Genre
- Biografie / Portrait
- Thema
- Beziehung / Familie, Literatur, Arbeit, DDR
- Rechteumfang
- Nichtexklusive nichtkommerzielle öffentliche Aufführung (nonexclusive, noncommercial public screening),Keine TV-Rechte (no TV rights)
- Lizenzdauer bis
- 30.11.2028
- Permanente Sperrgebiete
- Deutschland (DE), Österreich (AT), Schweiz (CH)
- Verfügbare Medien
- DCP, Blu-ray Disc, DVD, DCP, DCP, DCP
- Originalfassung
- Deutsch (de)
DCP
- Untertitel
- Deutsch Voll UT, Deutsch Teil UT, Englisch (en), Französisch (fr), Spanisch (Lateinamerika), Portugiesisch (Brasilien), Arabisch (ar), Chinesisch (zh), Russisch (ru), Tschechisch (cs), Italienisch (it), Estnisch (et), Türkisch (tr)
- Anmerkung zum Format
- DCP sind verschlüsselt
Blu-ray Disc
- Untertitel
- Deutsch Voll UT, Deutsch Teil UT, Englisch (en), Französisch (fr), Spanisch (Lateinamerika), Portugiesisch (Brasilien), Arabisch (ar), Chinesisch (zh), Russisch (ru), Tschechisch (cs), Italienisch (it), Estnisch (et)
DVD
- Untertitel
- Deutsch Voll UT, Deutsch Teil UT, Englisch (en), Französisch (fr), Spanisch (Lateinamerika), Portugiesisch (Brasilien), Arabisch (ar), Chinesisch (zh), Russisch (ru), Tschechisch (cs), Italienisch (it), Estnisch (et)
- Anmerkung zum Format
- DVD Auswertungszeit: ab 01.09.2023 und in Abstimmung mit dem Lizenzgeber.
DCP
- Untertitel
- Polnisch (pl), Ukrainisch (uk)
- Anmerkung zum Format
- DCP sind verschlüsselt
Sonderanfertigung: DCP mit polnischen und ukrainischen UT im Bild; Zweizeiler, um die UTs in den beiden Sprachen gleichzeitig zeigen zu können.
DCP
- Untertitel
- Deutsch Voll UT, Deutsch Teil UT, Englisch (en), Französisch (fr), Spanisch (Lateinamerika), Portugiesisch (Brasilien), Arabisch (ar), Chinesisch (zh), Russisch (ru), Tschechisch (cs), Italienisch (it), Estnisch (et), Rumänisch (ro)
- Anmerkung zum Format
- DCP sind verschlüsselt
DCP
- Untertitel
- Deutsch Voll UT, Deutsch Teil UT, Englisch (en), Französisch (fr), Spanisch (Lateinamerika), Portugiesisch (Brasilien), Arabisch (ar), Chinesisch (zh), Russisch (ru), Tschechisch (cs), Italienisch (it), Estnisch (et), Japanisch (ja)
- Anmerkung zum Format
- DCP sind verschlüsselt