Digitales Projekt Logbücher einer Pandemie: Zwischen Deutschland und Argentinien
Foto: Colourbox.de
Was bedeutet es, die Corona-Pandemie in einem anderen Land und in einer anderen Kultur zu erleben? Im Austausch zwischen Argentinien und Deutschland schildern die aus Argentinien stammende und in Bonn ansässige Moderatorin der Deutschen Welle Maricel Drazer und die in Buenos Aires lebende und für das Deutschlandradio und andere deutsche Medien als Lateinamerikakorrespondentin tätige Victoria Eglau im Rahmen von Logbücher einer Pandemie ihre Eindrücke.
Mit diesem Projekt lädt das Goethe-Institut Buenos Aires die argentinische Journalistin in Deutschland und die deutsche Journalistin in Argentinien dazu ein, Perspektiven zu den möglichen Folgen und bleibenden Impressionen nach diesem einzigartigen Ereignis der globalen Pandemie auszutauschen.
Was erschien ihnen besonders bemerkenswert im Hinblick auf den Umgang mit Covid-19 in ihrer Wahlheimat? Was wäre für sie anders, wenn sie diese Zeit in ihrem Herkunftsland verbracht hätten? Und inwiefern kann diese Erfahrung Auswirkungen auf ihre jeweilige Beziehung zu Deutschland und Argentinien haben?
Drazer und Eglau haben Überlegungen ausgetauscht und Auskunft zu einer Reihe an Fragen gegeben, die wöchentlich hier und in den sozialen Netzwerken des Goethe-Instituts Buenos Aires veröffentlicht wurden. Am 12. Juni um 15 Uhr trafen sich die beiden Journalistinnen zu einem Online-Gespräch, das live auf dem YouTube-Kanal des Goethe-Instituts Argentinien übertragen wurde.
Fragen
1 - Wie fühlt es sich an, eine Pandemie in einem anderen Land als dem eigenen zu erleben? Was wäre für Sie anders, wenn Sie diese Zeit in Ihrem Heimatland verbrächten?
Ich muss zugeben: Es war ein Schock für mich, als Präsident Alberto Fernández am Abend des 19. März vor die Fernsehkameras trat und den Beginn einer elftägigen Pflicht-Quarantäne ankündigte – sachlich, aber bestimmt. Gleich am nächsten Tag sollte sie beginnen! Es stimmt, die Atmosphäre hier in Buenos Aires hatte sich schon in den Tagen zuvor stark verändert. Statt angeregt miteinander zu plaudern, machten viele Leute plötzlich einen großen Bogen umeinander. Statt freundlicher Gesichter plötzlich ängstliche Blicke: Könnte der oder die andere vielleicht ansteckend sein? Aber ich hatte immerhin noch Termine in meinem Kalender: Treffen mit anderen Menschen. Auf der Straße war noch Leben und Lärm. Doch seit sechs Wochen ist diese sonst so quirlige Stadt geisterhaft still. Die Ausgangsbeschränkungen in Argentinien sind schon zwei Mal verlängert worden, noch mindestens bis zum 10. Mai werden wir dieses seltsam zurückgezogene Leben führen. Ich schaue aus dem Fenster: Die spätsommerliche Hitze, die zu Beginn der Quarantäne herrschte, ist herbstlichem Regen gewichen. Die Menschen, die mir hier nahestehen, sind nicht glücklich – aber sie verteidigen das strikte Quedate en casa (Bleib zuhause). Sie wissen: Ihr Gesundheitssystem ist nicht robust. Sie wollen keine Tragödien wie in Bergamo, Madrid, New York oder Guayaquil. Aus Deutschland bekomme ich Fotos von Spaziergängen im Grünen, sie machen mich ein bisschen neidisch. Doch dann denke ich daran, wie glimpflich die Pandemie in Argentinien bisher verlaufen ist, und bin froh, in einem Land zu leben, in dem die Regierung früh reagiert hat.
Jedes Mal, wenn mich meine argentinischen Freunde fragen, wie ich hier in Deutschland mit der Pandemie zurechtkomme, fange ich vorsichtig an zu sagen: „Naja, hier dürfen wir rausgehen…“. Und mein Gesprächspartner weiß sofort, was das bedeutet. Wir sind hier weder eingeschlossen, noch gibt es eine allgemeine Ausgangssperre. So kann ich etwa Spaziergänge im Park oder Wald machen, was ich auch fast täglich tue. Die Situation gleicht daher eher einer verordneten Pause. Weniger Verpflichtungen, weniger Stress, weniger Termine, mehr Zeit, Ruhe und ein unkomplizierteres Leben. Und das alles obendrein im Frühling, was hier eine keinesfalls unwichtige Tatsache ist.
Aber ich weiß außerdem, dass ich mich auf ein solides und vor allem öffentliches Gesundheitssystem verlassen kann. Das beruhigt mich.
Natürlich stelle ich spätestens an dieser Stelle fest, dass ich leider nicht in meiner Heimat Argentinien bin. Aber wer weiß, hoffentlich kann uns diese Krise auch eine gerechtere Weltordnung bringen, und vielleicht wären dann die Unterschiede auf beiden Seiten des Atlantiks eines Tages nicht mehr so bedeutend.
Aber da ist noch etwas. Es gibt Experten hier in Deutschland, die argumentieren, dass einige derer, denen es immer gut ging und die nie mit Problemen zu kämpfen hatten, mit am meisten unter der derzeitigen Situation leiden. Nun ja, darin haben wir Argentinier Erfahrung. Wir sind daran gewöhnt, durch Krisen zu gehen, sie zu überwinden, allem zum Trotz weiterzumachen, kreative Lösungen zu finden und uns neuen Situationen anzupassen. Und ich kann nur sagen, dass das keine Kleinigkeit ist.
Freitag, 1. Mai 2020
2 - Welche Besonderheiten in Bezug auf den Alltag in Zeiten der Pandemie sind Ihnen in dem Land, in dem Sie leben, in diesen Tagen besonders aufgefallen?
Vor ein paar Tagen verließ ich mit dem obligatorischen Einkaufsbeutel über der Schulter meine Wohnung. Dieses Stück Stoff erlaubt es mir, frische Luft zu schnappen, wenn ich es in meinen vier Wänden nicht mehr aushalte – denn Einkaufen im Viertel ist während der argentinischen Pflicht-Quarantäne erlaubt. Draußen begegnete ich einem kleinen Jungen, einem einzigen. Blass und unsicher ging er an der Hand seines Vaters. Ich war gerührt: Es war das erste Kind seit vielen Wochen, das ich auf der Straße sah. Am Rande des abgesperrten Parks saß eine ältere Frau auf einer Bank und nahm ein Sonnenbad.
Als die Stadt Buenos Aires kürzlich Menschen ab siebzig dazu verpflichten wollte, jeden Gang nach draußen telefonisch genehmigen zu lassen, gab es empörte Proteste aus der„Corona-Risikogruppe“. Schutz und Vorbeugung schön und gut – aber diese Maßnahme empfanden viele als Bevormundung, als Einschränkung der persönlichen Freiheit - und da konnte ich ihnen nur zustimmen. Die Regierung ruderte zurück. Einige Tage zuvor hatten die Argentinier*innen beim täglichen Regierungs-Briefing im Fernsehen detaillierte Ratschläge für ihr Intimleben in Pandemie-Zeiten erhalten, inklusive Tips für die Selbstbefriedigung und den Umgang mit Sex-Spielzeugen! In den sozialen Netzwerken wurde das heiß diskutiert, so wie auch die letzte Quarantäne-Lockerung: Einen täglichen Spaziergang, nicht weiter als 500 Meter von der eigenen Wohnung entfernt, wollte der Präsident den Argentiniern erlauben. Mit Kindern! Viele meiner Freunde fanden das viel zu riskant. Und mehrere Regionalregierungen, darunter die von Buenos Aires, wollten die Verantwortung nicht übernehmen: Sie strichen den Spaziergang.
Jetzt spekulieren alle darüber, wie es nach dem Wochenende weitergehen wird. Eine „neue Etappe“ der Quarantäne soll dann beginnen. Zwar ist der Höhepunkt der Pandemie in Argentinien noch gar nicht erreicht, aber die strengen Ausgangsbeschränkungen schnüren der ohnehin krisengeplagten Wirtschaft die Luft ab.
Die Deutschen befolgen die Normen, halten sich an Regeln. Sie halten sie ein, unabhängig davon, ob sie darüber nachdenken. Das heißt, es spielt keine Rolle, ob sie einverstanden sind, ob sie sie für richtig erachten oder ob die Normen mit den Entscheidungen übereinstimmen, die sie selbst getroffen hätten. Normen werden befolgt, weil es Normen sind. Punkt.
Hinzu kommt, dass den Interessen, die Regierende und Behörden verfolgen, im Allgemeinen ein großes Vertrauen entgegengebracht wird. Für eine Gesellschaft ist das natürlich ein großer Vorteil, um eine Pandemie zu überstehen.
Aber noch ein anderer Aspekt ist in diesen Zeiten von Vorteil. Ein argentinischer Freund sagte mir vor ein paar Tagen mit gewissem Sarkasmus: „Na ja, Deutschland praktiziert seit Jahrzehnten den sozialen Abstand.“ Und ich glaube, dass viel Wahres in dieser Aussage steckt. Es ist einfacher, sich daran zu gewöhnen, Abstand zu halten, sich nicht anzufassen, sich nicht zu umarmen oder zu küssen, wenn man das schon kennt.
Aber die Frage zielt auf Besonderheiten ab. Das Kurioseste in dieser Zeit ist wohl ein Produkt, das in den Geschäften und Supermärkten mit erstaunlicher Schnelligkeit ausverkauft war: das Toilettenpapier! Und die kollektive Hysterie ging sogar so weit, dass einem Freund die Autoscheibe eingeschlagen wurde, um sechs Rollen des begehrten Objekts aus dem Auto zu stehlen. Das sind Zeiten…
Auf diese Liste der erstaunlichen Dinge könnte man auch das aufnehmen, was vorher als „normal“ galt. Denn trotz aller neuen Hygienemaßnahmen durfte ich diese Woche erleben, was es bedeutet, wieder zum Friseur zu gehen. Die kleinen Genüsse dieser neuen Ära, der zweiten Phase der Pandemie.
Freitag, 8. Mai 2020
3 - Wie beurteilen Sie den Umgang der Gesellschaft mit dem Coronavirus in dem Land, in dem Sie leben?
„In Argentinien überschreiten die Menschen gerne Regeln, sind egoistisch oder zumindest ausgesprochen individualistisch“ – wie oft habe ich das gehört, seit ich in diesem Land lebe. Aus dem Munde von Argentinier*innen. Die Pandemie hat mir überraschenderweise eine andere Facette dieser Gesellschaft gezeigt. Eine große Mehrheit der Bürger hat sich von Anfang an sehr verantwortungsbewusst verhalten. Viele meiner Bekannten blieben bereits zuhause, bevor die Regierung es ihnen verordnete. Und die allermeisten Menschen in Buenos Aires trugen den Mund-Nasen-Schutz schon, als er noch nicht Pflicht war.
Natürlich gab es auch hier Quarantäne-Sünder: Ein Surfer, der aus der Stadt in Richtung Küste ausbüxte – großer Wirbel in den Medien! Oder ein paar hundert Leute, die während eines langen Wochenendes zu ihren Ferienhäusern aufbrachen – die meisten wurden von der Polizei abgefangen. Aber keine „Corona-Partys“ oder aufgeheizte Demos gegen die Beschränkungen des öffentlichen Lebens wie in Deutschland – dabei hat Argentinien durchaus eine ausgeprägte Protestkultur.
Bisweilen wird mir die kollektive Folgsamkeit und soziale Kontrolle ein bisschen zu viel: „Was willst Du denn draußen?“, fragte mich eine Freundin, als ich in einer WhatsApp-Gruppe ein Foto mit meiner schicken Mund-Nasen-Maske teilte. „Ich gehe zum Bäcker!“, beeilte ich mich zu versichern. „Die Angst ist nicht dumm“, lautet eine Redensart im Spanischen. Ein Freund von mir hat mit diesem Satz das disziplinierte Verhalten der Argentinier in Covid-19-Zeiten erklärt. Ich glaube, er hat recht: Die tieftraurigen Bilder aus Ländern, in denen die Pandemie außer Kontrolle geraten ist, haben hier eine große Wirkung hinterlassen.
Die Deutschen machen gerne Pläne. Und zwar sehr weit im Voraus. Sie sind daran gewöhnt, und ich würde sagen, dass sie es nahezu brauchen. In normalen Zeiten kann man berufliche oder sogar private Verabredungen schon Wochen oder Monate vorher vereinbaren. Und der besagte Tag kommt dann und beide Seiten erscheinen ohne eine vorherige Rückbestätigung. Allerdings ist das jetzt nicht möglich. Und somit ist die Herausforderung enorm. Die früheren Regeln und Gewohnheiten gelten nicht, Verabredungen werden gecancelt, was erlaubt war, ist jetzt verboten, und all das in einer verblüffenden Geschwindigkeit.
Diese neue „Normalität“, also die der „Post-Quarantäne”, ist auch nicht wie früher. Die Kinder gehen zwar wieder zur Schule, aber nur für wenige Stunden und an einigen Tagen, in kleinen Gruppen und mit Mundschutz. Und so ist es mit Allem. Es existieren keine bekannten Parameter, an die man sich halten kann. Indessen entstehen neue Regeln. Die Art und Weise, wie man sich in Geschäften aufhält, in welche Richtung man sich bewegt oder wo man herein- und herausgeht, hat sich verändert.
Die Verunsicherung ist in jeder Hinsicht groß. Hier in Deutschland sind sogar Protestbewegungen entstanden, die durch ihre recht beunruhigende heterogene Zusammensetzung auffallen, da in ihnen besorgte Bürger Seite an Seite mit Rechtsextremen, Verfechtern von Verschwörungstheorien, Impfkritikern, Hoffnungslosen und diversen Esoterikern demonstrieren.
Aber es gibt auch Lichtblicke. Kreativität und Spontanität haben wieder an Wert gewonnen. Und auf einmal kann man sich ein erst neulich uraufgeführtes Theaterstück anschauen, das an die geltenden Pandemierichtlinien angepasst wurde und dessen Handlung an verschiedenen Punkten der Stadt gleichzeitig im Freien stattfindet, und zwar jeweils nur mit einer Handvoll Zuschauer pro Aufführungsort, die die Stimmen der Schauspieler nicht in echt, sondern über eine auf das Handy geladene Audiodatei hören können.
Nichts ist mehr wie es war. Aber nicht alles ist schlechter.
Freitag, 15. Mai 2020
4 - Glauben Sie, dass sich Ihre Beziehungen zu dem Land, in dem Sie leben, oder vielleicht sogar zu Ihrem Heimatland durch diese Pandemie verändern oder sich verändern könnten?
Wenn ich später einmal auf die Pandemie zurückblicken werde, die dabei ist, sich in unser kollektives Gedächtnis einzugraben, dann werde ich mich unweigerlich an Argentinien erinnern. Wie sich dieser Ausnahmezustand in Deutschland „angefühlt“ hat, werde ich nur aus Erzählungen wissen. Seit Monaten ist Argentinien von der Außenwelt abgeschnitten - wann ich wieder in mein Geburtsland fliegen kann, ist völlig ungewiss. Meine Corona-Erinnerung wird also darin bestehen, wie sich das Leben der Argentinier verändert hat – und damit mein Leben.
Vieles, was mir hier lieb und vertraut war, existiert nicht mehr: Küsse und innige Umarmungen zur Begrüßung, Treffen mit Freunden und einem Mate-Becher, der von Hand zu Hand, von Mund zu Mund geht, und unbeschwerte Menschen, die sich in Cafés und bei Kulturveranstaltungen dicht zusammendrängen. Keiner weiß, wann all dies zurückkommen wird. Natürlich vermisse ich auch die Umarmungen meiner Freunde und Familie in Deutschland. Aber die Sehnsucht nach dem „Vorher“ erlebe ich ganz konkret hier, in Buenos Aires. Nach fast zwei Monaten im einsamen Homeoffice habe ich angefangen, wieder persönliche Interviews zu führen. „Wie traurig”, sagten einer meiner Gesprächspartner und ich fast gleichzeitig, als wir uns -mit zwei Armlängen Abstand- verabschiedeten.
Deprimierend war nicht nur diese Distanz, sondern auch das Gesprächsthema: Die dramatischen Folgen der Corona-Krise für argentinische Geschäfte und Betriebe. Ich spüre eine Melancholie bei den Menschen, ein Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit – im gesundheitlichen und ökonomischen Sinne. Aber auch den Wunsch, sich wieder aufzurappeln – und auch diese Krise hinter sich zu lassen. Viele Argentinier haben Grund, äußerst pessimistisch in die Zukunft zu blicken. Sie haben weniger staatliche Hilfen zu erwarten als die Menschen in Deutschland. Trotzdem bleiben die meisten freundlich und umgänglich. Das, was ich an diesem Land liebe, konnte Corona nicht kaputtmachen. Und trotz des erzwungenen physischen Abstands fühle ich mich den Argentiniern vielleicht sogar noch näher als vor der Pandemie.
Offen gestanden glaube ich, dass nach dieser Pandemie nichts so sein wird wie vorher. Vor allem denke ich dabei an die Art und Weise wie wir aufeinander zugehen werden und fürchte, dass die Angst vor dem Anderen und seine Wahrnehmung als eine Gefahr, vor der man sich schützen muss, uns fast wie ein Reflex einverleibt sein wird. Und, dass wir auch nach der Pandemie die Distanzierung aufrechterhalten, Kontakt, Begegnungen oder Nähe vermeiden werden.
Vor ein paar Tagen sah ich einen Vater, der, während er mit seinem Baby sprach, den vorgeschriebenen Mundschutz trug. Ich habe mich bekümmert gefragt, welche Spuren diese „eingeschränkte Kommunikation“ bei diesem und so vielen anderen Kindern hinterlassen wird. Nichts ist in dieser neuen Normalität „normal”. Die Zweidimensionalität und der Austausch über den Bildschirm haben den direkten Kontakt ersetzt.
Die Menschen sind mehr mit sich allein. Ziel ist es, sich von der Außenwelt abzuschotten. Grenzen aller Art haben sich vervielfacht. Was man zu Fuß oder mit dem Fahrrad nicht erreichen kann, liegt „im Ausland“ und um es zu erreichen, muss man Risiken auf sich nehmen oder es ist schier unmöglich.
Mein Heimatland Argentinien liegt heute Lichtjahre von Deutschland entfernt. Ich schaudere, wenn ich an die Erzählung meines italienischen Urgroßvaters denke, der nach Argentinien ausgewandert war und der auf Lebenszeit durch einen unüberwindbaren Ozean von seiner Heimat getrennt blieb.
Freitag, 22. Mai 2020
5 - Inwiefern könnte sich Ihrer Ansicht nach die Rolle des Journalismus, die Art und Weise, wie er praktiziert oder reflektiert wird, in Folge dieser globalen Pandemie verändern?
Während ich mit einem Anflug von Wehmut beginne, die letzte Frage dieses Pandemie-Logbuchs zu beantworten, schaue ich auf meinen Kalender, in den ich die Tage der Pflicht-Quarantäne eintrage: Tag 70. Den früh verhängten Ausgangsbeschränkungen ist es zu verdanken, dass in Argentinien bislang weitaus weniger Menschen an Covid-19 gestorben sind als in vielen anderen Ländern.
Verändert hat diese lange Quarantäne alles, nicht zuletzt die Berufswelt – und damit auch die Arbeit der Journalisten. Natürlich nicht nur hier in Argentinien, sondern überall auf der Welt. Viele, die früher täglich in die Redaktion gingen, mussten ihren Arbeitsplatz plötzlich nach Hause verlegen. Persönliche Interviews, der direkte Austausch mit den Kollegen – alles kaum noch möglich. Stattdessen Zoom-Redaktionssitzungen und WhatsApp-Interviews.
Erschwerte Arbeitsbedingungen in einer Zeit, in der die Anforderungen an die Medien besonders hoch sind. Denn es braucht guten Journalismus, um über das komplexe Thema der Pandemie und ihrer Konsequenzen verantwortungsvoll, verständlich, ausgewogen und kritisch zu berichten. Ich glaube, die allermeisten meiner Kolleg*innen geben ihr Bestes, um dieser Herausforderung gerecht zu werden.
Zugleich müssen wir Journalisten uns große Sorgen machen: Diverse Printmedien haben bereits Einsparungen wegen der Pandemie angekündigt, weil Werbeeinnahmen wegbrechen und noch mehr Leser auf Papierzeitungen verzichten. Die Krise, die schon vor Corona existierte – insbesondere die der Zeitungen –, verschärft sich. Es ist zu befürchten, dass weitere Redaktionen schrumpfen oder zusammengelegt werden, dass noch mehr bei der Auslandsberichterstattung gespart wird etc. All dies führt zu einem Verlust an Informations- und Meinungsvielfalt, der unweigerlich einen Attraktivitätsverlust der Medien zur Folge hat. Man kann nur hoffen, dass diese mutige und kreative Lösungen finden, um die beunruhigende Entwicklung aufzuhalten.
Die Welt wird nicht mehr dieselbe sein, sie ist es schon jetzt nicht mehr – auch der Journalismus nicht. Hier in Deutschland wurde alles auf ein Minimum reduziert. Nur wirklich notwendige Treffen finden persönlich statt, alle anderen erfolgen über den Bildschirm. Das Leben und so auch die Interviews und die journalistische Arbeit geschehen größtenteils im virtuellen Raum. Ich habe das Gefühl, dass sich die Telearbeit endgültig durchgesetzt hat und mit ihr auch die Dezentralisierung der Arbeitsaufgaben.
Darüber hinaus sind die Medien für einen Großteil der Bevölkerung zu einem Bezugspunkt, zu einem konkreten „Bedürfnis“, geworden – sogar für sehr junge Menschen. Die Medien werden öfter zurate gezogen, es besteht der Wunsch und der Wille, informiert zu sein.
Paradoxerweise wächst gleichzeitig die Zahl derer, die die Glaubwürdigkeit von Journalisten infrage stellen, die ihnen misstrauen und sie zu ihren Feinden auserkoren haben. Die extreme Rechte hat das Schmähwort der Nationalsozialisten aufgegriffen und bezichtigt die Journalisten der „Lügenpresse“. Verschwörungstheorien halten absolut keiner Gegenfrage stand – autoritäre Führer ebenso wenig.
Diese Pandemie wird Spuren hinterlassen, das steht außer Zweifel. Die Art und Weise, wie wir aufeinander zugehen, wie wir arbeiten und auch die journalistische Praxis befinden sich im Wandel. Doch nicht alles wird sich verändern. Und an dieser Stelle möchte ich den brillanten Eduardo Galeano zitieren, der sagte: „Die Naturwissenschaftler meinen, wir bestünden aus Atomen, aber ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass wir aus Geschichten gemacht sind“.
Ich bin davon überzeugt, dass wir Journalisten diesen Geschichten genauso wie bisher auch weiterhin nachgehen werden.
Freitag, 29. Mai 2020
Biographien
Victoria Eglau
Foto: Juan Buchet
Zwei Hafenstädte haben das Leben der Journalistin Victoria Eglau geprägt: Hamburg, wo sie 1970 geboren wurde, und Buenos Aires, wo sie lebt und arbeitet. In der argentinischen Hauptstadt hat sie allerdings jedoch sehr viel mehr Zeit verbracht als in der norddeutschen Metropole. Seit 2007 ist Victoria Eglau in Buenos Aires als Korrespondentin tätig - für das Deutschlandradio und andere öffentlich-rechtliche Rundfunksender, für die Jüdische Allgemeine sowie für die Medien des katholischen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat. Sie studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Iberoromanische Philologie an der Universität Bonn - mit einem Auslandssemester in Madrid - und absolvierte ein journalistisches Volontariat beim Deutschlandradio in Köln und Berlin. Mit Stipendien der Heinz-Kühn-Stiftung und der Internationalen Journalisten-Programme (IJP) recherchierte sie mehrere Monate lang in Chile und Mexiko und hospitierte bei der Zeitung Reforma und dem Sender Radio Cooperativa. Victoria Eglau berichtet schwerpunktmäßig aus ihrer Wahlheimat Argentinien, wobei sie insbesondere politische, soziale, kulturelle, religiöse, wirtschaftliche und geschichtliche Themen behandelt. Außerdem informiert sie über Ereignisse in anderen Ländern Lateinamerikas. Im Laufe der Jahre hat sie weite Teile dieses Subkontinents bereist, der sie bis heute fasziniert und in seinen Bann zieht.
Maricel Drazer
Foto: Belén Turletti
Maricel Drazer wurde in Buenos Aires geboren. Sie ist Journalistin und ausgebildete Soziologin. Sie lebt in Deutschland, wo sie als Moderatorin für den internationalen Sender Deutsche Welle tätig ist. Bei der Deutschen Welle ist sie seit fast zwanzig Jahren beschäftigt, anfangs in Buenos Aires und seit 2006 in Deutschland an den Standorten Berlin und Bonn. Derzeit moderiert sie die journalistische Sendung Enfoque Europa. Darüber hinaus ist sie Autorin von journalistischen Artikeln für den Multimediadienst in spanischer Sprache. Davor hat sie u.a. die Talkshow Cuadriga und die Wirtschaftsnachrichten des Senders moderiert. Sie verfügt über umfassende Erfahrungen in der Medienlandschaft ihres Heimatlandes. Außerdem hat sie für verschiedene internationale Medien gearbeitet, darunter Canal Caracol in Kolumbien, Telemundo in den Vereinigten Staaten, N24 in Deutschland, die Zeitung Reforma in Mexiko und Folha de São Paulo in Brasilien. Darüber hinaus hat sie journalistische Erfahrungen bei dem spanischen Fernsehsender TVE in Madrid und dem deutschen Fernsehsender ZDF gesammelt. Des Weiteren erhielt Drazer Stipendien der Heinz-Kühn-Stiftung und des IJP (Internationale Journalisten-Programme).