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Rosinenpicker
All diese Gewalt

Anne Rabes ungewöhnlicher Familienroman zeichnet eindrucksvoll eine Gewaltgeschichte (Ost)Deutschlands nach. Sie reicht von der Nazizeit bis in die jüngere Gegenwart.

Von Michael Krell

Rabe: Die Möglichkeit von Glück (Cover) © Klett-Cotta

Der Beginn von Die Möglichkeit von Glück ist tatsächlich von Glück geprägt: Die Protagonistin Stine erinnert sich einen Urlaub aus Kindertagen. Sie denkt über ihre eigene Geburt nach und über die von Klara, ihrer Tochter. Damit setzt die Dramaturgin, Theaterautorin und Lyrikerin Anne Rabe den ungefähren zeitlichen Rahmen ihres Romandebüts. Stine wird im Jahre 1986, drei Jahre vor dem Mauerfall, in eine staatstreue Familie geboren. In kurzen, chronologisch nicht geordneten Episoden und kursiv gestellten Selbstgesprächen erzählt die Ich-Erzählerin aus ihrer Kindheit, von ihren Eltern, von ihrem Freundeskreis, den Großeltern und ihrem Bruder. Und sie beschreibt das Leben im Osten Deutschlands, wie es sich in den Wendejahren abgespielt hat – eine Zeit, aus der Stine wenig positive Erlebnisse zu berichten weiß. Als Antipodin zu dem ideologischen Umfeld ihrer Familie fungiert Stines beste Freundin Ada. Deren Eltern hatten als Teilnehmende der Montagsdemonstrationen den Fall der Mauer befürwortet und weinen, anders als Stine und ihre Familie, der DDR keine Träne nach.

Nur Bruchstücke

Den „real existierenden Sozialismus“ der DDR hat Stine nicht mehr erlebt, aber das Regime prägte das Leben ihrer Eltern und das ihres geliebten Großvaters mütterlicherseits, Paul Bahrlow. Seine von Stine im Laufe des Buches recherchierte Lebensgeschichte stellt den zentralen Erzählstrang des Buches dar. Bis zu seinem Lebensende verbindet Großvater und Enkelin ein inniges Verhältnis, aber Pauls Vergangenheit bleibt Stine in weiten Teilen verborgen. Nur bruchstückhaft erzählt er über sein Leben, so dass Stine nach seinem Tod mit einigen Fragen zurückbleibt: Warum schwieg er über die Zeit des Nationalsozialismus? Wie weit reichte seine Liebe zum sozialistischen Regime? Die Recherchearbeit nach Pauls Vergangenheit ist der Kitt, der Anne Rabes fragmentarische Erzählung zusammenhält, und der dem Buch die dichte Spannung verlieht, die es auszeichnet.

Allgegenwärtige Grausamkeit

Die immer wieder über Jahrzehnte und in verschiedensten Ausprägungen auftretenden Gewalterfahrungen Stines sind das zentrale Thema des Buches. Die in einer Diktatur wie der DDR systemprägenden Gewaltstrukturen, so eine seiner wichtigsten Aussagen, wirken bis in die kleinsten Nischen des Privaten. Insbesondere Stines Mutter, überzeugte Kommunistin und Lehrerin, ist in der Erziehung ihrer beiden Kinder zu den schlimmsten Grausamkeiten fähig, der Vater wird – von einer Ausnahme abgesehen – durch seine Passivität zum Mittäter. Auch in der Schule geht es rau zu. Die „Nazis“, ausländer*innenfeindliche Dummköpfe, quälen nicht nur die eine Mitschülerin mit Migrationshintergrund oder vermeintlich andersdenkende „Zecken“. Sie verbreiten auch ohne ideologische Motivation, aus Lust an der Sache Angst und Schrecken – auch, weil man sie in einer Art rechts- und moralfreiem Raum gewähren lässt.

Das Glück suchen und finden

Es sind aber nicht nur die anderen – Stines eigenes, selbstverletzendes Handeln, oder der von ihr provozierte Bruch der Freundschaft zu Ada und die mangelnde Empathie für deren Gewalterfahrungen machen deutlich, wie tief das System auch in ihr, in dieser ersten Nachwendegeneration steckt. Diese Gleichgültigkeit ihrem eigenen und dem Leiden anderer gegenüber wirkt geradezu pathologisch, auch wenn sie sich später, nach der Geburt ihres ersten Kindes, davon lösen kann.

Ganz gelingt ihr die Abkehr von ihrer Vergangenheit, so schmerzhaft sie auch gewesen sein mag, allerdings nicht: Anders als ihr Bruder („meinen Komplizen, meinen besten Freund, mein Brudertier“), der weit wegzieht aus dem Nordwestmecklenburgischen, verbleibt sie im Osten. Dann erweitert sich aber doch der Horizont, und es schließt sich ein Kreis: Die Geschichte endet, wie sie begonnen hat – mit einem Urlaub, nur diesmal ist es Stines Urlaub mit ihren eigenen zwei Kindern in Schweden. Gewaltfrei und ohne ideologische Verlogenheit. Die Möglichkeit von Glück.

Plädoyer gegen Gleichgültigkeit

Trotz der der nichtlinearen Struktur liest sich der Roman äußerst flüssig, die Figuren sind interessant und glaubwürdig, und Protagonistin Stine, diese in all ihrer Imperfektion tapfere und aufrechte Frau, wächst einem ans Herz. Gerade weil es so viel erschütternde Brutalität präsentiert, dient das Buch als ein eindrucksvolles Plädoyer für eine sozialere und weniger gleichgültige Gemeinschaft. Im Idealfall kann es so einen wichtigen Beitrag in der Diskussion um den Umgang mit der DDR- Vergangenheit leisten.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück. Roman
Stuttgart: Klett-Cotta, 2023. 384 S.
ISBN: 978-3-608-98463-7
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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