Intersektionalität
Haltung, die verändert
Jetzt erscheint Why We Matter erstmals auf Französisch – und damit können auch die Menschen, über die Emilia Roig schreibt, ihr Buch zum ersten Mal lesen. Im Gespräch erzählt die Autorin Emilia Roig, warum das Schreiben auf Deutsch ihr Freiheit gab und weshalb Intersektionalität für sie keine Theorie bleibt, sondern Haltung, die verändert. Denn was sie beschreibt, spielt sich nicht in Systemen ab, sondern im Alltag – in Beziehungen, in uns. Ein Gespräch, das einlädt, genauer hinzusehen: dorthin, wo das Politische persönlich wird.
Von Lena Krönenbürger
In Ihrem Buch beschreiben Sie Strukturen, die tief in unseren Beziehungen wirken – dort, wo wir sie am wenigsten vermuten. Mich hat das beim Lesen sehr beschäftigt: wie selbstverständlich Machtverhältnisse in Nähe, Liebe oder Care-Arbeit fortleben. Was hat Sie beim Schreiben am meisten überrascht – wie tief solche Strukturen reichen, oder wie wenig wir sie überhaupt wahrnehmen?
Es war nicht schockierend, aber bedrückend. Mir wurde beim Schreiben klar, wie stark diese Dynamiken im Alltäglichen verankert sind und wie viel Schweigen sie umgibt. Es scheint fast ein ungeschriebenes Gebot zu geben, nicht offen darüber zu sprechen, wie sich Beziehungen wirklich anfühlen oder wie Mutterschaft sich anfühlt. Mich hat das wütend gemacht: dieses Schweigen, diese Unsichtbarkeit. Viele Frauen haben das Gefühl, wenn sie sich unwohl fühlen oder nicht in der Rolle aufgehen, seien sie gescheitert. Sie denken, das Problem liege bei ihnen und nicht in den Strukturen, die sie prägen.
Ich glaube, wir müssen aufhören, solche Gefühle als individuelles Scheitern zu sehen. Für mich spielt die Wahrheit eine sehr wichtige Rolle – die Wahrheit sagen, auch wenn es aufrüttelt.
Ich finde es faszinierend, wie anders man sich in einer anderen Sprache ausdrückt – oder sogar fühlt. Sie haben Why We Matter auf Deutsch geschrieben, nicht in Ihrer Muttersprache Französisch. Wie hat das Ihr Schreiben verändert?
Auf Deutsch zu schreiben war tatsächlich einfacher, weil die Sprache für mich neutraler ist. Die Worte sind nicht mit meiner Kindheit verbunden, sie tragen weniger Emotion. Ich benutze sie, um eine Geschichte zu erzählen, ohne mich in den Worten selbst zu verlieren. Außerdem lebe ich in einem Land, in dem meine Familie nicht ist. Das schafft Freiheit. Ich konnte über Dinge schreiben, über die ich auf Französisch vielleicht nicht so offen gesprochen hätte.
Jetzt erscheint Why We Matter erstmals auf Französisch. Sie schreiben darin sehr offen über Ihre Familie und nun können genau die Menschen, über die Sie schreiben, es zum ersten Mal selbst lesen. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?
Es ist ein besonderer Moment – und ein schwieriger. Ich schreibe im Buch über meine Familie, über meine Mutter und andere Familienmitglieder. Wir mussten darüber sprechen, bevor es erschien. Es gab Themen, die ihr unangenehm waren, etwa ihre frühere Beziehung zu einer Frau. Ich wollte diese Geschichte erzählen, weil sie zeigt, wie tief das Tabu über Homosexualität in meiner Familie verankert ist. Obwohl es mehrere Verwandte gab, die schwul, lesbisch oder bi waren, habe ich das erst sehr spät erfahren. Als ich eine verwandte Person fragte, ob das für sie in Ordnung sei, hat sie kategorisch abgelehnt. Natürlich habe ich die Passage dann geändert – sie wird nicht namentlich genannt, und ich habe die Beziehung leicht verfremdet. Aber es zeigt, wie schwierig es selbst heute noch ist, offen über Homosexualität zu sprechen. In diesem Übersetzungsprozess habe ich gemerkt, wie viel leichter es für mich war, in Deutschland darüber zu schreiben. Dort kennt niemand meine Familie. Ich konnte freier erzählen.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie sich Sexismus, Rassismus und Homophobie im Alltag überlagern. Wenn Sie auf Ihre Erfahrungen in Frankreich und Deutschland schauen, wo spüren Sie die größten Unterschiede und was ähnelt sich?
Es gibt auf jeden Fall Unterschiede. Was Homophobie angeht, fühle ich mich in Deutschland wohler. Ich habe den Eindruck, hier gibt es mehr Offenheit, verschiedene Lebensentwürfe werden sichtbarer akzeptiert. Aber ich lebe in Berlin, in Neukölln, einem sehr offenen Umfeld. In anderen Regionen wäre das vielleicht anders. In Frankreich ist das Leben konventioneller, heteronormativer. Wenn ich meine Familie besuche, merke ich, wie präsent Homophobie dort immer noch ist, in Schulen, in Gesprächen, im Alltag.
Rassismus nehme ich dagegen in Deutschland stärker wahr. Er ist sichtbarer, körperlicher, manchmal brutal. In Frankreich ist er im Alltag subtiler, paternalistischer – er trägt diese alte zivilisatorische Haltung in sich, die Idee, andere zivilisieren zu müssen. In Deutschland geht es stärker um Abgrenzung und Ausschluss, um das Trennen statt Einbeziehen. Beide Formen sind gewaltvoll, aber sie funktionieren unterschiedlich. Ich würde keine Hierarchie zwischen ihnen ziehen. Als Person der Öffentlichkeit habe ich in Deutschland mehr Raum als in Frankreich – vielleicht, weil ich von woanders komme. Meine Fremdheit wirkt wie ein Puffer: Sie erlaubt mir, Grenzen zu berühren, Fragen zu stellen, Räume zu öffnen, die für Stimmen von hier oft enger gezogen sind.
Sie werden oft mit dem Begriff Intersektionalität in Verbindung gebracht. Viele finden das Wort sperrig oder theoretisch. Nervt es Sie manchmal, das immer wieder erklären zu müssen?
Ja, manchmal schon. Aber ich verstehe, warum. Intersektionalität ist ein schwieriges Wort und trotzdem beschreibt es etwas sehr Konkretes. Für mich ist es kein rein analytisches Konzept, sondern ein politisches Projekt. Es hilft uns, Unterdrückung in ihrer Tiefe und Komplexität zu verstehen und anzugehen. Wenn wir nur über Rassismus oder nur über Sexismus sprechen, und das auch noch isoliert auf der individuellen Ebene, bleibt es oberflächlich. Intersektionalität schaut auf die Verschränkungen: auf Patriarchat, Rassismus, Kapitalismus, Kolonialismus – und darauf, wie sie sich gegenseitig verstärken.
Oft heißt es, der Begriff sei zu akademisch. Das stimmt nicht. Ja, er wird an Universitäten diskutiert, aber er kommt aus der Praxis – von Schwarzen Frauen, die sowohl an Universitäten als auch in sozialen Bewegungen aktiv waren. Geprägt wurde er von der Juristin Kimberlé Crenshaw, die selbst betroffen ist und eng mit Betroffenen gearbeitet hat. Ich finde es interessant, dass gerade von Schwarzen Frauen erwartet wird, sich einfach auszudrücken – als dürften sie nicht komplex denken. Das ist eine Haltung, die sowohl rassistisch, misogyn und klassistisch ist.
Ich selbst habe keine fest einstudierte Definition. Ich passe sie immer an: an das Publikum, den Moment, die Diskussion. Für mich geht es letztlich darum, die Realität nicht zu vereinfachen, nur weil sie unbequem ist. Komplexität muss nicht immer vereinfacht werden – sie ist notwendig, wenn wir die Welt verstehen wollen.
„Veränderung beginnt, wenn wir uns nicht mehr mit dem abfinden, was ungerecht ist“
Ich verbringe so viel Zeit wie möglich in der Natur. Das erdet mich. Und ich brauche viel Zeit allein – ich bin eine eher introvertierte Person. Meine kleine Hündin hilft mir, im Moment zu bleiben. Wenn ich merke, dass es zu viel wird, dauert es manchmal, bis ich das wirklich sehe, aber dann nehme ich mir eine Pause. Schreiben gibt mir Energie. Das, was ich tue, ist zwar anstrengend, aber es nährt mich. Wenn etwas mir Energie zieht, höre ich auf. Ich achte sehr darauf, ob etwas Leben schafft – oder Leben zieht.
Wenn wir einen Moment lang träumen dürften: Ganz Frankreich hätte Ihr Buch gelesen – und wirklich verstanden, was intersektionales Denken bedeutet. Was würde sich verändern? Vielleicht die Stimmung, vielleicht die Art, wie Menschen einander begegnen?
Ich glaube, wir würden bestimmte Dinge einfach nicht mehr hinnehmen. Dass Menschen mit ihren Kindern auf der Straße leben, mitten in Paris, das würde niemand mehr akzeptieren können. Dass Polizeigewalt als etwas Normales gilt, dass ganze Bevölkerungsgruppen regelmäßig von der Polizei schikaniert werden, das wäre undenkbar. Wir würden auch nicht länger hinnehmen, dass sexistische Gewalt verharmlost wird oder als Teil des Alltags gilt. Ich glaube, es gäbe weniger Apathie. Diese kollektive Gleichgültigkeit gegenüber Ungerechtigkeit, sie würde verschwinden. Stattdessen gäbe es eine kollektive Wut, die etwas verändern will. Und das wäre für mich ein Erfolg, weil Veränderung genau dort beginnt: wenn wir uns nicht mehr mit dem, was ungerecht ist, abfinden.
Über die Gesprächspartnerin:
Emilia Roig ist Politologin und Sachbuchautorin. Sie lehrt, forscht und publiziert zu Themen wie Intersektionalität, Gleichberechtigung und gesellschaftlichem Wandel. Mit der französischen Ausgabe ihres Buches „Why We Matter“ erscheint eines ihrer wichtigsten Werke erstmals in ihrer Muttersprache.