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Interview mit Pascal Plantard
„Die Lehrkräfte durchatmen lassen“

Die Lehrkräfte durchatmen lassen
Foto (Ausschnitt): © Pexels / August de Richelieu

Seit Pandemiebeginn ist digitale Lehre keine Utopie mehr, sondern Realität. Mit dem französischen Wissenschaftler und Experten zum Thema digitale Ungleichheiten Pascal Plantard sprechen wir darüber, was uns von der jüngsten Generation unterscheidet, vor welchen Herausforderungen Schüler*innen, Lehrkräfte und Familien in Sachen digitaler Unterricht und Chancengleichheit stehen, und warum das französische Schulsystem auf keinen Fall so bleiben kann, wie es ist.

Von Lena Kronenbürger

Sie sind Experte für digitale Lehre. Inwiefern unterscheidet sich Ihrer Meinung nach die Sozialisierung meines fünfjährigen Neffen von meiner oder Ihrer, weil es für ihn zum Beispiel normaler ist, mit Computern, iPads usw. zu lernen?

Das ist eine sehr schwierige und weitreichende Frage. Anders als man in den 1990er-Jahren glaubte, gibt es ein Kontinuum zwischen der Sozialisierung und Kommunikation im realen Leben und unseren Interaktionen im Digitalen. Unsere digitalen Leben sind auch nicht völlig autonom. Wir sind von einem technischen Angebot abhängig, das zum Beispiel in den sozialen Netzwerken, auf Video- und Verkaufsplattformen von Algorithmen gesteuert wird. Diese regen uns an zu konsumieren, vermutlich zu lange und zu viele Serien zu schauen sowie Zeit mit unseren Smartphones und in den sozialen Netzwerken zu verbringen.Je nach familiärem, wirtschaftlichem und kulturellem Umfeld entwickelt sich ein sogenanntes "kulturelles digitales Kapital“. Es führt dazu, dass manche Jugendliche heute durch die Technologien intellektuell stimuliert werden und besser lernen, sich stärker für ihre Werte, insbesondere die Umwelt, einsetzen, Klassen überspringen usw. Andere wiederum bleiben völlig hinter ihrem Smartphone oder ihrer Videospielkonsole gefangen und machen nichts anderes daraus, als sich zu verschließen, für sie ist es eine monotone und limitierende Freizeitbeschäftigung.

Darum muss man den Unterschied zwischen Ihnen und Ihrem kleinen Neffen unbedingt sozio-historisch betrachten, aber auch unter dem Aspekt der Erziehung und Sozialisierung. Das heißt, Sie und Ihr kleiner Neffe unterscheiden sich hinsichtlich der Erziehung, vielleicht auch des Milieus. Die Geschichte der Technologien allein ist keine Erklärung. Es ist eher ein Zusammenspiel von Faktoren, die dafür sorgen, dass sich manche Personen eine sogenannte „Handlungsfähigkeit in der digitalen Welt“ aneignen. Im Englischen spricht man von „empowerment“, im Französischen von „pouvoir d’agir“.

Die Kinder werden mit den Technologien und Algorithmen völlig allein gelassen.

Pascal Plantard

Inwiefern gibt es Unterschiede, wer von dieser „Handlungsfähigkeit in der digitalen Welt“ profitieren kann?

Höchst beunruhigend ist ein Phänomen, das vor allem bei den Eltern auftritt, insbesondere bei armen, sozial schwachen Eltern in unsicheren Lebensumständen, die Probleme mit der Schule und der schulischen Institution haben. Dieses Phänomen heißt „elterlicher Kontrollverlust“. Mit anderen Worten: In Sachen Technologie erfüllen die Eltern selten ihre Pflicht. Die Kinder werden mit den Technologien und somit auch den Algorithmen völlig allein gelassen. Da ich Bretone bin, nenne ich das den Obelix-Komplex: Unter dem Vorwand, die Kinder wären in den Zaubertrank der Technologie gefallen, haben sie kein Recht mehr auf Erziehung.

Was wäre Ihrer Ansicht nach richtig?

Man muss sie begleiten und aufklären, statt jedes Mal aufzuschreien, wenn es zu Mobbing oder anderen Übergriffen in den sozialen Netzwerken kommt. Gegen den Kontrollverlust hilft nur ein elterlicher und erzieherischer Kontrollgewinn.

Besteht die Gefahr, dass der Distanzunterricht die Ungleichheiten vergrößert?

Das Phänomen ist in der Tat konkret bemerkbar. Selbstverständlich ist es eine Frage der Internetverbindung und Ausstattung. Anhand der Zahlen des digitalen Barometers 2019 wurde bekannt, dass nur 25 Prozent der Familien Computer kaufen und mehrere Geräte besitzen. Das heißt, bei den restlichen 75 Prozent gab es höchstens einen Computer, wenn überhaupt. Außerdem geht der Kauf von Computern zugunsten des Smartphones zurück. Natürlich gibt es bei den Käufen soziale Unterschiede: Die Mittel- und die Oberschicht kaufen Computer, während ärmere Schichten eher das Smartphone bevorzugen und es zur Unterhaltung und Kommunikation, zum Beispiel in den sozialen Netzwerken, nutzen. Zudem muss man sagen, dass die Bekämpfung von Ungleichheiten auch eine Frage der Region und sozialen Bindung, der sozialen Solidarität auf regionaler Ebene, ist.

Gibt es weitere Unterschiede, die die Zunahme der Bildungsungleichheiten erklären?

Es gibt noch einen eher kulturellen Aspekt, nämlich die Distanz der Jugendlichen und Familien zur Nutzung digitaler Technologien. Man muss hier zwischen der tatsächlichen Praxis und der durchschnittlichen Nutzung unterscheiden. Die tatsächliche Nutzung ist individuell und in der Realität  sind wir alle, auch die Jugendlichen, mehr oder weniger weit vom Durchschnitt entfernt. Manche Jugendliche wollen heute nicht auf TikTok gehen, weil ihnen bewusst ist, was dahintersteckt, oder weil das Netzwerk überhaupt nicht reguliert wird. Im Allgemeinen sind Jugendliche aus sozial schwachen, problematischen Familien diejenigen, die „alles mitmachen“. Sie nutzen die digitalen Medien exzessiv und haben daher keine Ressourcen mehr für die Lern- und Schuldimensionen dieser Technologien. Später schaffen sie es nicht, mit einem Textverarbeitungsprogramm einen Lebenslauf zu erstellen. Alle ernsteren, weniger unterhaltsamen Aspekte der Technologien können beträchtliche kulturelle Unterschiede unter den Jugendlichen schaffen. Diese Unterschiede erklären die Zunahme der Bildungsungleichheiten. Die Schule hat große Schwierigkeiten, das zu kompensieren.

Das Thema sozialer Aufstieg … Heute funktioniert das überhaupt nicht mehr.

Pascal Plantard

Was würden Sie sich im französischen Bildungssystem und speziell in Bezug auf das digitale Lernen wünschen? Was würden Sie gern am System verändern?

Die Schulform! Unsere Schulform stammt aus dem 20. Jahrhundert und wurde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr verändert. Sie fördert die sogenannte republikanische Meritokratie, die bis in die 1960er-Jahre funktioniert hat. Je höhere Abschlüsse man hatte, desto besser wurde der berufliche und private Lebensweg. Das Thema sozialer Aufstieg … Heute funktioniert das überhaupt nicht mehr. Wir haben eine sehr hohe Schulabbruchsquote. Wir haben Berufsberatungen, die den Jugendlichen, auch jenen mit höheren Abschlüssen, nicht helfen können, eine Arbeit zu finden, die ihnen wirklich gefällt, usw.

Also Schluss mit den berühmten Eliteuniversitäten und der höheren Bildung?

Wir müssen zu einer weniger elitären Schulform gelangen, bei der die Mittel gerechter unter den Einrichtungen verteilt werden und die auch praktische sowie digitale Kompetenzen von außerhalb der Schule miteinbezieht. Hin zu einer Art Transformation und Öffnung der Schule.

Heute ist klar ersichtlich, dass die Ungleichheiten nicht vom unterschiedlichen Wissensstand der Lehrkräfte herrühren, sondern von ihrer Fähigkeit, das Wissen an Kinder weiterzugeben, die von den schulischen Normen sehr, sehr weit entfernt sind. Die französischen Lehrkräfte gehören zu den am schlechtesten bezahlten in Europa. Frankreich leidet unter einer strikten Abstimmung der Lehre auf der Ebene der Bildungseinrichtungen und einer vielleicht etwas zu zentralistischen nationalen Kontrolle des Ministeriums durch die Rektorate usw. Wir sind nicht bereit für die pädagogische Transformation. Stattdessen müsste man etwas machen, was näher an den Einrichtungen und den Gegebenheiten vor Ort ist, und die Lehrkräfte durchatmen lassen. Und um durchzuatmen, müssen sich die Lehrkräfte untereinander austauschen.

Pascal Plantard Pascal Plantard | © Service Communication, Université Rennes 2 Pascal Plantard ist Anthropologe der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien an der Université de Rennes 2, Universitätsprofessor für Erziehungs- und Bildungswissenschaft und einer der Gründer von GRISE (Groupe de recherche informatique en sciences de l’éducation, dt. „Informatik-Forschungsgruppe der Erziehungswissenschaft“) im Jahr 1986. Als Forscher am CREAD (Centre de recherche sur l’éducation, l’apprentissage et la didactique, dt. „Forschungszentrum zu Erziehung, Lehre und Didaktik“) ist er einer der Leiter des wichtigsten fächerübergreifenden frankophonen Forschungsnetzwerks zur Nutzung digitaler Angebote: des GIS (Groupement d’intérêt scientifique, dt. „Wissenschaftlicher Interessenverband“) Marsouin.

 

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