Preis der Leipziger Buchmesse
Autofiktion als Frage der Form

Dincer Güçyeter bei der Preisverleihung
Dincer Güçyeter bei der Preisverleihung | Foto (Ausschnitt): © Leipziger Messe / Stefan Hoyer

Der Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik geht in diesem Jahr an Dinçer Güçyeter. Sein Buch „Unser Deutschlandmärchen“ erzählt die Familiengeschichte des Schriftstellers, die sich vom Anfang des 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart erstreckt.

Von Carsten Otte

Der Lebensweg dieses Schriftstellers liest sich tatsächlich wie ein Deutschlandmärchen. Unlängst wurde der Dichter Dinçer Güçyeter mit dem renommierten Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. Mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für seinen Debütroman Unser Deutschlandmärchen hat er nun eine der wichtigsten Literaturauszeichnungen des Landes erhalten. Und dieser Erfolg war dem Autor garantiert nicht in die Wiege gelegt worden.

Sohn von Gastarbeiter-Eltern

Dinçer Güçyeter kam 1979 im niederrheinischen Nettetal als Sohn einer türkischen Familie zur Welt, nämlich von Fatma und Yilmaz, die nach Deutschland kamen, um Geld zu verdienen. Gastarbeiter nannte man sie früher, heute spricht man von Arbeitsmigration.

Zwischen gefüllter Lohntüte und Heimatverlust

Güçyeter stellt in seinem autobiografisch grundierten Text sehr bewusst die Frauenfiguren in den Mittelpunkt. Am Anfang tritt die anatolische Nomadentochter Hanife auf, berichtet vom harten, eintönigen Dorfleben und kündigt an, dass sie ihre „schwere Zunge“ schon bald der „Tochter Fatma übergeben“ werde. Womit die nächste Erzählstimme eingeführt ist, die einfühlsam den frühen Tod des Vaters schildert.

Plötzlich geht alles ganz schnell, Fatma wird verheiratet und begleitet den Gatten in ein „Land, wo man das Geld von den Bäumen pflücken kann“. Das kommt Fatma natürlich komisch vor. „Ich weiß nicht“, sagt sie, „so hat man es uns erzählt.“ Wir befinden uns im Jahre 1965, und dank des legendären „Anwerbabkommens“ ziehen immer mehr Menschen aus der Türkei nach Westdeutschland, die sich nicht nur über eine gefüllte Lohntüte freuen, sondern auch mit dem Verlust der Heimat hadern.

Polyphon, skurril und beeindruckend

Der Roman bringt diese zwiespältigen Gefühle in einem „Gastarbeiterchor“ zur Sprache. Der Text ist ohnehin äußerst vielstimmig angelegt. Es gibt Briefe und Gedichte, Dialoge und Gebete zu lesen; auch Familienfotos sind in dem Roman abgedruckt.

Linear können die disparaten Erfahrungen jedenfalls nicht erzählt werden. Diese Autofiktion definiert sich durch die polyphone Form. Die Beobachtungen, die Fatma in Deutschland macht, sind so skurril wie bedrückend. „Die Tage kommen und gehen“, sagt sie. „Die deutschen Nachbarn schenken uns noch mehr Möbel. Ich freue mich besonders über die Puppe. Ihr fehlt ein Bein, das finde ich aber nicht tragisch.“

Leben zwischen alter und neuer Heimat

So unterschiedlich die literarischen Tonfälle in diesem Roman auch klingen, die Familiengeschichte geht klassisch, nämlich chronologisch voran: Bald wird ein Kind geboren, das ebenfalls umgehend zu Wort kommt: „Ich, das Riesenbaby, werde wie ein Gummiball von einem Schoß in den anderen geworfen, sie kneifen mir in die Wangen, werfen mich an die Decke, die einzige Rettung ist, so zu tun, als würde ich schlafen.“

Dinçer Güçyeter erweist sich als Autor mit gutem Gespür für ironische Zwischentöne. Je älter der Erzähler wird, desto fragiler gestalten sich die Familienverhältnisse und desto politischer und pathetischer wird der Text. Unser Deutschlandmärchen beschreibt Identitätskrisen einer Familie, die zwischen einer alten und einer neuen Heimat lebt.

Güçyeter selbst befindet sich in einem Deutschlandmärchen

Es kommt zum Generationenkonflikt, es gibt Streit über die Frage, wie frei Sexualität entwickeln darf. Der Roman ist auch als Klagelied zu verstehen, das den vielen Menschen gedenkt, die es nicht geschafft haben, ein glückliches Leben in Deutschland aufzubauen.

Dinçer Güçyeter hat zur Freude seiner Mutter eine Ausbildung zum Werkzeugmechaniker gemacht. Er beschließt dann mit dreißig Jahren, Dichter zu werden und gründet einen Verlag. Nebenberuflich soll er bis vor kurzem als Gabelstaplerfahrer gearbeitet haben. Das wird er nach dem Preis der Leipziger Buchmesse nicht mehr nötig haben. Der Autor, der sein Leben erzählt, befindet sich mitten in einem „Deutschlandmärchen“.

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