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Kulturerbe online
Wie Lettland in die digitale Zukunft aufbricht

 „Daina-Schrank“ des Volkskundlers Krišjanis Barons
„Daina-Schrank“ des Volkskundlers Krišjanis Barons | © LNB. Foto: Didzis Grodzs

Die Digitalisierung bedeutet für Lettland mehr als nur eine wirtschaftliche Chance. Sie ermöglicht auch, das reiche Kulturerbe des Baltenstaats zu bewahren und für jedermann online zugänglich zu machen.

Von Alexander Welscher

Auf den ersten Blick ist es nur ein simples, unscheinbares Möbelstück – und doch ist es eines der lettischen Nationalheiligtümer: Der berühmte „Daina-Schrank“ des Volkskundlers Krišjanis Barons (1835-1923) ist der größte Schatz der Lettischen Nationalbibliothek. Gut gesichert steht der einfache Holzschrank mit vielen Schubfächern in dem 2014 eröffneten Prestigebau in der Hauptstadt Riga.
 
Dainas sind uralte lettische Volkslieder, die einen tiefen Einblick in die Geschichte, Ethik, Sprache und das Alltagsleben der Letten geben. Barons war der Erste, der die zuvor nur mündlich überlieferten Volkslieder aufschrieb und systematisch erfasste. Der „Vater der Dainas“ notierte die kurzen, meist vierzeiligen Lieder handschriftlich auf mehr als 268 000 kleinen Papierzetteln und ordnete sie akribisch in dem eigens dafür angefertigten Schrank.
 

Kulturelles Erbe bekommt eine digitale Zukunft

In der Nationalbibliothek gehört die Besichtigung des „Daina-Schrank“ zum festen Bestandteil jeder Besucherführung. Seinen Ehrenplatz hat er direkt neben dem Archiv der Lettischen Folkore. Doch längst sind alle Inhalte von Lettlands berühmtestem Möbelstück, die seit 2001 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe zählen, auch schon unter der Adresse www.dainuskapis.lv im Internet zugänglich. Barons Sammlung wurde während des Zweiten Weltkriegs auf Mikrofilm abgelichtet und in den letzten Jahren komplett digitalisiert.  
 
Doch nicht nur die Dainas werden der Allgemeinheit frei zur Verfügung gestellt. Auch sonst legt Lettland viel Wert darauf, dass sein Kulturerbe digital zugänglich ist.  Dadurch sollen sich nicht nur neue Möglichkeiten der Vernetzung und Teilhabe an Wissen eröffnen, sondern auch ein unbeschränkter Zugriff auf kulturhistorisch bedeutende Quellen. Unabhängig von Zeit und Ort sollen diese für den privaten und wissenschaftlichen Gebrauch eingesehen werden können.
 
Bereits vor einigen Jahren wurde dazu ein staatliches Projekt gestartet, das darauf abzielt, bis 2021 mehr als 3 Millionen Seiten Textdokumente, über 100 000 Bilder und gut 500 000 Minuten audiovisuelles Material zu digitalisieren. Beteiligt daran sind der Rat für das digitale Kulturerbe, die lettische Nationalbibliothek, die lettischen Staatsarchive und weitere kulturelle Einrichtungen.
 

Ganzheitlicher Ansatz zur Digitalisierung

Mit dem ehrgeizigen Vorhaben soll ein einheitliches und zentrales Register für digitale Ressourcen geschaffen werden. Orientiert habe man sich dabei auch an Projekten in anderen Ländern. „Die Deutsche Digitale Bibliothek war eine große Inspiration für uns“, sagte der stellvertretende Kulturstaatssekretär Uldis Zariņš im September im Gespräch mit einer Delegation des Deutschen Bibliotheksverbands. Diese informierte sich in Lettland über die Möglichkeiten und Herausforderungen auf dem Weg in die digitale Zukunft.
 
Anfangs seien in Lettland mehrere verschiedene Einzelprojekte für Bibliotheken, Archive und Museen umgesetzt worden. Später wurde die strenge Ausrichtung nach Sektoren abgelöst durch einen ganzheitlichen Ansatz. "Wir haben erkannt, dass es wahrscheinlich effektiver ist, die Digitalisierung übergreifend anzugehen. Deshalb haben wir jetzt nur noch ein Projekt", erklärte Zariņš.
 
Auch die Form der Digitalisierung habe sich gewandelt: Statt der Bewahrung, Verwaltung und Pflege des Kulturguts stehe zunehmend die kreative Anwendung des Digitalisate im Mittelpunkt. Dafür sei wichtig, dass es für alle frei zugänglich und nutzbar ist – sprich: gemeinfrei. Bei Werken aus dem 20. Jahrhunderts gebe es dabei aber noch urheberrechtliche Beschränkungen, räumte Zariņš ein.
 
Unterstützt werden Bibliotheken, Museen und Archive bei der Digitalisierung durch das Zentrum für Kulturinformationssysteme. Die staatliche Institution stellt die nötigen IT-Ressourcen und Benutzerschnittstellen zur Verfügung und betreut verschiedene Datenbanken. Dadurch lassen sich die an verschiedenen Orten und wegen der wechselvollen lettischen Geschichte teils auch im Ausland gelagerten Ressourcen zusammenführen.
 

Breite digitale Langzeitsicherung

Neben einer Kulturkarte Lettlands (kulturaskarte.lv), einen Verbundnetz mit gemeinsamen Katalogen und Informationssystemen für Bibliotheken und Museen in Lettland unterhält das Zentrum auch Portale für digitalisierte Video- und Audiobeiträge des lettischen Rundfunks (diva.lv) und lettische Filme (filmas.lv), die kostenlos gestreamt werden. Enthalten sind ältere wie neue Produktionen.
 
Verknüpft werden die digitalen Inhalte in transnationalen Projekten auch mit Sammlungen anderer Länder wie etwa der Nachbarstaaten Estland und Russland. Und auch in der europäischen virtuellen Bibliothek Europeana (europeana.eu) stehen sie online zur Verfügung.
 
Eingesetzt für die verschiedenen Maßnahmen werden Mittel aus den EU-Strukturfonds. Von 2014 bis 2020 sollen 12 Millionen Euro in die Schatzkammer im Internet investiert werden. Gut die Hälfte davon werde für die Digitalisierung von Dokumenten und Materialen eingesetzt. Der Rest des Budgets ist für die Verbesserung und kontinuierliche Erneuerung der schnelllebigen technischen Infrastruktur vorgesehen, die den digitalen Inhalten und größeren Datenmengen angepasst werden muss.
 

Neue Aufgaben für Bibliotheken

Mit finanzieller Hilfe der gemeinnützigen Stiftung von Bill und Melinda Gates sowie von Microsoft wurden zuvor für alle öffentlichen Bibliotheken in Lettland Computer angeschafft und ans Internet angeschlossen. Damit stiegen auch Nutzerzahlen in den Bibliotheken, die längst mehr Aufgaben als die reine Bücheraufbewahrung übernehmen. Zunehmend wichtiger ist ihre die Rolle als Lernort und Treffpunkt: Mit der Verbreitung elektronischer Medien werden sie öffentlichen Orten, die alle Medienformen in sich vereinen und den Zugang zum Internet, zu sozialen Medien und digitaler Technologie bereitstellen. 
 
Besonders sichtbar wird das in Lettland in der Bibliothek der Universität Lettlands. In dem historischen Gebäude, im dem einst die Familie des Rigaer Bürgermeister Ludwig Wilhelm Kerkovius (1831–1904) lebte und das heute Bücher, digitale Medien und E-Ressourcen beherbergt, wurde 2017 ein Microsoft Innovationszentrum eröffnet. Mit dem ersten Zentrum seiner Art in Nordeuropa sollen durch interdisziplinäre Zusammenarbeit innovative IT-Projekte und die digitale Transformation in Lettland vorangebracht werden.
 
All das geschieht unter dem wachsamen Auge von Krišjanis Barons, dessen Büste im Innovationszentrum auf einem Sockel an der Wand steht. Schließlich haben die Volkslieder auch im Zeitalter der Digitalisierung nichts an ihrer Bedeutung verloren. „Für den Letten bedeuten die Dainas mehr als nur eine literarische Tradition. Sie sind für ihn die Verkörperung des von Vorvätern überlieferten kulturellen Erbes“, schrieb einst die Folklore-Forscherin und spätere lettische Staatspräsidentin Vaira Vīķe-Freiberga.

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