Andres Veiel im Interview
„Ich habe einem Menschen auf den Grund geschaut“

Workshop-Szene: „Viele erwägen, das Land zu verlassen“
Workshop-Szene: „Viele erwägen, das Land zu verlassen“ | Foto: Goethe-Institut Ungarn

Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Ungarn 1956 und heute? Bei einem Workshop mit Jugendlichen in Budapest ist Andres Veiel dieser Frage nachgegangen. Im Interview spricht der Regisseur über die Bereitschaft junger Menschen, sich auf die Vergangenheit einzulassen, über Zukunftsängste und Überraschungen.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Arbeit sehr stark mit politischen, gesellschaftlich brisanten Themen. Was treibt Sie an?

Veiel: Ich kann gar nicht anders. Immer wieder, wenn ich die Zeitung aufschlage, stellen sich mir Themen quer. Ich lese etwas und fange an, mir Fragen zu stellen. Wenn ich von den Antworten, die ich bekomme, nicht befriedigt werde, fange ich an, andere zu befragen. Aus diesen Bergen von Fragen und anfänglich noch eher unbefriedigenden Antworten entsteht dann irgendwann die Notwendigkeit, sich tiefer mit dem Thema zu beschäftigen und ein Projekt zu machen.

Kann Kunst, kann der Film tatsächlich etwas bewirken, die Menschen aufklären?

Unbedingt. Oft bereiten Themen den Menschen nur ein allgemeines Unbehagen, weil sie sehr unkonkret sind. Die Finanzkrise zum Beispiel ist ein sehr komplexes Thema, von der zwar gefühlt eine Bedrohung ausgeht, aber die unkonkret bleibt. Jeder warnt vor etwas anderem. Der Wunsch, mehr zu erfahren, sich mit einem Thema intensiver zu beschäftigen, ist aber bei vielen da. In der Tagespresse löst eine Schlagzeile sofort die nächste ab. Die Kunst ermöglicht dagegen eine nachhaltige Auseinandersetzung mit den Themen. Ich glaube aber, dass das Entscheidende nicht das Kunstwerk selbst ist, sondern der Rahmen, in dem es gezeigt wird, und das, was mit den Menschen passiert, die es gesehen haben. Deshalb ist mir neben der Recherche und der Herstellung von einem Film oder Theaterstück auch immer sehr wichtig, die Werke über eine ganze Zeit zu begleiten. Und im Idealfall irgendwann überflüssig zu werden, weil die Kunst zum Katalysator wird.

Sie waren gerade in Budapest, wo Sie einen Workshop mit Jugendlichen geleitet haben. Man hört ja hierzulande in letzter Zeit nicht viel Positives aus Ungarn. Nationalistische Töne, Beschränkung der Pressefreiheit, Korruption – diese Themen bestimmen die Schlagzeilen. Wie haben Sie das Land kennengelernt?



Für mich war es interessant, das Land aus einer historischen Perspektive anzugehen. Der Aufstand von 1956 hat sich aus friedlichen Protesten entwickelt – bis dann die Panzer vorfuhren und die Demonstrationen mit massiver Gewalt niedergeschlagen wurden. Den Aufstand im Kontext der Gegenwart zu betrachten, wo es bestimmte Parallelen gibt, was Ämterpatronage, den Exodus der jungen Menschen oder die schleichende Enddemokratisierung angeht, war spannend. Wie denken die 16- bis 18-Jährigen heutzutage darüber? Sehr viele haben gesagt, das gehe komplett an ihnen vorbei. Für andere ist es mitten in den Familien präsent.

Und wie nimmt die ungarische Jugend die gegenwärtige Lage wahr?

Viele beobachten mit großer Besorgnis und einer gewissen Frustration die Geschehnisse. Gerade auch viele Studenten erwägen ernsthaft, das Land zu verlassen. Sie sehen nicht nur ökonomisch wenige Chancen für sich, sondern gehen auch auf der Suche nach kulturellen Entfaltungsräumen ins Ausland. Allerdings sind auch unter den Studenten die Meinungen sehr unterschiedlich. Viele entschließen sich wegzugehen, andere wiederum sind empört und sagen: Wenn ihr alle geht, ändert sich erst recht nichts, ihr müsst bleiben. Diese Grundsatzdebatte darüber, ob es nicht eine Verantwortung gegenüber dem Land gibt, ähnelt 1956. Wenn ihr so viel kritisiert, müsst ihr dann nicht grade hier bleiben? Das war auch im Workshop immer wieder Thema.

Was genau haben Sie in diesem Workshop gemacht?

Regisseur Veiel: „Mir ist es wichtig, meine Werke zu begleiten“ Regisseur Veiel: „Mir ist es wichtig, meine Werke zu begleiten“ | Foto: Imre Bellon Anna Lengyel, die den Workshop mit mir geleitet hat, hat im Vorfeld Interviewaufträge an die Schüler, Studenten und die Schauspieler verteilt. Jeder sollte zwei Interviews führen: eines über die gegenwärtige politische Lage, mit Freunden und Klassenkameraden. Und ein Interview mit den Eltern oder Großeltern zum Aufstand von 1956. Nicht, weil sich das in irgendeiner Form miteinander gleichsetzen lässt. Aber die Frage, wie wir zu unserer Heimat, unserem Land, stehen, verbindet die beiden Themen. Genaue Vorgaben zum Interview gab es nicht – Internetsteuer, Bildungspolitik, Medienpolitik, der große Zug der jungen Leute aus dem Land – worüber genau gesprochen wurde, war freigestellt. Diese Interviews waren das Material. Davon ausgehend haben wir dann kleine Spielszenen und Improvisationen erarbeitet und sie am Ende aufgeführt.

Wie hat man sich diese Szenen vorzustellen?

Eine Schauspielerin hatte zum Beispiel Material über eine junge Prostituierte gesammelt. Diese hatte sich 1956 am Aufstand beteiligt und ist zum Tode verurteilt worden. Die Schauspielerin hat aus diesem Material eine Rolle entwickelt und die Jugendlichen, zum Teil erst 16 Jahre alt, haben die Figur dann aus ihrer Sicht weitergespielt. Eine andere Szene ging von einem Mann aus, der seiner Freundin morgens erzählt, wie unzufrieden er ist, was die Studienbedingungen und die Arbeit angeht. Die Freundin nimmt ihn nicht richtig ernst, sagt, es sei doch nicht so wichtig, und küsst ihn aufs Ohr. Und am nächsten Tag ist er weg. Ins Ausland abgetaucht. Dass er nicht ernst genommen wurde, kann eigentlich nicht der Anlass sein. Aber was ist dann der Grund? Die Teilnehmer haben dann improvisiert und aus ihrer Sicht erklärt, warum der Mann das Land verlässt. Interessant war, dass die Jüngeren immer stark den Beziehungsaspekt eingebracht haben, also: Er hat die Frau geschwängert, hatte außerdem zwei Geliebte und dann einfach die Verantwortung gescheut. Nur eine der älteren Schauspielerinnen hat die politischen Gründe genannt. Wir haben beide Seiten mit aufgenommen. Es war mir wichtig, dass ich nicht irgendein Bild von Ungarn von meiner Seite projiziere, es sollte eine offene Forschungsreise sein. Und wenn das Thema Liebe und Beziehung bei einigen im Vordergrund steht, dann sollte das bei der Aufführung auch im Vordergrund stehen.

Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Sehr gefreut habe ich mich über die große Bereitschaft der Teilnehmer, sich einzulassen. Zum Beispiel die 16-Jährige, die vorher gesagt hatte, das Thema 56 sei für sie extrem weit weg, eigentlich könne sie damit nichts anfangen. Und am Ende spielte dieselbe Person mit einer solchen Selbstverständlichkeit und Präzision die Prostituierte, die sich an dem Aufstand beteiligt hat! Sehr berührend war auch der Moment, in dem Anna Lengyel ihre eigene Erfahrung von 1956 und die Bedeutung des Aufstandes für ihre Familie inszeniert hat. Das war ihr eigenes Lebensmaterial, sie hat keine Rolle gespielt. Da wusste ich, ich schaue einem Menschen auf den Grund.



Was, denken Sie, haben die Teilnehmer vom Workshop mitgenommen? Was nehmen Sie selbst mit?

Ich hatte den Eindruck, dass wir den anfänglichen Abwehrradar, was politische Themen angeht, gut überflogen haben und dass alle an dieser Art des spielerischen Entdeckens Spaß hatten. Auf jeden Fall habe ich für mich selbst sehr viel mitgenommen. Auch, weil das eine ganz andere Form ist, in ein Land einzutauchen. Ich lerne da auch sehr viel. Dass es zum Beispiel ausgerechnet die Internetbesteuerung war, die das Fass zum Überlaufen gebracht hat, hätte ich nie gedacht. Ich staune immer wieder, wo der Protest dann eigentlich herkommt. Und wo er nicht ist, obwohl man ihn erwarten würde.

Bei dem Projekt war das Verhältnis zum eigenen Land ein zentrales Thema. Ist das etwas, was auch Sie selbst sehr beschäftigt?

Natürlich. Durch die lange Auseinandersetzung mit der Geschichte der Bundesrepublik und des Dritten Reiches kann ich gar nicht anders, als in all meinen Arbeiten immer wieder von Neuem zu versuchen, dieses Land mit all seinen Merkwürdigkeiten und Andersartigkeiten zu begreifen. Auch den Heimatbegriff hinterfrage ich immer wieder neu. Bei mir selbst beobachte ich den Wunsch nach Wurzeln und gleichzeitig die Schwierigkeiten, wirklich Wurzeln zu schlagen. Von daher ist es gut, immer wieder ins Ausland zu gehen und von außen zurückzuschauen.

Die Fragen stellte Anne Kilgus
 

Andres Veiel (55) ist ein deutscher Regisseur mit Hang zu schweren, historischen Stoffen. Erste Filmpreise bekam Veiel in den Neunzigern für die Dokumentarfilme Balagan und Die Überlebenden. Einem breiten Publikum bekannt wurde der Schüler von Krzysztof Kieslowśki mit der in den Feuilletons hochgelobten Dokumentation Black Box BRD aus dem Jahr 2000. Darin stellt er die Biografien des RAF-Opfers Alfred Herrhausen und des mutmaßlichen Terroristen Wolfgang Grams einander gegenüber. Sein Spielfilmdebüt feierte Veiel 2011 mit Wer wenn nicht wir, einem Film über die erste RAF-Generation.