Pierre Boulez
Der Universalist

Pierre Boulez im Oktober 2008 bei einer Generalprobe des Eröffnungskonzertes der Donaueschinger Musiktage
Pierre Boulez im Oktober 2008 bei einer Generalprobe des Eröffnungskonzertes der Donaueschinger Musiktage | Foto: Rolf Haid dpa / lsw © dpa – Report; picture-alliance / dpa

Deutschland war für Pierre Boulez immer eine Herausforderung. Schönberg, Stockhausen, Darmstadt, Bayreuth ‒ der Komponist und Dirigent aus der Loire-Region in Frankreich hat sich eingemischt und die europäische Musikszene seit den 1950er-Jahren inspiriert, geprägt und vorangebracht. Er starb im Januar 2016, ein Maestro mit Vision.

Es gibt gelernte Dirigenten, die eine unselige Liebe zum Komponieren hegen ‒ so wie Wilhelm Furtwängler, der in seinen eigenen Sinfonien à la Bruckner kein Ende fand. Umgekehrt gibt es gelernte Komponisten, die sich ‒ wie Krzysztof Penderecki oder Hans Werner Henze ‒ vor allem in den Dienst ihres eigenen Werks stellen und sich beim traditionelleren Repertoire vornehm zurückhalten. Pierre Boulez gehört in keine dieser üblichen Kategorien, denn er war professionell auf allen Ebenen: als Komponist, Dirigent, Lehrer, Kulturfunktionär, Studiogründer und Musikorganisator. Und weil er alles mit der Autorität und unbestechlichen Konsequenz des Überzeugungstäters machte, beeinflusste Boulez mit seinem Schaffen das französische Musikleben im 20. und frühen 21. Jahrhundert als dessen wichtigster Vertreter.

Wissenschaft als Ausgangspunkt

Nur den Berufswunsch seines Vaters hat Boulez, der am 26. März 1925 in Montbrison an der Loire geboren wurde, nicht – oder nur zum Teil – erfüllt. Statt zum Naturwissenschaftler zu reifen, studierte er in Paris Musik bei Olivier Messiaen und René Leibowitz, die in besonderem Maße für die Moderne stehen. Für sie galt Musik nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr als Schmiermittel großer Emotionen, sondern als in sich stimmige, gleichsam wissenschaftlich ausgetüftelte Konstruktion, in der jedes Schräubchen sinnvoll, aber nicht unbedingt expressiv war. Wie viele seiner Generation war der junge Boulez von derartigen Ansätzen etwa der Seriellen Musik begeistert, mit dem er nach dem Untergang der Faschisten mit ihrem falschen Pathos auch in der Kunst „reinen Tisch“ machen wollte. Indem er seine frühen Klavierwerke und Ensemblestücke nach mathematischen Proportionsreihen organisierte und von der Lautstärke bis zur Klangfarbe alle Eigenschaften der Töne präzise regelte, beharrte er auf lückenlosem, nur-musikalischem „Sinn“ ‒ ohne Rücksicht auf Erzählerisches oder Rührendes.

Allerdings hat sich Boulez, der Fundamentalist der Seriellen Musik seit Mitte der 1950er-Jahre mehr und mehr auf einen klangsinnlichen, durchsichtigen, ja „französischen“ Stil hinbewegt. Zeitgenössische Poesie kam hinzu, und die beiden Zyklen Le marteau sans maître auf Texte von René Char und Pli selon pli mit Worten seines Lieblingsdichters Stéphane Mallarmé gehören zu den großartigsten Beispielen neuer Vokalmusik. Schönberg est mort, so hatte Boulez 1951 in einem Artikel den Tod Arnold Schönbergs in Los Angeles kommentiert. Jedem anderen hätte man die respektlose Doppelbedeutung dieser Überschrift als arrogant ausgelegt, Boulez nicht, der sich auch sonst nie mit verbalen Spitzen zurückhielt ‒ man denke an das berühmte Spiegel-Interview von 1967, in dem er die Sprengung der bestehenden Opernhäuser als teure, aber elegante Lösung für das neue Musiktheater erwog. 

„Schönberg est mort“

Boulez hatte mit Schönberg est mort den ästhetischen Tagesbefehl ausgegeben, nach dem jeder Traditionalismus rigoros abzulehnen war, selbst wenn er von einem Vater der Moderne stammte. Im Grunde hat er sich daran bis zum eigenen Spätwerk gehalten. Zufrieden war er mit den fertigen Ergebnissen allerdings nur selten. Manche Stücke wie das monumentale, fast unspielbare Streichquartett Livre oder die dritte Klaviersonate wurden nie fertig, andere hat Boulez immer wieder bearbeitet. Für Orchester hat er ohnehin nur wenig komponiert; die immer wieder erwogene Oper wurde so lange hinausgezögert, bis die favorisierten Librettisten Jean Genet und Heiner Müller gestorben waren.

Bei aller Leidenschaft gehörte die Distanz zum Erreichten zu seinen Prinzipien. Und als der Komponist Boulez zu Beginn der 1960er-Jahre in eine Krise geriet, wechselte er kurzerhand das Metier und perfektionierte sein Handwerk als Dirigent, das er in Paris erlernt und später bei Hans Rosbaud und Hermann Scherchen verfeinert hatte. „Wie kann der Mann das alles bewältigen“, wunderte sich der greise Otto Klemperer, der die steile Dirigentenkarriere von Boulez noch registrierte. In geradezu besessener Aktivität wirkte er als Gast- und Chefdirigent in Cleveland, London und New York – bis er sich um die Mitte der 1970er-Jahre wieder Frankreich zuwandte und in Paris das musikalische Forschungsinstitut IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique, deutsch: Forschungsinstitut für Akustik/Musik) und das Ensemble Intercontemporain aufbaute.

Bayreuth und Baden-Baden

Wie als Komponist wollte Boulez auch als Dirigent nicht nur Erfolg haben und das Repertoire kennenlernen, sondern ästhetische Spuren hinterlassen. Sein fantastisches Gehör und sein Verständnis für das Innenleben der Partituren, aber auch sein Protest gegen die klassische Selbstinszenierung des Maestro machen ihn zum Vorbild einer jungen Dirigentengeneration um Simon Rattle, Esa-Pekka Salonen oder Ingo Metzmacher. Dabei hat Boulez in seinen Programmen nicht nur die klassische und heutige Moderne gefördert, sondern auch die Tradition bis zu Gustav Mahler neu gedeutet. 1966 kam er auf Einladung von Wieland Wagner erstmals ins Allerheiligste der Wagnerpflege, nach Bayreuth. Der Jahrhundert-Ring im Jahr 1976 wurde szenisch – in der Regie von Patrice Chéreau – und musikalisch zum Meilenstein eines neuen Wagnerbildes. Seine letzten Auftritte auf dem Grünen Hügel, bei denen er 2004/05 Wagners Parsifal zur Inszenierung von Christoph Schlingensief dirigierte, vereinten Präzision, Klarheit und Klangsinnlichkeit zu einem erfüllten Altersstil.


Pierre Boulez über seine Musik, Quelle: Universal Edition / Youtube

Seine Beschäftigung mit Wagner, Mahler oder Alban Berg macht deutlich, dass Pierre Boulez nie auf die französische Kultur fixiert war. Das deutsche Musikleben der 1950er-Jahre hat ihn geprägt. Bereits 1952 war er zum ersten Mal bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik zu Gast, bis 1967 dort auch als Dozent und Dirigent des Darmstädter Kammerensembles aktiv. Man hörte ihn als Gastdirigenten des Südwestfunk-Orchesters ebenso wie am Pult der Berliner Philharmoniker. Boulez leitete Uraufführungen wie etwa 2008 bei den Donaueschinger Musiktagen und seit ein halbes Jahrhundert lang besaß er ein Haus in Baden-Baden. So erinnert er ein wenig an den Denker und Dichter Heinrich Heine, der einst den Rhein in anderer Richtung überquerte und wie Boulez in sich zwei Kulturen und Mentalitäten zu einem kreativen und explosiven Gemisch vereinte.

Pierre Boulez starb am 5. Januar 2016 in Baden-Baden.

Aktualisiert im Januar 2016, die Redaktion