Oskar Negt
„Das zentrale demokratische Grundvermögen ist die Urteilskraft“

Oskar Negt

In seinem neuen Buch „Der politische Mensch – Demokratie als Lebensform“ bricht der Soziologe und Sozialphilosoph Oskar Negt eine Lanze für die politische Bildung. Hans-Martin Schönherr-Mann sprach für Goethe.de mit ihm über den Zustand unserer Demokratie und die Verantwortung eines jeden Einzelnen für den Zustand unseres Gemeinwesens.

Herr Professor Negt, wie schätzen Sie die heutige gesellschaftliche Lage in Europa ein?

Zerrissen, keine Hinterlassenschaft der marktradikalen Auswüchse des Neoliberalismus ist abgetragen. Es besteht die Gefahr einer Zweispaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Offiziell scheint im Großen und Ganzen alles in Ordnung zu sein; die Rechtssysteme funktionieren einigermaßen; es gibt keinen Wahlbetrug. In der Wirklichkeitsschicht darunter brodelt es jedoch, brauen sich explosive Ängste und Enttäuschungen zusammen. In den Bereichen der Schwarzmarktfantasien der Menschen entwickeln sich Protestenergien, die politische Beteiligung einklagen; das kommt lebendiger Demokratie zu Gute. Aber sie schlagen zunehmend auch nach rechts aus; das vermindert die Lebenschancen einer Demokratie in bedrohlichen Ausmaßen.

Warum sollen sich die Bürger politisch engagieren?

Weil es um ihre eigenen Angelegenheiten geht; der lateinische Spruch tua res agitur (es ist deine Sache, die hier verhandelt wird) trifft keine Gesellschaftsordnung so in ihrem Wesenskern wie die Demokratie; sie ist die einzige politisch verfasste Ordnung, die gelernt werden muss – nicht ein für allemal als klapperndes Regelsystem von Institutionen, sondern immer aufs Neue, alltäglich und in Praktizierung und Wahrnehmung aller Beteiligungsmöglichkeiten, das macht diese Gesellschaftsordnung beschwerlicher als andere, zum Beispiel autoritär oder totalitär organisierte, aber auch befriedigender und durch ausgeglichene Maßverhältnisse sozialer Gerechtigkeit auch friedensfähiger. Es ist deshalb notwendig, Demokratie wieder als eine Lebensform zu begreifen.

Welche Fähigkeiten brauchen sie dazu?

Vor allem den Mut, öffentlichen Gebrauch von der eigenen Vernunft zu machen; die Fähigkeit, dem eigenen Denken mit Argumenten einen öffentlichen Raum zu schaffen, um Konflikte auszutragen. Das zentrale demokratische Grundvermögen ist die Urteilskraft. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich stolz als Wissensgesellschaft tituliert. In der Tat sind die abrufbaren Wissensbestände in einem geradezu beängstigenden Umfang verfügbar; was aber fehlt, ist der Zusammenhang. Das Herrschaftssystem lebt von der Fragmentierung und Zersplitterung unseres Wissens, wodurch eine Wesenserkenntnis der Sachverhalte äußerst erschwert wird. Objektiv zerfällt die Gesellschaft in arbeitsteilig gegeneinander abgedichtete Spezialbereiche, in Realabstraktionen, wie heute zum Beispiel in die Bereiche Produktion und Geldwirtschaft. Also ist die Fähigkeit, Zusammenhang herzustellen, ein bestimmendes Merkmal demokratischer Tugendlehren. Das Grundvermögen eines erfahrungs- und lernfähigen Subjekts, das selbst Fundament der Demokratie ist und Fundamente setzt, ist kritische Urteilskraft.

Kein Mensch wird als politischer Mensch geboren

Wie kann man diese Fähigkeiten fördern?

Durch praktische Beteiligung am gesellschaftlichen Geschehen, durch offene Lernprozesse, die von der Einzelerfahrung ausgehen, dem Besonderen sein Eigengewicht lassen, aber stets in einem Begriff von Welt, als Zielinhalt, verankert sind. Dazu gehören auch organisierte Prozesse der politischen Bildung, indem die Menschen mit ihren beruflichen Kompetenzen gleichzeitig ihre Erfahrungs- und Wahrnehmungsfähigkeit für das Wohl und Wehe des Gemeinwesens erwerben. Kein Mensch wird als politischer Mensch geboren, deshalb ist die Ausbildung politischer und soziologischer Fantasie, die den Möglichkeits-Sinn der Menschen fördert, ein wesentliches Element demokratischer Gesellschaftsverfassungen.

Könnte Erwachsenenbildung als Pflicht nicht eher abschrecken?

Nein. Es gibt in Deutschland über tausend Volkshochschulen, die in ihrem ursprünglichen Sinngehalt ja darauf gerichtet waren, Menschen, neben den normalen Ausbildungskarrieren, soziale und politische Lernprozesse zu ermöglichen, die über den Tellerrand ihrer individuellen Bedürfnisse hinausweisen; gerade heute, wo schnelle Entwertungen des Wissens stattfinden und flexible Haltungen verlangt werden, ist Erwachsenenlernen nicht nur eine Angelegenheit, die man notfalls aus dem Programmangebot auch streichen kann; es ist vielmehr zu einer existentiellen Notwendigkeit geworden. Ich plädiere deshalb für eine Art „Schulpflicht“ von Erwachsenen, die inhaltliche Fragestellungen des Gemeinwesens zur Agenda des Lernens macht.

Politische Bildung, wie ich sie verstehe, fängt in der Familie, den Kindergärten und Kinderläden, den Schulen an; denn Erweiterung von Urteils- und Erfahrungsfähigkeit ist der Zweck solchen Lernens. Das kann nicht früh genug beginnen.

Entfaltung der „rechten Ordnung“

Handelt es sich dabei um eine realistische Utopie?

Ja, so kann man es sehen. Utopie in meinem Verständnis ist nicht der fantastische Gesellschafts- und Weltentwurf, jenseits aller Realität; vielmehr verstehe ich darunter überschreitendes Denken und Handeln, die konkrete Verneinung einer als unerträglich betrachteten Situation und den darauf gerichteten Willen, die Sache zum Besseren zu wenden. Utopie ist etwas absolut Diesseitiges, ein Produktionsprozess, der sich auf die Widersprüche und Konflikte dieser Welt einlässt, aber nie das Faktische zur Norm werden lässt. Martin Buber hat das treffend beschrieben: „Eschatologie bedeutet Vollendung der Schöpfung, Utopie die Entfaltung der im Zusammenleben der Menschen ruhenden Möglichkeiten einer ‚rechten Ordnung‘.“

Wie weit reicht die individuelle Verantwortung?

Sehr weit. Das Vertrauen darauf, dass sich die Dinge entlang eigener Entwicklungslogiken zum Guten wenden werden, ist trügerisch. Die Verantwortung für den Zustand des Gemeinwesens trägt jeder Einzelne. Das war ja, in der Emanzipationsgeschichte des Bürgertums, die gewaltige Spannweite, welche die Beziehung zwischen Bourgeois und Citoyen ausmachte. Wenn der Wirtschaftsbürger den Citoyen ganz aufzehrt, geht die Sorge und die Verantwortung für das Gemeinwesen verloren. Die Figur des Citoyen wieder stärker ins Licht demokratischer Öffentlichkeit zu rücken, war für mich ein wesentliches Motiv, dieses Buch über den politischen Menschen zu schreiben.
 

Oskar Negt: Der politische Mensch – Demokratie als Lebensform, Göttingen, Steidl Verlag, 2010; 585 Seiten. ISBN 978-386521561.