Urbane Räume
Performative Kartografien. Die 20-Forint-Operette

Performative Kartografien_Magazin
Abschluss-Prozession des ersten Bildes "Mókus Maxi" duch den 8. Bezirk | Foto: Fekete Hajnal

Mit Riesen-Eichhörnchen, einer wandernden Straßenuniversität und eigenen nomadisierenden Medien bereiste die 20-Forint-Operette in den letzten zwei Jahren das Straßenmeer in der Budapester Josefstadt und im Leipziger Westen und schaffte einen verknüpfenden Gedankenraum und Ideentransfer zwischen beiden Ländern.

Unterwegssein – Theater an der Grenze zum Aktivismus

Ausgangspunkt für das Budapester Netzwerk „Pneuma Szövetség“ und das deutsche Performance-Kollektiv „Mobile Albania“ ist die Frage nach der Straße als Potenzial eines gemeinsamen Zwischenraums und als Ort aktueller sozio-politischer Transformation. Der Titel 20-Forint-Operette spielt auf Brechts und Weills Dreigroschenoper an, denn die Straßen Budapests gleichen mit den unzähligen Obdachlosen den Imperien Peachums und seinem Bettlerstaat.

Das 20-Forint-Theater ist jedoch kein Theater, das diese Probleme nur ausstellen möchte, vielmehr bezieht es Künstler aus monetären Peripherien in die Arbeit ein, um deren Stimmen auch innerhalb eines Mittelschichtszentrums zu teilen und durch einen gemeinsamen Arbeitsprozess eine eigene, offene Form von Gemeinschaft zu versuchen. Aus weggeworfenen Ideen, Dingen und Orten entsteht ein armes Theater, das den Müll, für dessen Produktion der Mensch ca. 70% seiner Lebensenergie einsetzt, zu leuchtendem Theater umwandelt.

Zwei Kunst- und Theaterkonzepte treffen aufeinander und kreieren gemeinsam einen deutsch-ungarischen Grenzraum, ein Gebiet zwischen beiden Ländern, wo sie sich gemeinsam auf Identitätssuche begeben.

Das junge deutsche Performancekollektiv Mobile Albania, das aus einer gemeinsamen Diplominszenierung von drei Absolventen des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen hervorging, entwickelt im Unterwegssein Arbeitsformen, die sich dem gesellschaftlichen Mobilitätsduktus von Geschwindigkeit und Effizienz widersetzen. Die Verbindung von Theorie und Kunst innerhalb der Arbeit von Mobile Albania gibt dem Projekt seine eigene performative Ästhetik, die aus den weggeworfenen Dingen und Orten die Magie des Theaters auferstehen lässt – und zwar dort, wo sonst eine graue Zementierung gesellschaftlicher Grenzen voranschreitet. Ziel ist es, den gewohnten Alltag im öffentlichen Raum auf andere Bahnen zu bringen und dadurch ein Nachdenken und eine Wahrnehmung auf das uns umgebende Banale zu lenken. Transit-Orte, Brachflächen werden mit mobil-albanischen Straßenritualen in gemeinsame Zwischenräume transformiert. Ein kommuner Spiel-Denk-Raum soll befördert werden, der das Feststehende nomadisieren lässt.

neuma Szövetség wurde 2008 erstmals in Budapest mit dem „Lufthasen“ bekannt, einer geheimen Fabrik, die den Zuschauer als neuen Arbeiter in ein wildes Labyrinth aus Fakten und Fiktionen zur Budapester Luftverschmutzung und zu globalen unsichtbaren Beeinflussungsmechanismen stürzte. Die Gruppe besteht aus einem im 8. Budapester Stadtbezirk ansässigen Kernteam aus Theater-, Performance- und Medienkünstlern, sowie einem wachsenden Kreis an assoziierten Menschen.

Während Mobile Albania ein wanderndes Theater ist, das sich mit immer neuen Orten verknüpft, wandert Pneuma Szövetség vor Ort, speziell im 8. Budapester Stadtbezirk (Josefstadt), und arbeitet am Aufbau eines lokal-internationalen Netzwerks. Dabei werden die Budapester Lebensbedingungen untersucht, so z.B. das Problem der Obdachlosigkeit oder die zunehmende Privatisierung und Segmentierung des öffentlichen Raums. Durch alternative, eigene Medien, offene Werkstätten und Workshops schafft Pneuma Szövetség Vertrauensräume und soziale Performances im weitesten Sinne, die es jedem, der sich während des Prozesses in ihnen einfindet, ermöglichen, ein singulärer Teil des Ganzen zu werden. Ein jeder kann seine eigene Methode und sein individuelles Bedürfnis einbringen und so soll, dem Grundgedanken nach, gemeinsam eine widerständige Utopie einer offenen Gesellschaft entstehen, welche versucht, den Einzelnen jenseits von Normierungen in seinem eigenen Sein und seiner eigenen Stimme zu ermächtigen.

Eine widerständige Straßenfantasie in mehreren Bildern

Im Jahr 2012 wurde ein Politiker-Rieseneichhörnchen gebaut, das der Erzählung der wohnungslosen Schriftstellerin Csilla Horváth entsprang. Die Autorin ist auch als Aktivistin tätig und arbeitet in einem Obdachlosenheim im 8. Stadtbezirk. Die Legende von „Mókus Maxi“ wurde während eines zehnwöchigen Aufenthalts auf einer Brachfläche von obdachlosen Schriftstellern, Nachbarn, Künstlern, experimentellen Musikern und Friseuren weiterentwickelt. Aus ca. 2000 Plasteflaschen, Haaren von öffentlichen Friseursalons und einem recycelten Boot entstand ein mobiles, multifunktionales, vier Meter großes Rieseneichhorn, das als gemeinsames Instrument und Anführer einer theatralen Prozession im Herbst 2012 durch das Straßenmeer des achten Bezirks zog.

2013 folgte der zweite Schritt der 20-Forint-Operette: Die wandernde Straßenuniversität. Das Projekt wurde zum größten Teil durch das Programm „Szenenwechsel“ des Internationalen Theaterinstituts und der Robert-Bosch Stiftung sowie im Rahmen des Programms der Europäischen Kommission „Jugend in Aktion“ gefördert. Da die lokale Bezirksverwaltung das Projekt nicht mehr der Unterstützung wert (da zu kritisch) fand, besetzte das Team den öffentlichen Raum.

Stand 2012 die Schaffung eines Vertrauensraums für eine offene kunstschaffende Gemeinschaft im Vordergrund, so konzentrierte sich die Straßen-Universität auf eine Wahrnehmungsschulung und ein gemeinsames Lernen über den öffentlichen Raum, mittels lokaler Recherchen und performativer Aktionen. Dabei wurden kollektive Produktionsmethoden ausprobiert, die jenseits von vereinheitlichten Großperspektiven die Stimmen und Meinungen des Einzelnen hörbar machen. Mit manch eigenen Schritten hat man den 8. Bezirk auch nach eigenen Gesichtspunkten vermessen. Der Austausch erfolgte über unterschiedlichste Methoden wie kollektive Liedproduktion im „Chorworkshop“ mit dem ägyptischen Protestchorleiter Salam Yousry, das Schreiben einer eigenen Zeitung (Das achte Weltmeer), die Reflektionen bündelt und sichtbar macht, oder über ein Straßenfest, das einen brachen Platz in einen durch die Anwohner gestalteten Raum verwandelt und damit zeigt, dass nicht Millionen Forints nötig sind, um lebenswerten Raum zu kreieren.

Im Herbst 2013 entstand während einer vierwöchigen Projektphase in Leipzig ein neues Performance-Radio-Format, das sich zwischen Diskussion und Performance bewegt, indem die verschiedenen Eigenheiten der Performer nebeneinander bestehen dürfen und kein Konsens hergestellt werden muss. An vier Abenden übertrug das Leipziger „Radio Blau“ die Sendungen live vom Lindenauer Markt aus der selbstgebauten Jurte.

Dabei war besonders ein interkultureller Austausch zwischen deutscher und ungarischer Seite spannend: Kritisch diskutiert wurden z.B. die unterschiedlichen Umgangsweisen mit nationalen Symbolen, Nationalhymnen und Nationalismen in beiden Ländern.

In der Folge wird das Performance-Radio-Format weiterentwickelt und ein neues Projekt zwischen Budapest und Leipzig in Angriff genommen, das ausgehend von den bisherigen Ergebnissen in eine Publikation münden soll.

Die 20-Forint-Operette ist vergleichbar mit einer vielschichtigen, kollektiven Kartografie, die durch verschiedenste Aktionen, Bewegungen und gemeinsame Reflektion versucht, offene gesellschaftliche Räume zu behaupten.