Filmemacher in Ungarn
Die neuen Generationen nach der Wende

Die neue Generation_Magazin
Szene aus dem Film "Weiße Handflächen" | Foto: © Katapult Film

Die politische und ökonomische Wende brachte auch für die Filmindustrie Ungarns einen Wandel mit sich, wobei die Filmkunst der 1990er Jahre durch keine wirklich scharfe Zäsur vom Filmschaffen des vorangehenden Jahrzehnts getrennt war – und zwar vor allem deswegen nicht, weil jene Entwicklungen, die die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der ungarischen Filmindustrie grundlegend veränderten, in den 1980er Jahren bereits voll im Gang waren.

Das gesellschaftliche Sendungsbewusstsein und die mehr oder weniger verschlüsselte Umschreibung der politischen Botschaft verloren dramatisch schnell ihre frühere Bedeutung, und das ästhetische Umfeld des ungarischen Films hat sich ebenfalls verändert. In den späten 1980er Jahren wurden ja nicht nur die Außenwelt, sondern auch die internationale Filmproduktion weitgehend zugänglich, und für den ungarischen Film bedeutete dies nicht nur eine inspirierende Umgebung, sondern manchmal auch eine heikle Vergleichsgrundlage und eine bedrohende Konkurrenz. 

Dennoch konnte in der ungarischen Filmkunst der 1980er und 1990er Jahre die jahrzehntelange Tradition des Autorenfilms fortleben, die mit der Zeit um eine ironische Außenseiterposition bereichert wurde und selbst das behutsame wie auch gewaltsamere Eindringen der kommerziellen Aspekte in das Filmemachen zu überstehen vermochte. So konnte die neue Generation des ungarischen Films, die nach der Wende auf die Bühne trat, um das Jahr 2000 herum sich sowohl auf die längst etablierten Traditionen stützen als auch auf die Marktwirtschaft und den politischen Pluralismus bauen. 

Die Simó-Klasse…

Den Kern dieser neuen, in den frühen 1970er Jahren geborenen Generation bildete die Klasse des Regisseurs und Produzenten Sándor Simó, der 1995 gestartete Filmjahrgang an der Hochschule (heute: Universität) für Theater- und Filmkunst: Dániel Erdélyi, Csaba Fazekas, Gábor Fischer, Diana Groó, Szabolcs Hajdu, Bence Miklauzic, György Pálfi und Ferenc Török. Die Kontakte unter den angehenden Filmemachern blieben zum Teil auch nach Abschluss des Studiums aktiv, dank Sándor Simós Bemühungen durften sie alle schon bald ihren ersten Langspielfilm drehen, so dass ihr Auftritt einen erfrischenden Wind in die ungarische Filmszene brachte. 

Trotz dieses gemeinsamen Ursprungs entwickelten sich die Schüler der Simó-Klasse in verschiedene Richtungen weiter, wenngleich in ihren Arbeiten manche Verknüpfungspunkte nachzuweisen sind. Ein solcher Berührungspunkt, eine gemeinsame Grundlage lässt sich etwa in der Themenwahl und Themenbehandlung erkennen, die auf die Welt der eigenen Kindheit und Adoleszenz, auf die abgeschlossene Epoche des Sozialismus mit Ironie statt Wut reflektiert, in der sicheren Beherrschung der „Retro”-Atmosphäre und im Entwerfen filmischer Bildungsromane nach dem Motto „da kommen wir her” – siehe Dániel Erdélyis Vorwärts! (2002) oder Ferenc Töröks Moskauer Platz (2001). (Wenn man die Handlungszeit in die 1990er Jahre verlängert, lässt sich auch Töröks nächster Film, Die Saison, 2004, hier einordnen.) Aufgrund des gemeinsamen Zugs mal direkter, mal eher nur generationsgebundener bzw. subkultureller autobiographischer Momente können auch Szabolcs Hajdus Filme zu dieser Gruppe gezählt werden, wenngleich die Ausrichtung seiner späteren Arbeiten den filmkünstlerischen Ansätzen von György Pálfi näher steht.

Die Behandlung des menschlichen Körpers als Zeichen erscheint sowohl in Hajdus Weisse Handflächen (2006) als auch in Pálfis grotesk-abstossendem Film Taxidermie (2006), wenngleich natürlich auf verschiedene Art und Weise, als markantes Element. Die Sichtweise, die man in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks als magisch-realistisch bezeichnen könnte, verbindet Taxidermie, wenn auch sehr vage, ebenfalls mit Pálfis brillantem Debütfilm ohne Sprache, Hukkle (2002), sowie mit Hajdus Bibliothéque Pascal (2010), der besonders in der Handhabung filmischer und kultureller Bezugssysteme überzeugt. Ein weiterer Absolvent der Simó-Klasse, Bence Miklauzic, lässt sich mit seinem Ébrenjárók (’Wachwandler’, 2002) eventuell ebenfalls in diese Linie einordnen. 

… und die anderen

Doch auch außerhalb der Simó-Klasse meldeten sich neue Talente, darunter solche, die die üblichen Wege der Filmausbildung in Ungarn gar nicht betraten. Benedek Fliegauf zum Beispiel, der seine Außenseiterposition sozusagen filmisch verarbeitete, indem seine Visionen aus bewegten Bildern die Ahnung der Transzendenz mit der Darstellung einer bedrückend entfremdeten Gegenwart und der vollkommenen Gleichgültigkeit der exzentrischen „Hauptfigur” verbinden (Wildnis, 2003; Dealer, 2004). Die unheimlich suggestive Bilderwelt seiner Filme zeigt mehrere Berührungspunkte mit den Arbeiten von Kornél Mundruczó (Ich habe keine Wünsche, 2000; Delta, 2008), der vom Theater zum Film kam, und bei dem sich der Einfluss des zeitgenössischen Designs am stärksten nachweisen lässt. Mundruczó wählt seine Antihelden ebenfalls vom Rand der Gesellschaft und von der kulturellen Peripherie und baut dabei auf die ungezügelten Affekte und Sehnsüchte seiner zur sozialen Kommunikation unfähigen Figuren. Auch Zsombor Dyga zeichnet in seinen Filmen (Brüderchen, 2003; Alles nur Theater, 2005) die Welt der gescheiterten Existenzen, ihr enges, aus den Filmen und aus dem Leben gleichermaßen genügend bekanntes Milieu nach, seine Versuche mit dem Genrefilm jedoch konnten nur teilweise erfolgreich sein. Auf diesem Weg erwies sich noch Nimród Antal am erfolgreichsten: Von außen zum Film kommend und schließlich in Hollywood landend, kombinierte er in Kontrolle (2003) geschickt den mystischen Thriller mit der auf Lumpencharaktere setzenden Burleske.

Das traditionell stärkste Genre des ungarischen Spielfilms, die Filmkomödie, erreicht ebenfalls in den Arbeiten von Filmemachern ihre bedeutendsten künstlerischen und Publikumserfolge, die nicht zum Kern der neuen Generation gehören. Krisztina Goda etwa studierte in London und importierte von dort das Genre der romantischen, die Ansprüche des Publikums berücksichtigenden Komödie erfolgreich nach Budapest (Sex und sonst gar nichts, 2005), um anschließend in den Genres des Thrillers (Chamäleon, 2008) und des historischen Abenteuerfilms (Freiheit, Liebe, 2006) mehr oder weniger erfolgreiche Versuche zu unternehmen. Einen ähnlich starken Erfolg im Genre der Filmkomödie erreichte Gábor Herendi (Wie in Amerika, 2002; Wie in Amerika 2, 2008), der vom Werbefilm zum Spielfilm kam, sowie der Schauspieler und Regisseur Péter Rudolf, der in seiner Trilogie ein ländliches, trotz seiner Grobheit und Tölpelhaftigkeit oder gerade dadurch sympathisches Milieu nachzeichnete (Der gläserne Tiger, 2001; Der gläserne Tiger 2, 2006; Der gläserne Tiger 3, 2010). 

Die Helden unserer Zeit

Inzwischen artikulierte sich in den späten 2000er Jahren bereits markant eine neue Generation von Filmemachern, deren Mitglieder meist noch von Sándor Simó 2001 in seine Klasse aufgenommen wurden. Nach Simós Tod konnte diese Klasse unter dem gleichermaßen angesehenen Filmregisseur Ferenc Grunwalsky ihre Studien beenden, einige der hoffnungsvollsten Begabungen der letzten Jahre wie Attila Gigor, Ágnes Kocsis und Áron Mátyássy kamen aus dieser Klasse. Gigors erster Langspielfilm, Der Detektiv (2008), kombiniert mit nahezu selbstverständlicher Natürlichkeit den Krimi mit herbem Humor, die Außenseiterposition eines Pathologen mit realistischer Gesellschaftsdarstellung. Ágnes Kocsis’ erste Langspielfilme, Frische Luft (2006) und Adrienn Pál (2010), untersuchen die Welt der Erniedrigten und Beleidigten, der Nichtschönen und Nichtreichen mit ungewöhnlich ernsthafter Intention, und Mátyássy bewegt sich mit seinem ersten Spielfilm Endzeiten (2009), wenngleich mit weniger Empathie, ebenfalls im Bereich der mehrfachen Peripherie. 



Somit sind am Anfang des zweiten Jahrzehnts der 2000er Jahre bereits zwei Generationen von Filmemachern in der ungarischen Filmszene aktiv, die ihre Laufbahn nach der Wende begannen. Indem sie weiterhin auf die traditionell starke Rolle des Autorenfilms setzen, kennen sie sich auch im Bereich des Genrefilms immer besser aus, und dank der zahlreichen markanten Begabungen unter ihnen beweisen sie mit ihren Erfolgen an den internationalen Festivals immer mehr, dass der ungarische Film trotz der Bedrohungen durch Markt und Staat nach wie vor lebensfähig ist.