Ferdinand von Schirachs „Terror“ in Budapest
Entscheidungssituation

Katona Kamra
© Dömölky Dániel

Stellen Sie sich vor: Ein Passagierflugzeug wird entführt und auf ein voll besetztes Fußballstadion zugesteuert. Um die Katastrophe zu verhindern, schießt der Pilot eines Kampfjets in letzter Minute das Flugzeug ab. Er muss sich vor Gericht für sein Handeln verantworten. Seine Richter sind die Theaterbesucher. „Bitte nehmen Sie Ihre Verantwortung ernst“ – so der Vorsitzende Richter an die Schöffen, an uns…

Terror, eine Premiere auf der Studiobühne Kamra des Katona József Theaters in Budapest Ende 2016, gliedert sich in eine wichtige Tendenz des künstlerischen Programms des Theaters ein, nämlich in eine Reihe zeitgenössischer Stücke, die aktuelle Ereignisse in der Welt thematisieren.

Ferdinand von Schirachs Stück ähnelt dem Stück Nordost, das mittlerweile aus dem Programm der Studiobühne Kamra genommen worden ist, in mehrerlei Hinsicht, denn in beiden Fällen handelt es sich um scheinbare Dokumentardramen. Torsten Buchsteiners Stück greift aus den Nachrichten bekannte, wahre Begebenheiten auf (das Geiseldrama im Moskauer Dubrowka-Theater), doch die Figuren, die die Geschichte erzählen, sind fiktiv. Bei Terror ist schon die Ausgangssituation Fiktion (obwohl sich die Geschehnisse durchaus so zutragen könnten): Ein Terrorist entführt eine zwischen Berlin und München verkehrende Passagiermaschine der Lufthansa und nimmt Kurs auf ein vollbesetztes Stadion, in dem sich gerade 70.000 Menschen das Länderspiel Deutschland-England ansehen.

Die Ereignisse arbeitet Schirach im Rahmen einer Gerichtsverhandlung auf. Uns Zuschauerinnen und Zuschauern kommt dabei die Rolle der Geschworenen zu. Unsere Aufgabe ist es, alles aufmerksam zu verfolgen und am Ende anhand des Gesehenen und Gehörten über die Verurteilung beziehungsweise Freisprechung des Angeklagten abzustimmen. Auch in dieser Hinsicht war es eine gute Entscheidung, in Terror keine wahren Begebenheiten aufzugreifen, denn so knüpft sich an den verhandelten Fall kein vorangehendes (eventuell stark emotional geladenes) Wissen, das unser Urteil von Vornherein beeinflussen würde.
 
Im Hinblick auf die Fakten und Ereignisse entbehrt die Verhandlung jeglicher krimiartigen Spannung, es gibt keine unerwarteten Wendungen und die Identität des Täters steht außer Frage. Bereits aus den ersten Sätzen wird klar, was passiert ist: Ein Luftwaffenoffizier hat entgegen seines Befehls die entführte Maschine (mit 164 Passagieren an Bord) abgeschossen, bevor sie in das ausverkaufte Stadion hätte stürzen können. Doch die Ausführlichkeit, mit der der diensthabende Offizier des Krisenzentrums des Luftraumschutzes (Zoltán Rajkai) in seiner Zeugenaussage die Geschehnisse dieser 20 Minuten von der Entführung bis zum Abschuss des Flugzeugs schildert, ist unglaublich fesselnd.
 
Die Gerichtsverhandlung dreht sich um die Entscheidung des Kampfpiloten (Lehel Kovács). Jeder weitere Strang jedoch, der zu anderen Verantwortlichen führen würde, bleibt in dieser Verhandlung außen vor. Das könnte man dem Stück als Fehler ankreiden, wenn nicht eindeutig wäre, dass Schirach nicht mit der Logik von Terroristen-Filmen denkt. Für ihn ist nicht die Aktion, sondern die moralische Fragestellung wichtig, und so bittet er die Zuschauerinnen und Zuschauer, über die Verantwortung eines einzelnen Menschen zu reflektieren.
 

  • Katona Kamra © Dömölky Dániel
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  • Katona Kamra © Dömölky Dániel
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Die Staatsanwältin (Andrea Fullajtár) stellt die Entscheidung des Piloten in einen historischen und rechtlichen Kontext, und argumentiert damit, Leben dürfe nicht gegen Leben abgewogen werden. Der Rechtsanwalt (Béla Mészáros) jedoch beruft sich auf das Prinzip des geringeren Übels: In einem Fall, in dem man nicht richtig handeln kann, müsse jene Lösung gewählt werden, die den geringeren Schaden verursacht. Doch diese Argumentation stellt wiederum das Prinzip jeder Verfassung, nämlich das Recht auf Leben und Würde, in Frage.
 
Der Pilot argumentiert in seiner Aussage damit, der Terrorist habe, als er das Passagierflugzeug in seine Gewalt brachte und auf das Stadion zusteuerte, die Passagiere bereits zum Tode verurteilt. Es ist jedoch nicht diese Überlegung, die den Soldaten in seiner Entscheidungsfindung letztendlich zum Handeln bewegt, sondern jene, dass der Terrorist praktisch die gesamte Maschine zu seiner Waffe umfunktioniert hat, und es deshalb, als Soldat, die Pflicht des Angeklagten gewesen sei, diese Waffe auszuschalten.
 
Die Aussage der zweiten Zeugin jedoch stellt diese Auffassung in ihrem Fundament in Frage. Die Ehefrau eines der Opfer (Judit Rezes) erzählt ausführlich, was sie während des Wartens auf ihren Mann am Flughafen in den Augenblicken der Ungewissheit durchlebt hat und wie sie dann mit der Tatsache konfrontiert worden ist, dass das Flugzeug abgeschossen wurde. Der Angeklagte kann und will sich dieser Dimension nicht stellen, so wie er auch auf die provokative Frage der Staatsanwältin, was er getan hätte, wären seine Frau und seine Tochter im Flugzeug gewesen, keine Antwort geben kann.
 
Die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung am Ende der Verhandlung heben das Problem mithilfe interessanter Gleichnisse auf eine rechtsphilosophische Ebene. Dann wendet sich die Richterin mit der Bitte an uns Zuschauerinnen und Zuschauern, das in der Verhandlung Gehörte abzuwägen und über den Angeklagten zu urteilen. Sie weist darauf hin, dass die Strafbemessung nicht in unseren Kompetenzbereich falle – was die „Geschworenen“, denen nur zwei Möglichkeiten zur Auswahl stehen, möglicherweise erst recht verunsichert. Die Aufführung endet mit der Urteilsverkündung: Nachdem die Stimmen ausgezählt wurden, verkündet und begründet die Vorsitzende die Entscheidung des Geschworenengerichts der jeweiligen Vorstellung.
 
Schirachs Stück fokussiert eine äußerst komplexe Frage – wie eine Sammellinse – in einem einzigen Punkt: Wie weit geht die Verantwortung eines einzelnen Menschen in seinen Entscheidungen? Der in den Argumentationen der Juristen mehrmals erwähnte Kant sagt letztendlich nichts anderes als „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Das heißt, das oberste moralische Gesetz des menschlichen Handelns besagt, dass sich der Mensch als denkendes Wesen innewerden kann, wie er zu handeln hat. Die Hauptfigur von Terror, der Luftwaffenoffizier wälzt die Verantwortung, obwohl er das als Soldat könnte, nicht an die Befehlsgeber ab, sondern nimmt, indem er sich über seinen Befehl hinwegsetzt, die gesamte Verantwortung der Entscheidung auf sich. Er versteckt sich angesichts eines Stadions voller verbrannter Opfer nicht hinter der Rechtfertigung, er habe nur „einen Befehl ausgeführt“, sondern handelt bewusst. Wie er aber mit der Last seiner Tat zurechtkommt, erfahren die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht – diese Abrechnung obliegt nicht mehr einem irdischen Gericht.
 
Obwohl die Sache selbst, in der wir Stellung beziehen müssen, Angst und Beklemmung erwecken könnte, hilft einem der Rahmen, in dem diese Fragen behandelt werden, seine ersten Emotionen hinter sich zu lassen. Denn der Verhandlungssaal ist zugleich ein ritueller Raum, in dem sich die Mitglieder einer Gemeinschaft versammeln, um die Macht des Bösen – des Unbegreiflichen, des Zerstörerischen, des Chaos, der Angst – zu brechen, indem sie gemeinsam die schmerzvollen Geschichten erzählen und besprechen. Es ist schön zu sehen (was außerhalb des Theaters immer seltener wird), dass in der Vorstellung auf der Studiobühne Kamra die Frage, anhand welcher Gesetze eine Gesellschaft ihr Leben ordnet, eine Frage ist, die uns doch noch immer alle betrifft.
 
András Dömötörs Inszenierung konzentriert sich grundsätzlich auf den Text und die darin formulierten Gedanken und moralischen Dilemmata – und dem folgen auch die Schauspielerinnen und Schauspieler. Als Angeklagter verrät Lehel Kovács nicht viel über den Menschen, wir sehen eher nur den Soldaten in ihm, den er überzeugend und stramm verkörpert. Auch Zoltán Rajkais Charakter, der Offizier, ist in erster Linie Soldat, die vom Heer gewohnte mechanische Bewegungsweise färbt auch auf alle seine „zivilen“ Bewegungen und Gesten ab. Aus dieser unbewussten Steifheit tritt er nur dann heraus, als es um seine eigene Verantwortung geht: Hier überkommt ihn eine unermessliche Verlegenheit. Die von Judit Rezes verkörperte trauernde Ehefrau formuliert frei von Affekten die Forderung nach Rechenschaft, die in Hinterbliebenen infolge eines erlittenen persönlichen Verlustes entsteht. Die Staatsanwältin, gespielt von Andrea Fullajtár, repräsentiert durch unerbittliche Strenge und mit großer Disziplin verschleierte Jagdlust die reine juristische Argumentation. Demgegenüber bringt der von Béla Mészáros verkörperte Rechtsanwalt mit seinem zu eng gewordenen Sakko eine gewisse zivile Komponente, Lockerheit und Zwanglosigkeit in diese Militär-Geschichte. Eszter Kiss’ Charakter, die immer aufmerksam zuhörende Richterin mit aufrechter Haltung, steht bis zum Schluss für die Auffassung, man müsse alles genau verstehen, um bei der Urteilsbildung nach bestem Wissen abwägen zu können.