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68er-Bewegung und die Folgen
"Sex als Weg zur Wahrheit"

Heinz Bude
Heinz Bude | Foto: Darwin Meckel

Was bleibt von 68? Der Soziologe Heinz Bude erklärt, weshalb die Agenda 2010 ein Revoluzzerwerk ist, Sex nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat und die Jungen heute mehr Risikofreude zeigen müssen.

Heinz Bude, 63, ist einer der einflussreichsten Soziologen der Gegenwart. Er beschäftigt sich vor allem mit Generationenfragen. Bude hat immer wieder über die Flakhelfer-Jahrgänge und die 68er geschrieben. Gleichzeitig ist er ein profilierter Zeitdiagnostiker, der nachzeichnet, wie ökonomische Bedingungen auf die kollektive Psyche einwirken. In seinem neuen Buch "Adorno für Ruinenkinder" erzählt er von 68ern, die nach den Wirren und dem Werte-Chaos der Nachkriegszeit Orientierung in den Theorien der Frankfurter Schule fanden.

SPIEGEL ONLINE: Herr Bude, was bleibt von der 68er-Bewegung?

Bude: Wenn man die praktische Politik in den Blick nimmt: die Agenda-Politik von Gerhard Schröder und Joschka Fischer. In keinem anderen Land hatten die 68er eine zweite Chance. Die aber haben die beiden Protagonisten der Operation Rot-Grün ergriffen. Nach 68er-Art: Man pfeift aufs Ganze, indem man es verändert. Es gab keine größeren institutionellen Umgestaltungen in der Nachkriegsgeschichte als die von Schröder und Fischer angeschobenen Reformen. Ein Churchill-Moment, ausgerechnet von 68ern.

SPIEGEL ONLINE: Die Agenda 2010, in der viele Menschen den Türöffner für den Neoliberalismus in Deutschland sehen, als 68er-Fanal? Das müssen Sie bitte erklären.

Bude: Natürlich gibt es nicht wenige 68er, die das Projekt ihrer Generationsgenossen als Verrat an den Ideen von 1968 ansehen. Eine neoliberale Arbeitsmarktpolitik, die durch ein emanzipatives Staatsbürgerschaftsrecht kaschiert wurde. Mit geht es um den Ursprung der Kraft zum Bruch. Schröder und Fischer gehören zu den Ruinenkindern der 68er-Generation, so wie ich sie in meinem Buch beschreibe, Kriegs- und Nachkriegsjahrgänge, die als Kinder aus der Kellerperspektive auf die Welt geblickt haben. Nur Ruinenkinder konnten es wagen, die gesellschaftlichen Verhältnisse so aufzumischen.

SPIEGEL ONLINE: Jenseits der Agenda-Reformen stellen Sie den 68ern eine teils bescheidene Leistungsbilanz aus. Die Holocaust-Aufarbeitung, die sexuelle Befreiung, das alles sind für Sie keine Leistungen der 68er. Weshalb?

Bude: Ich wollte keine heroische Geschichte der Durchsetzung von neuen Werten in der Bundesrepublik erzählen. Da waren die Impulse durch die 68er nicht so erheblich. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Vernichtung der europäischen Juden spielt keine große Rolle bei meinen Protagonisten. Es ging auch nicht um Demokratie, sondern um Revolution.

SPIEGEL ONLINE: Die Abrechnung mit der Täter-und-Väter-Generation ist kein 68-Thema?

Bude: Doch, auch. Aber nicht in dem Maße, in dem es ihnen zugeschrieben wird. Die Generation davor, die der Flakhelfer, Leute wie Jürgen Habermas, Joachim Fuchsberger, Hans-Ulrich Wehler oder Paul Kuhn, haben sich viel konkreter mit den Verbrechen des Nationalsozialismus beschäftigt und daraus für ihr Leben etwas abgeleitet. Lakonisch, aber konsequent. Bei den 68ern war das immer theoretischer, abstrakter, letztlich ungreifbarer.

SPIEGEL ONLINE: Was ist mit der sexuellen Liberalisierung?

Bude: Die hatte in Deutschland längst vor 1968 angefangen. Mit Hildegard Knef, mit Beate Uhse, mit Oswalt Kolle. Aber, und das ist dann von einem Flakhelfer-Jahrgangsgenossen aus Frankreich, nämlich Michel Foucault, erfasst worden, bei den 68ern kam es zur Diskursivierung des Geschlechtlichen, sie haben im Sex einen Weg zur Wahrheit gesucht.

SPIEGEL ONLINE: Die 68er, die Sie in ihrem Buch porträtieren, Schriftsteller, Professoren, Frauenrechtlerinnen, wirken bei aller Befreitheit noch immer in ihren Kriegstraumata gefangen. War der kollektive Verlust das prägende Erlebnis der zukünftigen Revolutionäre?

Bude: Mir geht es um die Verletzlichkeit dieser Generation, um ihre empathische Überlastung. Es ist die Generation der Trümmerkinder, die im Alter von vier oder fünf Jahren die Bombennächte erlebt haben. Wie der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann es in einer Erzählung aus den frühen Sechzigerjahren zum Ausdruck gebracht hat: "Wir lebten in der Grube." Die Mutter überfordert, der Vater im Krieg geblieben, als Kriegswrack heimgekehrt oder als Kriegsverbrecher enttarnt.

SPIEGEL ONLINE: Und, so suggeriert der Titel ihres Buches, der große Denker der Kritischen Theorie, Theodor Adorno, wird zum Vaterersatz dieser vaterlosen Generation?

Bude: Nein, eben nicht. Dieser kleine Mann mit den großen Augen war selbst ein Kind, das der Shoah entronnen war. Man ging zu Adorno, verstand nichts, konnte aber alles mitsingen. Adorno war ein Führer durch die Hölle. Kein Licht am Ende, sondern nur das Weitergehen. Diese Schwermut hatte aber etwas Befreiendes.

SPIEGEL ONLINE: Schwermut ist nicht das Wort, das einem in Bezug auf den Aktionismus der 68er einfällt.

Bude: Aber es ist doch der Schlüssel zu ihrem tieferen Verständnis. Es ging in der Nachfolge von Adorno darum, die apokalyptische Grunderfahrung wieder zu erinnern und die absolute Ausweglosigkeit anzuerkennen, um daraus einen existenziellen Mut zu entwickeln. Lesen und Reden wurden zur Überlebenstechnik. Du kannst mutterseelenallein sein, das Wort ist bei dir.

SPIEGEL ONLINE: Aber wie kam man von dieser Einsamkeit zum kollektiven Aufgebehren?

Bude: Adorno hat gezeigt, wie man die Verstrickung in die Verhältnisse akzeptiert und sich zugleich von ihnen befreit. Er machte einen Resonanzraum des Möglichen im Unmöglichen auf. Auf einmal sah man, dass da überall auf der Welt junge Menschen waren, denen es ähnlich ging. In Japan, in Italien, in Berkeley, in Paris. Es war ein Augenblick der Befreiung, alle marschierten los, aber wohin, war keinem so recht klar. Es ging um den Prozess, nicht um das Ergebnis.

SPIEGEL ONLINE: Das Marschieren wurde allerdings auch schnell zum Problem: Ist es nicht tragisch, dass viele aus dieser vaterlosen Generation nach Übervätern suchten, dass sie, statt Adorno zu lesen, Mao-Plakate schwenkten? Woher kam die Sehnsucht nach Autoritäten in dieser antiautoritären Bewegung?

Bude: Das Mutter-Vater-Kind-Dreieck war nach dem Krieg zerstört. Kein Vater, kein Gesetz. Die Suche nach Autorität ging ins Leere. Überfiguren wie Mao, die Vater und Mutter zugleich waren, füllten die Leerstelle. Aber der Ort von Leiden wie von Befreiung war die Gesellschaft. In diesem mysteriösen anderen war etwas zu entdecken, was man in den Familienruinen nicht hatte finden können. Bezeichnend, dass viele zentralen Figuren der 68er, von Rudi Dutschke bis Bernd Rabehl, Flüchtlingskinder waren. Die Erfahrung der Entheimatung schlug bei Dutschke in Sehnsüchte nach der Wiederbeheimatung um. Das hatte bei ihm ja auch etwas merkwürdig Christologisches.

SPIEGEL ONLINE: Da passt es, dass Marx oder Mao wie Bibeln studiert wurden. Woher kam diese Fixiertheit auf das heilige revolutionäre Wort?

Bude: Es gab tatsächlich den Glauben, dass Bücher existieren, in denen die wahre Wahrheit steht. Eine Wahrheit meiner selbst, eine Wahrheit der Welt. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Solch umfassende Bedeutung der Schrift hat es nach 1968 nicht noch mal gegeben.

SPIEGEL ONLINE: Noch einmal also die Frage: Was bleibt von 68? Vielleicht doch eine Anleitung zu Revolte? Nicht alle jungen Menschen empfinden die Folgen der Agenda-Politik als positiv.

Bude: Nein. Die Jungen von heute müssen damit klarkommen, dass es keine Befreiung mehr gibt. 1968 gab es diese Sehnsucht nach Welt, da gab es die Bereitschaft, alles infrage zu stellen. Diese Haltung existiert nicht mehr im Pragmatismus der Gegenwart.

SPIEGEL ONLINE: In einem Ihrer früheren Bücher, "Gesellschaft der Angst", haben Sie schon einmal die Ohnmacht der Jungen angesichts einer unbeherrschbar erscheinenden Gegenwart beschrieben. Aber gibt es heute ein nicht viel größeres politisches Engagement als in den Neunziger- oder Nullerjahren? Ein genaueres Gespür für Ungerechtigkeiten?

Bude: Eher nicht. Es ist ein Engagement ohne Utopie. Um etwas zu gewinnen, musst du auch bereit sein, etwas zu verlieren. Aber dieses Verlieren empfinden viele 20-, 30-Jährige heute als Zumutung. Es geht der Enkelgeneration der 68er um Gerechtigkeit, aber Befreiung ist etwas ganz anderes als Gerechtigkeit.

SPIEGEL ONLINE: Können Sie das für einen gesellschaftlichen Bereich konkretisieren?

Bude: Nehmen wir den Sex, das vielleicht heikelste Thema in Zeiten von #MeToo. Judith Butler, Jahrgang 56 und also eine Post-68erin, hat die erotische Frage zu einer Gerechtigkeitsfrage gemacht. Das ist das Gegenteil der Konfrontationstechniken der 68er. Bei Butler geht es um die Frage, was einem zusteht. Der Mut zum Sein fehlt in diesem Denken. Leidenschaft heißt, sich auszusetzen und nicht zu wissen, wohin sie führt. Das ist 68. Und nicht abmachen, was erlaubt ist.

SPIEGEL ONLINE: Klare Übereinkünfte helfen dabei, Missverständnissen innerhalb der Sexualität vorzubeugen, aus denen sehr überwiegend Frauen als Opfer hervorgehen. Mit Verlaub, in Ihrer Forderung schwingt der Machismo mit, der zum Teil auch bei 68ern verbreitet war.

Bude: Möglicherweise. Aber die sexuelle Praxis der Jüngeren ist allenfalls ein Rauschen der Wünsche im Spiegel der Bedürfnisse.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?

Bude: Die Jüngeren glauben, das Unbestimmte, das einem im Sex, in politischen Aufbrüchen, in der Suche nach sich selbst treibt, in der Definition von "safe spaces", durch die Denunziation von "kultureller Aneignung" oder im Bewusstsein der ungerechtfertigten Privilegien der Geburt verfestigen zu können. Bei Adorno wäre dazu zu lesen, dass das Subjekt, das sich vor allem selbst schützt, indem es sich in absolutem Gegensatz zur Gesellschaft versteht, nur das innerste Prinzip der Gesellschaft, die uns zurichtet, zum Ausdruck bringt.

SPIEGEL ONLINE: Keine Befreiung für die Jungen also. Woher rührt Ihr Pessimismus? Was lief bei den 68ern besser?

Bude: Die 68er sind die letzte Generation mit Kriegserfahrung. Sie wussten: Das Schlimmste liegt bereits hinter uns, der Weltkrieg, der Völkermord. Ab jetzt kann es nur besser werden. Die Weltsicht der Jüngeren lautet: Das Schlimmste kommt noch. Und diese Weltsicht muss man als systematische Handlungshemmung begreifen. Es gibt eine Kultur der Achtsamkeit, aber auch die Angst, sich zu verfehlen.

SPIEGEL ONLINE: Könnten wir von 68 nicht doch lernen, diese Angst zu überwinden?

Bude: Man muss sich auf so was wie die Gestaltungsmacht des objektiven Zufalls einlassen, um den Verblendungszusammenhang, den wir selbst herstellen, zu durchstoßen. Manchmal muss man alles in Frage stellen, auch die Wirklichkeit selbst. Das hat die 68er-Generation sehr erfolgreich getan.

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