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Ballonflucht aus der DDR
„Ein Stoffsack, heiße Luft rein, auf geht's“

Ballon
© Studiocanal

Das ist die wahre Geschichte hinter dem Bully-Herbig-Kinofilm: 1979 flohen zwei Familien im Riesenballon aus der DDR. Sie vernähten 1000 Quadratmeter Stoff und schwebten gen Westen. Dann ging die Flamme aus, das Gas war alle.

Nachts gegen halb eins, eine Waldlichtung beim ostdeutschen Pößneck nahe der thüringisch-bayerischen Grenze. Peter Strelzyk und Günter Wetzel laden ihre Materialien aus dem Anhänger des kleinen Wartburg: die 100 Kilo schwere Ballonhülle, den Flammenwerfer, Propangasflaschen, die selbstgeschweißte Gondel. Das Westradio hatte starken Wind aus Norden gemeldet - optimal für ihren verwegenen Plan.

Die beiden Männer breiten die Ballonhülle aus, füllen sie mit Luft aus dem selbstgebauten Gebläse und werfen den Flammenwerfer an, gespeist mit Propangas. Heiße Luft strömt hinein, langsam richtet der Ballon sich auf.

Die Plattform, auf der sich die Männer mit ihren Frauen Petra und Doris nebst vier Kindern drängen, ist 1,40 mal 1,40 Meter klein. Als einzige Sicherung gegen den Absturz ragen an den vier Ecken 80 Zentimeter hohe Pfosten hoch, mit einer Wäscheleine verbunden.

Beim Start kommt es fast zur Katastrophe: Der Ballon fängt Feuer. Doch per Feuerlöscher gelingt es, blitzschnell die Hülle zu löschen, bevor die Flammen den Traum vom Leben in der Freiheit zerstören können. Dann reißt auch noch eine Stoffkappe oben in der Mitte des Ballons. Und doch steigt der Ballon Meter um Meter.

28 atemraubende Minuten

Eine weitere Schrecksekunde, als Scheinwerfer am Nachthimmel auftauchen. Wurden sie von der Grenzpolizei entdeckt? Der Ballon erreicht etwa 2000 Meter, zu hoch für die Scheinwerfer. Nun hängt alles am Wind. Und am Brenner.

Der geheime Nachtflug im Heißluftballon am 16. September 1979 zählte zu den spektakulärsten Fluchtversuchen seit dem Mauerbau 18 Jahre zuvor. Noch nie war es DDR-Bürgern gelungen, mit einem selbstgebauten Fluggerät aus dem Osten in die Bundesrepublik zu fliehen. Nur selten hatte eine so große Gruppe auf einmal Mauer und Minenfelder überwunden.

Die acht Flüchtlinge aus Thüringen hatten Glück: Der Nordwind blies sie wie geplant in Richtung Freiheit. Allerdings ging die Flamme aus, das Gas war alle. Nur kurz flackerte der Brenner noch, unaufhörlich ging es abwärts, bis die Erde die acht Flüchtlinge wieder hatte. Nach 28 atemberaubenden Minuten landete der Ballon etwas unsanft in einem Waldstück. Als die beiden Männer vorsichtig das Gelände erkundeten, stießen sie auf eine bayerische Polizeistreife. "Die erste Frage, die wir stellten: Sind wir hier im Westen?", erzählte Günter Wetzel kürzlich in der Talkshow "Markus Lanz".

Sie konnten sich nicht sicher sein. Denn einmal waren sie bereits mit einem Fluchtversuch durch die Luft gescheitert, zum Glück blieb die Aktion unentdeckt. Aber diesmal waren die Familien weit genug gekommen - geschafft! Auf einem Feld nahe Naila in Oberfranken zündeten die Männer eine Silvesterrakete, das verabredete Signal für Petra, Doris und die Kinder, die sich zunächst versteckt hatten.

Hohes Risiko bei der Flucht

Der legale Weg, die DDR zu verlassen, hieß "Antrag auf ständige Ausreise" und wurde meist abgelehnt. So blieb für Unzufriedene nur die innere Emigration - oder das "Rübermachen". Die SED nannte es "Republikflucht", darauf stand Gefängnis.

Tausende DDR-Bürger versuchten dennoch Jahr für Jahr den illegalen Grenzübertritt: durch Fluchttunnel in Berlin, mit Surfbrettern und Mini-U-Booten über die Ostsee oder als "Sperrbrecher" mit gepanzerten Lkw durch Grenzschranken - wer in den Westen wollte, musste erfindungsreich und wagemutig sein. Viele Menschen starben beim Versuch, aus der DDR zu fliehen, bis noch kurz vor dem Mauerfall.

Um Stacheldraht, Minen und Selbstschussanlagen zu umgehen, hatte Peter Strelzyk den tollkühnen Plan mit dem selbstgebauten Ballon ausgeheckt. In Günter Wetzel, seinem Freund und Kollegen beim Kunststoffhersteller VEB Polymer in Pößneck, fand er den Verbündeten, den er brauchte.

Nach Feierabend schweißten sie im Keller heimlich die Gondel für das Gefährt zusammen und experimentierten nachts in abgelegenen Waldstücken mit dem Brenner, der den Auftrieb für den Flug über die schwer gesicherte Grenze liefern sollte. Meter für Meter nähten sie mit ihren Frauen und dem ältesten Sohn der Strelzyks riesige Stoffbahnen, gut 1000 Quadratmeter, zu einem 28 Meter hohen und 20 Meter breiten Ballon zusammen.

Ballonflüchtlinge als Leinwandstars

Schon die Materialbeschaffung war äußerst heikel, durfte man doch beim Stoffkauf nicht durch ungewöhnliche Mengenwünsche auffallen - erst recht, nachdem ein Jäger den Ballon eines früheren, gescheiterten Fluchtversuchs im Wald gefunden hatte und die DDR-Behörden die Fahndung nach den Ballonflüchtlingen unter Hochdruck vorantrieben.

Günter und Petra Wetzel stiegen zwischenzeitlich aus, weil sie an den Fluchtchancen zweifelten und die Gefahren als zu hoch einstuften. Doch im Sommer 1979 entschlossen sie sich, wieder mitzumachen. Die Arbeit am nunmehr dritten Ballon begann, und es musste schnell gehen, weil die Volkspolizei den Familien bereits auf den Fersen war.

Diesmal klappte es. Die außergewöhnliche Flucht machte die beiden mutigen Familien zu Stars der westdeutschen Medien; der "Stern" widmete ihnen eine Titelgeschichte. Sogar bis nach Hollywood drang die Kunde. Zwei Jahre später kam die Geschichte weltweit in die Kinos, in der Disney-Version "Mit dem Wind nach Westen". Jetzt hat Michael "Bully" Herbig sie erneut verfilmt. Sein Film heißt schlicht "Ballon" und läuft am 27. September 2018 an.

Wo die Filme enden, ging das Drama im wirklichen Leben noch weiter. Die Geschichte der Strelzyks wurde zum deutsch-deutschen Politikum, als die Stasi Jürgen Dier, einen Freund Peter Strelzyks, wegen "Fluchthilfe" verhaftete. Öffentlichkeitswirksam besuchte der damalige deutschlandpolitische Sprecher der CDU, Eduard Lintner, den Gefangenen; Strelzyk sprach sogar bei Kanzler Helmut Schmidt vor.

Ruiniert durch die Stasi?

Überraschend wurde Dier 1982 aus der Haft entlassen und durfte kurz darauf in den Westen ausreisen. Strelzyk hatte inzwischen in Bad Kissingen ein Elektrofachgeschäft aufgemacht und stellte den Freund kurzerhand ein. Was er nicht wusste: Sein Kumpel war mittlerweile Stasi-Spitzel. Das Ministerium für Staatsicherheit hatte Dier im Knast als "IM Diener" verpflichtet; die Zusammenarbeit war Bedingung für seine Haftentlassung.

"IM Diener" lieferte der Stasi selbst intime Details des Privatlebens der Strelzyks. Und er übernahm auch den Elektroladen, der nach einigen Jahren pleiteging. Wurde er von der Stasi eingeschleust, um sich gezielt am Initiator der Ballonflucht zu rächen? Ruinierte Dier das Geschäft Strelzyks im Stasi-Auftrag? Dieser böse Verdacht drängte sich Peter Strelzyk auf, als er Einblick in seine Stasi-Akte nahm.

Sieben Aktenordner hatten Mielkes Leute zum "Operativen Vorgang 'Birne'" gefüllt. Als Strelzyk sie nach dem Mauerfall durchforstete, warteten weitere schlimme Überraschungen: Als Spitzel auf ihn angesetzt hatte die Stasi auch seine Schwester (IM "Sabine Unger") und seinen Bruder (IM "Klaus Voght"), ob unter Druck oder freiwillig.

Nach DDR-Zusammenbruch und Wiedervereinigung kehrten Doris und Peter Strelzyk Mitte der Neunzigerjahre in ihr altes Haus nach Pößneck zurück. 1999 schrieben sie ihre Lebensgeschichte im Buch "Schicksal Ballonflucht" auf. Am Ende stellten sie sich selbst die Frage, ob sie mit den Erfahrungen von heute die Flucht noch einmal wagen würden. Mit klarem Ergebnis: "Die Antwort heißt uneingeschränkt Ja."

Der Originalballon existiert noch

Günter Wetzel sieht das anders. 1979 schien es so einfach: "Ein Stoffsack, heiße Luft rein, und auf geht's." Inzwischen staunt er über diesen Mut: "Ich bin froh, dass wir uns damals entschieden haben, aber mit dem Wissen von heute würde ich es nicht mehr machen, weil es zu gefährlich war."

Die beiden Familien hatten sich bald nach der Flucht entzweit, ihre Wege sich getrennt. Die Strelzyk waren in den Medien präsent, während die Wetzels sich zurückzogen, um "wieder ein ganz normales Leben zu führen". Eine neue Heimat fanden sie in der Nähe von Hof. Günter Wetzel wurde Kfz-Meister, auch seine Familie wurde von IMs im Westen beobachtet und sollte zur Rückkehr in die DDR bewegt werden.

Erst vor knapp zehn Jahren entschloss er sich, die Geschehnisse aus seiner Sicht auf der Webseite Ballonflucht.de zu schildern - auch weil "vieles falsch dargestellt wurde". So warf er Peter Strelzyk vor, seinen Anteil deutlich zu übertreiben, als habe er "die gesamte Flucht geplant und alles gebaut, uns im Prinzip nur aus Mitleid mitgenommen".

Peter Strelzyk starb im März 2017 mit 74. Günter Wetzel ist heute 63 Jahre alt, ein lebhafter Mann mit Schnauzbart, Glatze, Brille. Er unterstützte Regisseur Michael Herbig jahrelang beim "Ballon"-Film, für den die beiden Ballons nachgebaut und nicht etwa am Computer erschaffen wurden.

Der Original-Fluchtballon existiert noch immer, stand aber nicht zur Verfügung; frisch restauriert soll er ab Mai 2019 in einem Regensburger Museum ausgestellt werden. Die Gondel mit zehn Bahnen des Ballonstoffs ist im Berliner Mauermuseum - Haus am Checkpoint Charlie zu sehen. Es war ein Geschenk der Ballon-Erbauer an die Stadt Naila, die es ans Mauermuseum weitergab. Interesse angemeldet hatten auch ein britisches Museum und ein US-Millionär, aber die Ballongondel sollte nach Berlin, entschied das oberfränkische Städtchen.

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