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Ádám Nádasdy
Heimat und haza

Budapest, XII. Bezirk
Budapest, XII. Bezirk | © Fortepan

Ich hatte einmal ein Essay aus dem Ungarischen ins Englische zu übersetzen, in dem der Autor über Endre Ady schrieb, die Romantik der Heimatdichtung habe ihm ferngestanden: távol állt tőle a heimatdichtungos romantika – das deutsche Wort war mitten in den ungarischen Text hineingewoben. Ich zerbrach mir den Kopf: Wie kann man das auf Englisch wiedergeben? Das Englische ist so anders als die übrigen Sprachen des Kontinents, derartige Begriffe gibt es darin nicht. Ich schrieb dann schließlich: romanticism à la Heimatdichtung – in der Hoffnung, dass das von denjenigen, die über solche Themen lesen, verstanden wird.
 
Das Substantiv Heimat (ungarisch: a haza) ist eine sprachliche Besonderheit des Deutschen, die in dieser Form in den verwandten Sprachen nicht vorkommt. Den Wortstamm Heim (az otthon) gibt es auch in den anderen germanischen Sprachen: im Englischen home, im Schwedischen hem. Aber diese längere Form finden wir nur im Deutschen. Laut Lexika ist die Endung -at (Heim-at) ein altes Wortbildungssuffix und hat etwa die Rolle der ungarischen Endung -ság oder der deutschen -schaft. Somit hätte Heimat also ursprünglich etwa Heim-schaft, heimische Umgebung bedeutet. Dasselbe Suffix verbirgt sich auch in einigen anderen Wörtern: Zier-at (dísz), Arm-ut (szegénység).
 
Das Wort Heimat ist irgendwo in der Mitte zwischen Vaterland und Haus angesiedelt. Vaterland – eigentlich: Land des Vaters – gilt heute schon als entsetzlich gehoben (wie auch seine englische Entsprechung fatherland) und wird – nicht zuletzt als Auswirkung der nationalistischen Propaganda – praktisch kaum noch genutzt. Im Film „Cabaret“ singen die jungen Nationalsozialisten auf einer Waldlichtung nicht von ungefähr: Oh Fatherland, Fatherland, show us a sign… (Oh Vaterland, Vaterland, zeig uns den Weg …). Interessanterweise ist im Ungarischen nie das Wort atyaföld (Land/Erde des Vaters) entstanden. Anyaföld (Mutterboden/Muttererde) ist vorhanden, aber die Bedeutung von föld darin ist nicht Land, sondern Erde, Boden: befogadja az anyaföld (Er wird vom Mutterboden aufgenommen, im Sinne von: Er wird in der Erde bestattet). Und obwohl Heimat auf Ungarisch haza bedeutet, versteht man unter dem Ausdruck Heimatdichtung nicht die hazafias költészet (patriotische Dichtung), sondern eher die volkstümliche, ländliche Dichtung, die von der Folklore inspirierte Literatur. Also muss man sich für die deutsche Übersetzung von hazafias költészet das Wort patriote aus dem Französischen ausleihen: patriotische Dichtung.
 
Im heutigen Deutsch finden wir das Wort Heimat hauptsächlich in der Schriftsprache und in einem einigermaßen amtlichen oder juristischen Schreibstil – zum Beispiel: … die ihre Heimat verlassen mussten … (akik a hazájuk elhagyására kényszerültek). In der Alltagssprache wäre Heimat eher ungewöhnlich; genauso wäre es ja ungewöhnlich, auf Ungarisch zu sagen: Holnap visszautazom a hazámba (Morgen fahre ich in meine Heimat zurück), wenn man ausdrücken möchte: Ich fahre morgen zurück nach Hause. Hierfür benutzt man heutzutage gewöhnlich die Formulierung zu/nach Hause (otthon/haza), oder bei uns (nálunk). Das Wort Heimat las ich oft in der DDR auf riesigen Plakaten und in den Pausen der Fernsehsendung „Meine Heimat: DDR!“ – das war nötig, zumal ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung anders darüber dachte.
 
Die ungarischen Substantive für Heimat sind haza und hon. Haza ist eine alte Wortbildung aus dem Wort ház (Haus); hon entstammt durch Verkürzung dem veralteten honn (odahaza, also zu Hause). Hon wurde im 19. Jahrhundert gerne für Wortzusammensetzungen herangezogen, oft nach deutschem Muster: honismeret (Heimatkunde), hontalan (heimatlos). Geschickt griff darauf der heutige Abkömmling honlap zurück, obwohl dessen deutsche Entsprechungen – Heimatseite oder Heimseite – im Deutschen nicht wirklich Verbreitung fanden. Es scheint, als herrschte im Kreise der Ungarn ein stärkeres Bedürfnis, das Nationalgefühl sprachlich zu bekunden; damit wollte man offensichtlich den Mangel an politischer Selbstständigkeit kompensieren. Deshalb benutzte man das Wort hon auch in Kontexten, in denen im Deutschen das neutralere Land steht: honfoglalás (Landnahme, nicht: Heimatnahme!), honvédelem (Landesverteidigung). Das Substantiv haza ist in der ungarischen Schriftsprache (und beim Verlesen von Nachrichten usw.) auch heute noch vollkommen üblich und gebräuchlich, zum Beispiel im Ausdruck hazánk időjárása, dessen wortwörtliche Übersetzung auf Deutsch ungewöhnlich wäre: das Wetter unserer Heimat. Genauso sagt man im Ungarischen wie selbstverständlich a hazánkba látogató turisták (die Touristen, die unsere Heimat besuchen), hazánk külkereskedelme (der Außenhandel unserer Heimat) usw. Im heutigen Ungarisch ist der Ausdruck hazánk (unsere Heimat) nicht mehr mit dem emotionalen Überschuss aufgeladen, mit dem er im 19. Jahrhundert versehen worden war. Haza ist heutzutage – zumindest auf dem Gebiet der Republik Ungarn – eigentlich ein Synonym für Magyarország (Ungarn), so wie man im Ungarischen mit Olaszország und Itália auch dasselbe Land meint. Ein Fünftel der Ungarisch-Sprechenden lebt in den benachbarten Ländern: Sofern sie den Ausdruck hazánk benutzen, wird das Rumänien, die Slowakei usw. bedeuten, und in diesem Sinne kommt dieser Ausdruck auch in den dortigen Schulbüchern vor. Erwähnenswert ist auch, dass das ungarische Wort ház und das deutsche Haus trotz Ähnlichkeit und derselben Bedeutung nicht miteinander verwandt sind; ihre Ähnlichkeit ist zufällig: Das ungarische Wort entstammt dem finno-ugrischen *kota (kunyhó, Hütte), das deutsche hingegen dem urgermanischen *husa.
 
Die Existenz eines uralten deutschen Wortes zur Bezeichnung eigens von haza Heimat, gebildet aus Heim – ist eine aus dem Germanischen hergeleitete Besonderheit; die anderen europäischen Sprachen kennen kein eigens hierfür verwendetes Wort. In den neulateinischen Sprachen benutzt man in gehobenem Stil verschiedene Formen von patria (also väterlich), während es im Alltag andere Worte hierfür gibt (Italienisch: paese, Französisch: pays, Rumänisch: țară usw.). Für hazánkban (in unserer Heimat) ist auf Englisch fast nur country gebräuchlich – es heißt mit charakteristischer Trockenheit und Distanzierung: in this country. Die russischen Wörter ródina, otéchestvo sind ebenfalls Ableitungen aus rodit’ (gebären) und otéts (Vater). Das Wort Heim ist also ein echter germanischer Germanismus – und Heimat ist ein noch echterer deutscher Germanismus.
 
Mit meinen österreichischen Großeltern sprachen wir Deutsch zu Hause (und nicht: im Heim!). Wir sagten aber: Ge’ ma nach Haus, wenn wir nach Hause wollten, und nicht: Kehren wir heim.

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