Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Interview mit Almut Wagner
Es gibt zunehmend kollektive Strukturen

Almut Wagner
© Sandra Then

Ein Interview mit Almut Wagner Chefdramaturgin und Stellvertretende Intendantin am Münchner Residenztheater.

Im Laufe Ihrer Arbeit begegneten Sie mehrmals dem ungarischen Theater: zunächst als Direktorin der Bonner Biennale und später im Auftrag der Wiener Festspielen kamen Sie regelmäßig nach Budapest, um Aufführungen zu sehen. Derzeit sind Sie Interimsintendantin und Chefdramaturgin am Residenztheater in München, wo im November Eugène Labiches Farce «Die Affäre der Rue de Lourcine» von András Dömötör inszeniert wird. Können Sie uns sagen, warum Ihre Wahl auf den ungarischen Regisseur fiel?

In der Tat hatte ich seit etwa Mitte der Neunzigerjahre das Privileg, das ungarische Theater kontinuierlich verfolgen zu können. Vom ungarischen Theater ging immer eine enorme Strahlkraft aus, sowohl von den prägnanten Regiehandschriften (stellvertretend möchte ich Tamás Ascher, Arpád Schilling und Kornél Mundruzó nennen, leider sind keine Frauen darunter), als auch von den hervorragenden Schauspielensembles in Budapest, aber auch in kleineren Städten. Die Theaterkultur in Ungarn, genauso wie die herausragende Literaturszene, erschien mir immer enorm reich.

Wir, das Team von Intendant Andreas Beck, wurden auf András Dömötör aufmerksam, als wir am Theater Basel waren. Mit Joël László hatten wir dort einen Schweizer Hausautor mit ungarischem Hintergrund, der für uns ein Stück geschrieben hatte. András fiel uns durch seine sorgfältigen, genauen Inszenierungen von Gegenwartsdramatik auf, aber auch mit sehr eigenen Zugriffen auf «klassische» Stoffe – er war nicht nur Regisseur, sondern auch Autor. Das war der Beginn unserer Zusammenarbeit. «Die Affäre der Rue de Lourcine» ist unsere dritte gemeinsame Arbeit. Wir sind sicher: Er wird auch durch diese französische Boulevardkomödie seine ganz eigene Fährte legen, an den Abgründen der dort skizzierten bürgerlichen Gesellschaft seine Freude haben und diese lustvoll auf die Bühne bringen. Dass er Ungar ist, war in dem Fall kein expliziter Beweggrund für uns. Aber natürlich wird diese Tatsache in seine Inszenierung miteinfließen; so wird die Bedienstete in der Familie kein deutsches oder französisches Dienstmädchen sein, sondern ein ungarisches, gespielt vom Ensemblemitglied Barbara Horvath, deren zweite Muttersprache Ungarisch ist.

Wie sehen Sie es: gibt es Erwartungen gegenüber einem/-er ausländischen Regisseur/-in, wenn man bedenkt, dass er/sie mit der deutschen Kultur, den inneren gesellschaftlichen Widersprüchen und Debatten nicht vertraut ist?

Man ist immer auf der Suche nach Künstlerinnen und Künstlern, die ihre eigene Sicht auf Stoffe und Stücke entwickeln, und nicht nur bekannte Ästhetiken und Inhalte des deutschen Theaters reproduzieren. Dafür kann es (muss es aber nicht) hilfreich sein, dass sie aus dem Ausland kommen – aus einer anderen Theatertradition oder aus einem anderen gesellschaftlichen Zusammenhang. Es stellt oftmals einen Gewinn für das Ensemble dar, aber auch für die Arbeit mit der Dramaturgie oder mit den Gewerken, wenn jemand nicht so fest im deutschen Theaterbetrieb verankert ist und lange eingeübte Abläufe vielleicht an manchen Punkten in Frage stellt. Das erzeugt eine Reibung, die durchaus zu Auseinandersetzungen führen kann, aber auch zu Neuem, Glückhaftem für alle Beteiligten. Auf jeden Fall wird ein gegenseitiger Lernprozess angestoßen. Ich beziehe das vor allem auf Strukturen, weil man über die gesellschaftlichen Diskussionen im jeweiligen Land mittlerweile viel besser informiert ist als früher. Ein Beispiel: Ein junger polnischer Dramatiker, Beniamin M. Bukowski, der im ersten Jahrgang unserer neu konzipierten internationalen Autorenplattform Welt/Bühne in München zu Gast war, stieß bei seinen Recherchen auf ein lokales Ereignis: Ein Unbekannter hatte sich vor ein paar Jahren auf dem Marienplatz selbst in Brand gesetzt, die Motive konnten nie klar ermittelt werden. Der Fall war nicht tief ins Bewusstsein der Münchner*innen gedrungen. Bukowski verarbeitete die spektakuläre und bewegende Selbsttötung in einem sehr persönlichen Stück. Es heißt «Marienplatz» und András Dömötör brachte es hervorragend auf die Bühne.

Der Transfer von Stücken aus dem Ausland oder mit einer speziellen Themenstellung verlangt manchmal geradezu, dass man Regisseur*innen aus dem Ausland engagiert, die ein tieferes Verständnis für das haben, was verhandelt wird. Als Beispiel hierfür möchte ich das Stück «Bitches» von Bola Agbaje nennen, ein Zweipersonenstück, das am Londoner Nationaltheatre zur Uraufführung kam. Uns hatte die Dynamik begeistert, konnten es sehr gut im Ensemble besetzen und haben es deshalb übersetzen lassen. Es geht um zwei sehr junge britische Frauen, eine Weiße und eine Schwarze, deren Freundschaft aufgrund u.a. von Rassismus-Erfahrungen auf dem Spiel steht. Es war uns wichtig, einen Regisseur, eine Regisseurin zu finden, die in der Lebenswirklichkeit dieser jungen Frauen wortwörtlich zu Hause ist und diese feinfühlig nach Deutschland übertragen kann. Wir waren sehr froh, mit Philipp C Morris einen Londoner Regisseur engagieren zu können, der diese Aufgabe aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen sehr gut realisieren konnte.

Immer mehr Teams sind aber auch an sich international. Joe Hill-Gibbins, der britische Schauspiel- und Opernregisseur, arbeitet zum Beispiel oft mit Johannes Schütz als Bühnenbildner. Er wollte in seinen Inszenierungen in Großbritannien dadurch etwas «europäischer» sein – im deutschsprachigen Raum arbeiten sie aber ebenfalls zusammen. Es ist eine Wechselwirkung. Das Gleiche gilt für András Dömötör, der sehr oft mit der deutschen Ausstatterin Sigi Colpe arbeitet.

Wie sehen Sie es, was sind die Trends im heutigen deutschen Theater, wie haben sich die Schwerpunkte in den letzten fünf Jahren verschoben?

Das deutsche Theater hat sich in den letzten Jahren zu einem Theater entwickelt, das dezidiert nach neuen Stücken oder Stoffen (Romanen, Filmen) sucht, die die Themen Rassismus, die Genderdebatte und den Kolonialismus untersuchen. Oft entstehen aber keine Stücke mehr im klassischen Sinn mit einer eindeutigen Autorenschaft, sondern Projekte, in denen die Autorenschaft mit der Regie und/oder dem Ensemble übereinstimmt; es gibt zunehmend kollektive Strukturen. Das betrifft vornehmlich die jüngere Generation. Theater ist immer ein Gemeinschaftsprodukt, aber das Bild des Einzelgenies tritt meiner Beobachtung nach immer mehr in den Hintergrund.

Wendet man sich Klassikern zu, werden diese sehr bewusst auf ihre Rollenbilder befragt. Das geschieht durch Überschreibungen, aber auch durch Besetzungsentscheidungen. So ist es mittlerweile Common Sense, dass Peer Gynt, Hamlet oder Faust auch von Frauen gespielt werden können – und umgekehrt: Käthchen (von Heilbronn) von einem männlichen Schauspieler.

Gehen Sie regelmäßig ins Theater oder auf Festivals im Ausland?

Vor der Pandemie bin ich viel gereist. Diese Praxis hat sich geändert. Die Reisen sind seltener und gezielter geworden.

Hat die Kritik in Deutschland einen Einfluss auf Autoren und Publikum?

Indirekt schon. Die Kritik ist allerdings, wie die Theater, auch in einer Umbruchphase. «Sendeplätze» werden immer knapper und sind härter umkämpft. Ich beobachte, dass Kritiker*innen weniger umherreisen und weniger «entdecken» können und somit ihren Fokus verändern müssen. Sie haben nicht nur weniger Platz, sondern auch weniger Zeit zur Vorbereitung. Die genaue Beschreibung des jeweiligen Theaterabends tritt bisweilen in den Hintergrund. Deswegen haben es leise, differenzierte Arbeiten schwerer, besprochen zu werden, als eine, die ganz direkt und laut eine eindeutige Haltung formuliert oder eine sehr spezifische Ästhetik zur Schau trägt.

Ich habe den Eindruck, dass einige Kritiker gerne stärker mitgestalten würden, Einfluss auf politische oder künstlerische Entscheidungen nehmen würden. Aber das ist nicht ihr angestammter Platz – außer bei Festivals wie bei dem Berliner Theatertreffen, wo eine Kritikerjury das Programm auswählt.

Haben Sie einen Rat für junge ungarische Theatermacher/-innen?

Den Rat, den ich nicht nur jungen ungarischen Künstler*innen geben würde: Bleibt bei euch selbst. Stellt eure eigenen Überlegungen an, lest viele alte und neue Stücke. Geht auf Entdeckungen. Überschreitet den Horizont eurer Community. Und seid euch nicht zu schade, unterhalten zu wollen. Was den Theatern fehlt, sind jungen Leute, die Komödie inszenieren wollen und können. Auch und gerade über die Komödie kann man viel von der Welt erzählen.


Das Interview wurde geführt von der Dramaturgin Kinga Keszthelyi.
 
 

ALMUT WAGNER
Studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Romanistik und Soziologie an der Universität Köln. Von 1991 bis 2001 arbeitete sie am Schauspiel Bonn, zuletzt als Dramaturgin und Direktorin des Festivals Bonner Biennale – Neue Stücke aus Europa. 2001 bis 2005 war sie Schauspieldramaturgin bei den Wiener Festwochen (Intendanz Luc Bondy, Schauspieldirektion Marie Zimmermann/Stefanie Carp). Von 2005 bis 2008 war sie geschäftsführende Dramaturgin am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. 2008 bis 2010 war sie leitende Dramaturgin bei den Wiener Festwochen, 2010 zudem Kuratorin der Programmreihe «forumfestwochen ff» und Lehrbeauftragte an der Universität Wien. 2011/2012 bis 2013/2014 leitete sie gemeinsam mit Stefan Schmidtke die Dramaturgie des Düsseldorfer Schauspielhauses. Von 2013 bis 2015 war sie Lehrbeauftragte im Studiengang Schauspiel/Regie an der Folkwang Universität der Künste Essen/Bochum. In den Spielzeiten 2015/2016 und 2016/2017 war Almut Wagner geschäftsführende Dramaturgin der Sparte Schauspiel am Theater Basel. Von 2017/2018 bis 2019/2020 war sie Schauspieldirektorin am selben Haus. Seit Beginn der Spielzeit 2020 ist sie Chefdramaturgin am Residenztheater, seit 2021 auch Stellvertretende Intendantin.
 

Top