Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur
Eine Skizze

In jedem Jahr erscheinen im deutschsprachigen Raum ungefähr 8000 Kinder- und Jugendbücher, darunter 6000 original deutschsprachige Ausgaben. Diese beeindruckende Zahl ist nicht nur Zeichen für die Vitalität der Branche, sondern fordert auch zu einer Standortbestimmung auf: Was zeichnet die aktuelle deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur aus? Welche Charakteristika gibt es, welche thematischen Akzente, Erzählformen und stilistischen Besonderheiten?

Um über deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur zu informieren und ihre Verbreitung im Ausland zu fördern, haben das Goethe-Institut Prag und die Internationale Jugendbibliothek für die Ausstellung „Von allem Anfang an“ 2013 eine gemeinsame Auswahl über die allgemeinen Tendenzen der letzten Jahre getroffen. Die Ausstellung wanderte u. a. in die Slowakei; dann hat das Goethe Institut Polen ebenfalls in Zusammenarbeit mit der Internationalen Jugendbibliothek die Buchauswahl modifiziert. Manche „alte“ Titel blieben erhalten, andere wurden ausgetauscht. Ab Herbst 2015 wird diese Ausstellung - einschließlich von drei schon ins Ungarische übersetzten Werken - in Ungarn gezeigt.

Die Auswahl repräsentiert viele, jedoch nicht alle Entwicklungen der aktuellen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur: Denn das, was die Kinder- und Jugendbuchlandschaft auszeichnet, ist gerade ihr Facettenreichtum: Erstlesebücher und Historienschmöker stehen neben philosophischen Bilderbüchern und komplexen Konzeptromanen. Für jüngere Leser gibt es stapelweise Erzählungen über Pferde, Piraten, Vampire, Elfen oder Engel. Außerdem sind blutrünstige Krimis oder Fantasyromane zu finden. Das spiegelt internationale Entwicklungen wider – Fantasy rangiert weltweit immer noch weit oben auf der Beliebtheitsskala. Doch neben Verkaufs- und Publikumserfolgen weisen viele Länder auch Titel von herausragender literarischer und bildkünstlerischer Qualität auf, die jedoch vielfach nicht ihren Weg nach Deutschland finden. Umgekehrt kann man allerdings ebenfalls nur spekulieren, wo die deutschsprachige Literatur international Impulse zu setzen vermag – so sind Bestseller wie die Bücher von Cornelia Funke auch im Ausland erfolgreich, doch auch einige der mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Titel wie Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ (2010) oder Nils Mohls Roman „Es war einmal Indianerland“ (2011) wurden und werden übersetzt. Während Cornelia Funke mit ihren „Spiegelwelten“ und Ursula Poznanskis Dystopien für das fantastische Erzählen im weitesten Sinn stehen, lassen sich „Tschick“ und „Es war einmal Indianerland“ – trotz ihrer surrealen Momente – unter das realistische Erzählen fassen. Es ist im deutschsprachigen Raum sehr präsent und  bis heute eine feste Größe der Kinder- und Jugendliteratur.
 

Bilderbücher

Bereits das Bilderbuch widmet sich – oft in humoristischer Form – lebensnahen Themen (Familie, Zu-Bett-Gehen), verschweigt aber auch Schwieriges nicht. So behandelt etwa Martin Baltscheit in „Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor“ (2010) das Thema Demenz: Die tierischen Protagonisten sorgen bei dem durchaus nicht einfachen Thema für einen Verfremdungseffekt, zugleich schlagen sie den Bogen zu einem literarischen Vorbild wie der Fabel. Generell ist im Bilderbuch oft der Wunsch spürbar, sich mit der künstlerischen Tradition auseinanderzusetzen: Häufig werden beispielsweise bekannte Märchen neu interpretiert und in ambitionierter künstlerischer Form neu umgesetzt. Nicht explizit auf bekannte Texte beruft sich hingegen Einar Turkowski. Er gestaltet vielmehr sein ganz eigenes Universum. Seine präzisen, nur mit Bleistift gezeichneten, surrealen Bildwelten spielen mit allen Nuancen zwischen Schwarz und Weiß und entwickeln mit großer narrativer Kraft Welten zwischen Traum und Wirklichkeit– so auch in der Parabel „Der Rauhe Berg“ (2012). Wie Turkowskis Bilderbücher, die sich an Menschen jeden Alters richten, ist auch Nadia Buddes Bildergeschichte „Such dir was aus, aber beeil dich!“ (2009) ein Buch mit einem offenen Adressatenentwurf: Nadia Budde erinnert sich an ihre eigene Kindheit, die trotz ihrer Einzigartigkeit auch etwas Allgemeingültiges und Zeitloses hat.

Erzählte Geschichten

In der erzählenden Literatur für Kinder und Jugendliche findet man einerseits klar definierte „Zielgruppentexte“, oft relativ einfach gestrickte Problemliteratur über Mobbing, Essstörungen oder Scheidung. Andererseits gibt es Geschichten, die keineswegs banal daherkommen. Verhandelt werden in literarisch anspruchsvoller Form Krankheit, Tod, Suizid, dysfunktionale Familien, schwierige Freundschaften und komplizierte Liebesgeschichten. Auch Zeitgeschichtliches wie die Shoah wird weiterhin thematisiert. Darüber hinaus werden – auf der Basis wahrer Geschichten oder in fantastischen Welten verortet – gesellschaftliche, soziale oder ökologische Inhalte diskutiert. Hier kann die zeitdiagnostische Kritik teils sehr plakativ, teils aber auch eher vage erscheinen. Dennoch wird eine abstrakte Problemdebatte selten geführt, stattdessen steht das Erleben der Protagonisten im Mittelpunkt, um Erfahrungen nachvollziehbar zu machen und Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen. Ernsthaft, komisch und lakonisch erzählt Rolf Lappert in „Pampa Blues“ (2012) von dem 16-jährigen Ben, der sich um seinen dementen Großvater kümmern muss. Hier wird – und das ist Charakteristikum vieler Jugendbücher – die Schwere durch Witz, (Selbst-)Ironie, Situationskomik und Reflexion gebrochen. Komik und Witz spielen in Mirjam Presslers „Ein Buch für Hanna“ (2011) keine Rolle: Der Roman über ein jüdisches Mädchen und seine Odyssee durch das von den Nationalsozialisten terrorisierte Europa erreicht durch die Kombination von personalem Erzählen und inneren Monologen eine eindrucksvolle Intensität, die den Leser unmittelbar berührt.

Verschiedene Erzählstimmen kombiniert auch Reiner Merkel auf virtuose Weise. Sein seitenstarker Roman „Bo“ (2013) verwebt die Anfänge eines Coming-of-Age-Prozesses mit einem Familien-, Gesellschafts- und einem Reiseroman. Neben der thematischen Vielfalt ist es daher insbesondere die Darstellungsweise, die in ambitionierten jugendliterarischen Texten auffällt: So finden die Autoren nicht nur eine sehr poetische Sprache, die nicht aufgesetzt oder anbiedernd, sondern authentisch wirkt. Vielmehr lassen avancierte narrative Formen wie polyperspektivisches Erzählen und die Kombination mehrerer Erzählmuster und Genres offene Texte ohne absoluten Wahrheitsanspruch entstehen, die zu mehreren Lesarten auffordern und gleichermaßen an eine intellektuelle wie auch eine emotionale Ebene appellieren. Die Hauptfigur „Anders“ in dem gleichnamigen Roman von Andreas Steinhöfel (2014) steht in der Tradition des „fremden Kindes“, was Anders’ Umfeld ebenso wie den Leser verstört. Steinhöfels Roman ist ein Beispiel par excellence für das Erzählen von Momenten, in denen alles durcheinander gerät – auch „Tschick“, „Es war einmal Indianerland“ und Tamara Bachs Roman „Marienbilder“ (2014) reihen sich hier ein: Protagonisten (und Leser) werden so zur Justierung bisher gültiger Auffassungen aufgefordert und zu einer Auseinandersetzung mit ihren Sehnsüchten und Ängsten gezwungen. Die sprachliche Gestaltung und die Erzählkonstruktionen reflektieren die Verunsicherung durch unzuverlässige Erzähler, Leerstellen und eine inkohärente, episodische Form. Der Wert der Sprache und das Erzählen selbst werden textimmanent reflektiert, wenn die Frage nach der Macht, aber auch den Grenzen der Sprache gestellt wird.

Erzieherische Elemente

Während Romane wie „Marienbilder“ oder „Anders“ hochkomplexe Texte sind, die Vergleiche mit der sogenannten Erwachsenenliteratur nicht zu scheuen brauchen und die somit die „klassischen“ Kategorien von „Jugendbuch versus Erwachsenenbuch“ aufweichen, gibt es noch viele Texte mit einem deutlichen Adressatenbezug: Oft vermeiden sie inhaltliche wie ästhetische Vagheit, Polyvalenz und Irritation und formulieren stattdessen aus einem Harmonisierungsstreben heraus Handlungsanweisungen und Botschaften, was ihren ästhetischen Mehrwert schmälert. Das erzieherische Moment, mit dem Kinder- und Jugendliteratur immer korreliert wird, drängt (wieder) in den Fokus – und nicht allein in den Texten selbst, sondern auch in den Texten über Kinder- und Jugendliteratur. Die Frage danach, was Kinder- und Jugendliteratur soll, kann und darf, scheint heute so virulent zu sein wie schon lange nicht mehr. Zeiten wie diese, in denen alles aus den Fugen zu geraten scheint, fordern auch die Kinder- und Jugendliteratur heraus. So sieht sich gerade das deutschsprachige Jugendbuch derzeit in einer nicht ganz einfachen Situation.

Demgegenüber hat das erzählende Kinderbuch in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt. Lange galt es als schwieriges Segment, obwohl es in den deutschsprachigen Ländern eine etablierte Riege talentierter und erfolgreicher Kinderbuchautoren und -autorinnen gibt: Stetig präsent ist beispielsweise Jutta Richter, die in „Helden“ (2013) eine Geschichte über Schuld und falschen Ruhm erzählt. Um Wahrheit oder Lüge geht es auch in Ulrich Hubs „Füchse lügen nicht“ (2014). Hier präsentiert Hub mit viel Sprach- und Situationskomik eine aberwitzige Geschichte, die gekonnt mit literarischen Vorlagen wie auch Lesererwartungen spielt. Den Leser herausfordern – das tut auch Susan Kreller mit „Elefanten sieht man nicht“ (2013): Das Buch stellt eine kompromisslose Heldin in den Mittelpunkt, die als empathische und reflektierte Beobachterin die Scheinheiligkeit und Feigheit der Erwachsenen entlarvt. Wie Susan Krellers Roman ist auch Martina Wildners „Königin des Sprungturms“ (2013) zwischen Kinder- und Jugendliteratur angesiedelt: Der Text, im Milieu des Hochleistungssports spielend, inszeniert den Emanzipationsprozess seiner Protagonistin wie den perfekten Sprung vom Zehnmeterbrett und verknüpft auf diese Weise überaus gekonnt Inhalt und Form.

Seit 2010 gute Jahre

Insgesamt waren die Jahre ab 2010 gute Kinderbuchjahre: Milena Baisch und Elke Kusche veröffentlichten 2010 „Anton taucht ab“, Finn-Ole Heinrichs und Rán Flygenrings anarchischer „Frerk, du Zwerg!“ und Salah Naouras „Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums“ erschienen 2011. Die Bücher kann man durchaus in der Nachfolge eines so erfolgreichen Romans wie „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ (Steinhöfel, 2008) sehen; sie bestechen durch ihre Situationskomik, ihre originellen und skurrilen, bisweilen auf der Grenze zum Grotesken balancierenden Einfälle.

Letztlich handeln die Geschichten jedoch von der Selbstbehauptung und Standortbestimmung der Helden im Koordinatensystem von Familie und Freunden, eigenen Wünschen und fremden Erwartungen. Dass in diesen drei Büchern die Protagonisten Jungen sind, hat exemplarische Qualität und respektiert die Helden-Fixiertheit männlicher Leser. Gleichzeitig bietet es aber auch Platz für eine ironische Auseinandersetzung mit Männlichkeitsidealen und Rollenmustern – was der spürbaren Tendenz, Bücher zunehmend und dezidiert „geschlechterkonform“ zu konzipieren, einerseits aufnimmt, andererseits aber auch hinterfragt.
„Anton taucht ab“ und „Frerk, du Zwerg!“ nutzen geschickt ihre typografischen und bildkünstlerischen Möglichkeiten; generell kann man von einer hohen Popularität des visuellen Erzählens sprechen: Graphic Novels stehen nicht nur hoch im Kurs, oft gelingt es ihnen auch, bekannte Themen neu akzentuieren. Sie verleihen Inhalten buchstäblich ein neues Gesicht und sprechen den Leser auf andere Weise an, als rein verbal verfasste Texte es könnten.
 

E-Books für Kinder und Jugendliche

Nach wie vor werden die meisten Bücher in traditioneller Papierform publiziert. Allerdings findet man besonders im Jugendbuch, jedoch auch mehr und mehr im Kinderbuch parallele E-Book-Ausgaben. Apps gewinnen darüber hinaus im Bilderbuchsegment zunehmend an Bedeutung. Neben rein digitalen Formaten startete 2014 beispielsweise der Carlsen Verlag mit „LeYo. Die erste Multimedia-Bibliothek für Kinder“ den Versuch, analoge und digitale Welt miteinander zu verzahnen: Die mit einem multimedialen Mehrwert ausgestatteten Bilderbücher lassen sich „einfach so“ ansehen, mit dem Smartphone können jedoch weitere Elemente der Geschichte entdeckt werden. Ohne das Buch funktioniert die App hingegen nicht.

Abschließend kann man festhalten, dass die Vitalität des deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchs sich nicht allein in der großen Zahl von Neuerscheinungen ausdrückt. Zwar gibt es einerseits die klare Tendenz, Bücher für bestimmte Ziel- und Altersgruppen zu produzieren und dabei Botschaften und Handlungsanweisungen zu geben. Andererseits ist jedoch ebenso das Bestreben spürbar, starre Kategorien zu durchbrechen. Gerade in jenen „Zwischenwelten“ entstehen oft Bücher von hoher ästhetischer Qualität, die keine Scheu vor schwierigen Themen haben und die bestrebt sind, eine neue Bild- und Formsprache zu entwickeln. 


Ines Galling
www.ijb.de