Theater und Gastronomie – Doppelinterview mit Rodrigó Balogh und Barbara Tonté
Gesunder Körper, gesunder Geist

Rikárdó kifőzött valamit … unter diesem Titel fand am 28. Oktober 2017 in Organisation des Goethe-Instituts eine ausgesprochen vielseitige Veranstaltung rund um die Themen Kulinarik, Mode und Kultur im achten Budapester Bezirk statt. Wir haben uns ein paar Tage zuvor mit zwei Teilnehmenden des Events unterhalten, dem Regisseur des Independent Theatre Hungary, Rodrigó Balogh, und einer der Ideenschöpferinnen von Romani Gastro, Barbara Tonté.

Sowohl die Gastronomie als auch das Theater können als Genres bezeichnet werden, in denen es nicht selbstverständlich ist, dass das Schaffen auch die peripheren Gesellschaftsschichten erreicht. Euch beiden liegt das Bestreben am Herzen, ein möglichst diverses Publikum in den Schaffensprozess einzubeziehen. Wie sehen eure diesbezüglichen Erfahrungen aus?

Rodrigó: Beim Theater schadet es manchmal nicht, ein Publikum zu haben. Wir finden die Praxis „Zuschauer kauft Karte, wirft sich in Schale, kommt ins Theater, schaut unser Stück an und geht wieder nachhause“ nicht besonders spannend. Wir haben deshalb überlegt, was wäre, wenn wir diejenigen, die keine Möglichkeit haben ins Theater zu gehen, nicht ausschließen würden. Und das meine ich nicht im existenziellen Sinne, sondern da denke ich zum Beispiel an eine junge Mutter mit Baby, an Hundebesitzerinnen und -besitzer oder auch Raucherinnen und Raucher. Die klassischen, etablierten Theaterhäuser grenzen eine Menge Leute aus. Und genau hier möchten wir ansetzen, genau diese Richtung interessiert uns schon sehr, sehr lange. Übrigens ist das auch eine Marktnische, denn bestimmte Gruppen, wie jene, die ich gerade aufgezählt habe, werden im Allgemeinen nicht erreicht.

Barbara Tonté © © Kövesdi Réka Barbara Tonté © Kövesdi Réka
Barbara: Wir haben viel dafür gekämpft, die Roma-Gemeinschaften zu erreichen. Am Anfang war es schwierig, da haben wir nur bei ein paar Veranstaltungen anlässlich des Internationalen Kinderstages gekocht. Dann kam mit dem Projekt Masina Mesék 2015 der Durchbruch, das war damals ein gemeinsames Projekt mit Zsófi Mautner, Romani Design und euch (Roma Press Center). Mir ist das unheimlich wichtig, auch ich lebe von meinen Erlebnissen. Genau wie beim Independent Theatre Hungary funktioniert auch unsere Arbeit nur dann, wenn sie von persönlichen Erlebnissen genährt wird. Die „Hausfrau“ gewährt Einlass in ihre Küche und erwartet einen schon mit Schnitzel und Essiggurken – das sind nicht die Dinge, die mich in erster Linie interessieren. Die Herausforderung für uns besteht darin, den Menschen Geschichten zu entlocken, die nicht unbedingt angenehm sind. Im Komitat Baranya hat mir jemand zum Beispiel (aber erst nach einer gewissen Zeit) erzählt, dass während der Hungersnot Füchse gegessen wurden, da man sonst an nichts herankam. Die Gastronomie ist eigentlich eine sehr intime Sache, es geht nicht unbedingt darum, wie man zu Feiertagen glücklich zusammengesessen ist und gut gespeist hat. Die wirklich guten Geschichten bekommt man erst zu hören – und das sind ganz besondere Momente –, wenn sich der Mensch öffnet.

Geschichten, die unter die Haut gehen, finden sich auch im Theater.

Rodrigó: Ja, unser Stück mit dem Titel Tollfosztás zum Beispiel war ein Riesenerfolg. Es ist ungefähr sieben Jahre lang in unterschiedlichen Formen gelaufen. Ursprünglich war es ein Begabtenförderungsprogramm, an dem sechs Jugendliche teilgenommen haben. Nach dem Theaterstück kam der Film, mit dem waren wir bei mehreren Festivals, dann wurde daraus eine Unterrichtsmethodik entwickelt und Workshops zusammengestellt. Dazu gibt es eine interessante Geschichte. Im Stück reißt ein junger Mann aus Sajókaza auf seinem Heimweg einen Apfel von einem Ast, der über den Zaun ragt, bekommt dabei jedoch einen tödlichen Stromschlag, da der Hausbesitzer das Rasenstück vor dem Zaun unter Strom gesetzt hat. Diesem Beispiel folgen dann auch die anderen Hausbesitzer, doch eines Tages wird versehentlich die Ehefrau des einen von der Stromfalle getötet. Wir haben dieses Stück nach Sajókaza gebracht. Das Kulturhaus war voll. Nach der Vorstellung gab es ein Gespräch, und das war auch absolut notwendig. Sowohl auf der Roma-Seite als auch der Nicht-Roma-Seite waren die Wogen hochgegangen, doch wir konnten die Gemüter so weit beruhigen, dass die Anwesenden einander am Schluss die Hand reichten. Eine Entschuldigung wurde zwar nicht ausgesprochen, auch große Versprechen wurden nicht geleistet, aber zumindest einen Handschlag gab es.

Rodrigó Balogh © © RSK Rodrigó Balogh © RSK
Barbara, bei deiner Arbeit geht es ja auch nicht ausschließlich ums Kochen.

Barbara: Unser Ziel war es von Anfang an, meinungsbildend zu sein. Wir haben eingesehen, dass die Mehrheitsgesellschaft die Roma auf drei Hauptgebieten anerkennt: Musik/Tanz, Kulinarik und vielleicht noch beim Sport. Ich beschäftige mich seit elf Jahren mit Roma-Angelegenheiten, und ich habe genug davon, dass so viel Geld in Projekte gesteckt wird, die weder die Roma-Gemeinschaften noch die Mehrheitsgesellschaft richtig erreichen. Worauf ich jedoch sehr stolz bin, ist, dass wir es bereits öfter aufs Titelblatt geschafft haben und so unsere Botschaft mehrere Zehntausend Menschen erreicht hat. Natürlich handelt es sich auch hier um eine Marktnische, schließlich ist die Gastronomierevolution gerade in vollem Gange, was ein perfekter Anlass ist, den Menschen auch die Roma-Küche schmackhaft zu machen.

Gibt es denn überhaupt eine eigenständige Roma-Küche?

Barbara: Die Mehrheitsgesellschaft versteht unter der Roma-Küche das unglaublich reiche Speisen-Repertoire, das sich die Roma-Musiker im Gastgewerbe angeeignet haben, und nicht die arme Küche, die für die Roma-Siedlungen charakteristisch ist. Ich denke selbst sehr oft darüber nach, was ein Gericht zu einem Roma-Gericht macht, aber ich komme immer zu derselben Antwort, nämlich, dass ich es zubereite. Wie genau die Roma-Küche aussieht, das kann man nicht eingrenzen, denn das variiert von Gemeinschaft zu Gemeinschaft. In vielen Fällen spielt auch der Faktor Geld eine große Rolle. Eindeutig typisch für die Roma-Küche ist aber, dass sehr einfallsreich und aus sehr wenigen Zutaten gekocht wird. Charakteristisch sind außerdem der Einsatz von offenem Feuer und die Kosteneffizienz.

Ihr habt mehrere Stücke, die mit der traditionellen Form brechen und Interaktivität vom Publikum fordern. Wie läuft in solchen Fällen der Schaffensprozess ab?

Rodrigó: Das ist Teamarbeit. Die Zusammensetzung des Teams ändert sich ständig, abhängig davon, was für Persönlichkeiten es für die Umsetzung der jeweiligen Idee braucht. Wir arbeiten nicht mit Profi-Schauspielerinnen und Schauspielern. Wir sind eine Gruppe von Freunden, die sich gelegentlich auch unter einem anderen Vorwand als der Arbeit trifft. Das kommt eigentlich sogar ziemlich häufig vor. Als unser Probenraum zum Beispiel in der Váci utca in Budapest war, fungierten wir – wie ein Freund von mir es formulierte – als „Erwachsenentagesstätte“. Es gab Essen, Trinken und gute Gesellschaft, darauf konnte man sich verlassen, und so ist das bis heute. Da kommen eine Menge Geschichten und Ideen zusammen. Später stellt sich dann heraus, welche davon funktionieren und welche nicht. An manchen Dingen arbeiten wir monatelang, um dann feststellen zu müssen, dass sie sich höchstens fürs private Kämmerlein eignen. Uns ist der Prozess am wichtigsten. Ich bin der Typ Regisseur, der das Proben liebt. Auftritte mag ich nicht, das Publikum auch nicht unbedingt, aber es muss sie nun mal zwangsläufig geben.

Ein Gastro-Blog ist mit Sicherheit auch kein Ein-Personen-Job.

Barbara: Es ist beinahe unmöglich einen Blog alleine zu führen, auch in unserem Fall ist der Erfolg der aufopferungsvollen Arbeit von vielen Menschen zu verdanken. Da sind zum Beispiel die Freunde, die zum Essen vorbeikommen und dann bei den Videos mithelfen. Auch Masina Mesék war die Arbeit eines größeren Teams. Aus diesen Erfahrungen habe ich sehr viel mitgenommen. Das Tolle am Bloggen ist, dass ich dabei gelernt habe noch besser zu kochen, zu fotografieren, Fotos zu bearbeiten, zu filmen, zu schneiden, zu schreiben und zu kommunizieren. In letzter Zeit haben wir sehr viele Erfolge erzielt, wir haben zum Beispiel mit Zsófi Mautner zusammengearbeitet, sind in Jamie Olivers Magazin erschienen, aber am meisten stolz bin ich auf das Kochbuch, das letztes Jahr veröffentlicht worden ist.

Rodrigó: Da würde ich gleich mit einer passenden Geschichte einhaken. Meine Frau und ich waren dieses Jahr bei einem Bekannten von uns, einem Universitätsprofessor, zum Abendessen eingeladen. Er hat uns gefüllte Auberginen serviert, es war unglaublich köstlich. Normalerweise mag ich Auberginen nicht unbedingt, aber die haben wirklich besonders gut geschmeckt! Wir haben dann gefragt, was wir denn da essen und woher es kommt, und da hat der Gastgeber das Romani Gastro Kochbuch hervorgeholt. Das hat mich unglaublich stolz gemacht. Damals hatte ich mit Barbara oder der Roma-Gastro-Kultur noch gar nichts zu tun, aber diese Situation war in dem Moment einfach Wahnsinn. Die Erkenntnis, dass es auch ein derart positives Roma-Bild gibt, hat meine Brust vor Stolz anschwellen lassen: Die Intellektuellen der Mittelschicht kochen etwas aus dem Kochbuch von Barbara und ihren Kolleginnen, und ich darf sogar davon essen.

In letzter Zeit hört man auch viel vom Independent Theatre Hungary.

Rodrigó: Ja, und unsere Erfolge erzielen wir nicht auf den ausgetrampelten Pfaden. Es wäre einfacher zu Tschechow, Shakespeare oder ähnlichen zu greifen. Viel würden wir dabei nicht riskieren. An Zuschauerinnen und Zuschauern würde es uns definitiv nicht mangeln. Wir stellen jedoch lieber die aktuellen und oft heiklen gesellschaftlichen Themen in der Welt des Theaters dar, und genau das bedeutet für uns Erfolg. Dass wir über solche Themen sprechen können, ist ein riesiges Privileg und gleichzeitig auch eine große Verantwortung. Und dann sind da natürlich noch unsere Kolleginnen und Kollegen. Es ist uns gelungen, Menschen in unserem Umfeld zu finden, die sensibel sind und etwas zu sagen haben. Auf dem Gebiet der Begabtenförderung sind wir vielleicht am erfolgreichsten – nicht wenige Jugendliche haben sich als Resultat unserer Arbeit für eine Theater-Laufbahn entschieden. Und das ist für uns die allergrößte Freude.

Woran arbeitet ihr zurzeit?

Barbara: Ich bilde mich gerade in Fotografie und Film fort, in diesem Bereich möchte ich mich noch weiterentwickeln.

Rodrigó: Wir arbeiten mit dem Stoff des letzten Roma Storytelling-Festivals weiter. Die Vorstellungen wurden aufgezeichnet und die wichtigsten Szenen haben wir auch schon im Studio aufgenommen. Sie werden im Jänner veröffentlicht. Außerdem wurden mit sämtlichen Schaffenden Tiefeninterviews gemacht, die geschnittenen Versionen dieser Interviews werden mit den Schlüsselszenen der Performances gekoppelt, um so eine Parallele zwischen dem Dramenhelden beziehungsweise der Dramenheldin und dem Weg seines beziehungsweise ihres Schöpfers oder seiner beziehungsweise ihrer Schöpferin herzustellen. So entsteht eine wunderbare, gegenseitige Ergänzung. Ich möchte betonen, dass es sich hierbei um Roma-Dramenheldinnen und -helden handelt, die fähig sind Entscheidungen zu treffen, die Verantwortung übernehmen, aktiv sind und Veränderungen bringen. Überleg mal! Das ist nichts anderes als das Erkennungsmal eines europäischen Bürgers, einer europäischen Bürgerin. Wir möchten zeigen, dass auch ein Rom oder eine Romni beziehungsweise eine Roma-Gemeinschaft in der Lage ist, der Werteordnung der europäischen Bürgerinnen und Bürger entsprechend zu leben. Außerdem organisieren wir gerade das nächste Storytelling-Festival und wir haben den Blog Roma Hősök, der sich Roma-Heldinnen und Helden widmet, ins Leben gerufen.
 
Was habt ihr für die Veranstaltung des Goethe-Instituts vorbereitet?

Barbara: Wir haben zwei Menüs vorbereitet, eine Portion gibt es im Gegenzug für eine Geschichte. Die Erzählungen werden auf Video aufgezeichnet. Wir freuen uns über Rezepte und Geschichten rund ums Thema Essen. Mich interessieren vor allem schwierige Themen: Was passiert mit der Ernährung zu Zeiten von Hungersnot, Krieg oder Revolution. Darauf freue ich mich am meisten, aber ein außergewöhnliches Rezept für Kartoffelgulasch macht mich auch schon sehr glücklich.

Rodrigó: Wir haben unser Konzept so gestaltet, dass es mit den anderen Projekten harmoniert. Am besten knüpfen wir vielleicht an das von Barbara und ihren Kolleginnen an. Wir ergänzen ihre Geschichten-Sammelaktion dadurch, dass wir an den einzelnen Schauplätzen im achten Bezirk die Fußgängerinnen und Fußgänger anhand verschiedener Narrative interviewen. In diesen Interviews möchten wir vor allem etwas über die Wurzeln der Menschen erfahren, über ihre Entscheidungen und Lebensumstände, darüber, woher sie kommen und welches Kreuz sie zu tragen haben. Dabei geht es nicht darum, wo man gescheitert ist, sondern wie man es geschafft hat, danach wieder aufzustehen. Aus diesen Heldennarrativen schreibt unsere Dramaturgin, Júlia Kinga Király (deren Buch Apa Szarajevóba ment gerade erschienen ist) eineinhalb- bis zweiminütige „Blitzszenen“, die wir dann in den Nachmittagsstunden in die Kneipe im achten Bezirk bringen. Wir werden uns auf Geschichten rund um den achten Bezirk konzentrieren. Diese unter die Menschen zu bringen, steht für uns an diesem Tag im Fokus.

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