Erinnerung
1000 Küsse, dein Vati

Um ihn vor den Nationalsozialisten zu schützen, schickte ihn sein Vater 1939 mit dem „Kindertransport“ ins Ausland. Was Henry Foner von seinem Vater geblieben ist, sind die Postkarten, die er ihm nach ihrem Abschied schrieb. Aus diesen Karten ist ein Buch geworden.

Ein Wohnzimmer in Jerusalem. Henry Foner, 82, ein hochgewachsener, schlaksiger, freundlicher Mann setzt sich in seinen Sessel mit der hohen Lehne. Hinten auf dem Tisch am Fenster liegt ein Exemplar seines Buches: „Postkarten für einen kleinen Jungen. Eine Geschichte vom Kindertransport“. „Wenn mir andere jetzt sagen oder schreiben, dass es sie tief berührt, all diese Karten meines Vaters an mich zu lesen, bin ich noch immer ein bisschen überrascht“, sagt er, „dass es mich sehr berührt, ist ja normal. Aber auch andere?“ Er staunt tatsächlich.

Jahrzehnte hat Foner kaum über seine Geschichte reden wollen. Und darüber, was dieses Buch zeigt, in Druckbuchstaben, in handgeschriebenen kurzen Sätzen, die stets auf eine Postkarte passen mussten: Die Liebe, und die wachsende Angst seines Vaters, dass sein Sohn ihn vergisst. Nachdem er ihn selbst mit dem „Kindertransport“ zum Schutz vor den Nationalsozialisten ins Ausland geschickt hatte.

10.000 Jungen und Mädchen brachten jüdische Organisationen nach dem Schock der Reichskristallnacht 1938 mit dieser Initiative per Zug und Fähre nach Großbritannien. In Heimen und in Pflegefamilien durften die Kinder dort unterkommen.

Welcher Tag im Jahr 1939 es war, der sein Leben bis heute bestimmt hat, das weiß Henry Foner nicht mal mehr genau Wahrscheinlich war es der 1. Februar. Bis zu diesem Tag war er Heinz Lichtwitz. Sechs Jahre alt und der einzige Sohn von Max Lichtwitz, einem jüdischen, verwitweten Rechtsanwalt in Berlin. Seine Mutter war zwei Jahre zuvor gestorben. „Man sagte mir erst Jahre später, dass es wohl Selbstmord war, wegen der politischen Situation“, sagt Foner, „sicher weiß ich das aber bis heute nicht.“

Er schluckt. Für einige Sekunden sagt Henry Foner nichts mehr

Nur einen Koffer und eine kleine Tasche, in der die Papiere für die Ausreise steckten – mehr Gepäck durfte er wie alle anderen Kinder an diesem Tag Anfang Februar nicht mitnehmen auf die längste Reise, die er je unternommen hatte. Zu einem jüdischen, kinderlosen Ehepaar, dem er noch nie zuvor begegnet war: Morris und Winifred Foner im südwalisischen Swansea. Was hat Ihnen Ihr Vater am Bahnhof in Berlin zum Abschied gesagt, Herr Foner? „Ich erinnere mich nicht.“ Foner spricht plötzlich leiser als zuvor. Würden Sie sich gern erinnern? Er schluckt. „Ich will lieber nicht mehr zu tief in mir graben.“ Für einige Sekunden sagt er nichts mehr.
Als sich der Zug mit seinem Sohn in Bewegung setzte, blieb für Foners Vater selbst nur Ungewissheit: Würde auch er bald irgendwohin auswandern dürfen? Würde er seinen Sohn irgendwann wieder zu sich holen können? Das einzige, was Max Lichtwitz zu diesem Zeitpunkt noch möglich war: schreiben.

„Für meinen Vater muss es ein Schock gewesen sein“

Am 3. Februar, als sein Sohn gerade erst in Großbritannien ankam, schickte er ihm schon die erste Karte, adressiert an „Master Heinz Lichtwitz“: „Lieber Heini, ich habe das Telegramm aus London bekommen und bin froh, dass du gesund zu Tante Winnie gekommen bist. Wie war die Reise? Viele Grüße von Omi, Nüppi, Onkel Lulu, Tante Jordan und 1000 Küsse von Deinem Vati.“ Fortan sandte er seinem „Heinz“ beinahe jeden zweiten Tag eine Karte. Die Foners schickten ihren „Henry“ derweil in Swansea zur Schule, damit er Englisch lernt.

Rund vier Monate später, Mitte Juni, feierte Henry Foner schließlich seinen siebten Geburtstag. Der erste Geburtstag ohne seinen Vater. Schon Tage vorher war ihm sein Anruf in Swansea angekündigt. Kurz vor sieben Uhr am Abend stand Foner schließlich im Eingangsflur des Hauses und wartete. Dann klingelte das Telefon. Als Foner die Hörmuschel ans Ohr drückte, erkannte er die Stimme, doch verstand kein Wort. „Ich hatte mein gesamtes Deutsch vergessen. Für mich war das in diesem Moment nur frustrierend, weil ich nichts mehr verstand. Irgendwann gab ich die Hör- und die Sprechmuschel einfach weiter. Für meinen Vater aber muss es ein unglaublicher Schock gewesen sein.“

Seit diesem Tag schickte Max Lichtwitz Postkarten auf Englisch. Die letzte erreichte Henry Foner am 31. August 1939: „Mein geliebter kleiner Henry! Vati hat das Telegramm von Onkel Morris erhalten, aber keinen Brief seit dem 14. August. Ich bin froh, dass Du wohlauf und glücklich bist. Ich hoffe, es kommt kein Krieg. Falls er doch kommt, möge Gott Dich sowie Onkel und Tante segnen. Mit vielen Grüßen an Onkel und Tante sowie einer Menge Küsse, dein Vati.“ Der Krieg kam. Einen Tag später, am 1. September, fiel Deutschland in Polen ein, daraufhin erklärte Großbritannien am 3. September Deutschland den Krieg. „Dass jetzt nicht mehr regelmäßig Karten kamen, beunruhigte mich nicht“, erklärt Foner, „wegen des Kriegs gab es dafür ja viele mögliche Gründe.“

„Ich begriff: Mein Vater musste tot sein.“

Drei Jahre später, am 18. August 1942, traf schließlich ein Brief vom Deutschen Roten Kreuz mit einer knappen Nachricht ein: „Lieber Henry, Ich bin froh über Deine gute Gesundheit und die Fortschritte. Bleib weiter gesund! Unser Schicksal ist sehr ungewiss. Schreib öfter! Viele Küsse, Vati“ Drei Wochen danach, am 9. Dezember 1942, wurde Max Lichtwitz nach Auschwitz deportiert, eine Woche später ermordet. Henry Foner wusste davon nichts.
Erst, als nach Kriegsende die Nachricht kommt, dass ein Onkel und die Großmutter das Konzentrationslager überlebt haben, er aber erst einmal nichts über seinen Vater erfährt, begreift er: „Mein Vater musste tot sein. Wer mir das schließlich auch gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Vielleicht waren es die Foners.“

Seine Frau Judy lernt Henry Foner in Israel kennen: in einem Zug 

Sechs Jahre vergehen, dann will Henry Foner mehr wissen. Von seiner Großmutter. In einem Brief schreibt sie ihm, dass sie lange darauf gewartet habe, dass er sie fragt. Und schildert, was mit seinem Vater passiert war, wie er verhaftet wurde und dass sie ihn das letzte Mal auch nur noch aus der Ferne sehen konnte. Bevor er ins Konzentrationslager gebracht wurde.

Nach Deutschland zurückziehen wollte Foner nie mehr. Bis heute spricht er kein Deutsch. In England studierte er Chemie. Seine Frau Judy lernte er 1958 bei seinem ersten Besuch in Israel kennen: im Zug. Auf der Fahrt von Tel Aviv nach Jerusalem. „Sie war die hübsche Frau mit einem Buch von Kipling. Da wusste ich, dass ich mich mit ihr wahrscheinlich in fließendem Englisch unterhalten konnte.“ Judy hat sich mittlerweile in den Sessel neben ihm gesetzt. Er schaut rüber zu ihr. „Und er war dieser große stattliche Mann“, sagt sie, „nach dem Ausstieg aus dem Zug bin ich damals extra langsam gegangen.“

„Über 20 Jahre konnte ich diesen Brief nicht mehr anrühren“

1961 erhielt Foner überraschend noch einen Brief, dem ihm ein Cousin seines Vaters zuschickte. Einen Abschiedsbrief seines Vaters, den er schon im November 1941 an den Verwandten geschrieben hatte, und der bereits zeigte, dass Foners Vater zu diesem Zeitpunkt nur noch wenig Hoffnung hatte – für sich selbst, und auf eine Chance, seinen Sohn überhaupt noch einmal wiederzusehen. „Ich glaube, dass mein Heini gut aufgehoben ist und dass Foners für ihn in einer Weise sorgen werden, wie es Eltern nicht besser tun können. Sprich auch ihnen, wenn es einmal am Platz sein wird, meine tiefe Dankbarkeit dafür aus, dass sie es meinem Kind ermöglicht haben, dem Schicksal zu entgehen, das mich ereilen wird (…) Sage ihm bitte später einmal, dass ich ihn nur aus tiefer Liebe und Sorge um seine Zukunft fortgegeben habe, dass ich ihn aber auf der anderen Seite Tag für Tag auf das Schmerzlichste vermisst habe und dass mein Leben seinen Sinn verloren hat, wenn es nicht doch noch einmal eine Möglichkeit geben sollte, ihn wiederzusehen.“

Über 20 Jahre rührte Foner diesen Brief nicht mehr an: „Diese Erinnerungen wollte ich vermeiden. Ich hatte jetzt eine Familie. Ich musste mich um unsere Zukunft kümmern.“ 1968 wanderte Foner nach Israel aus. „Judy und ich wollten, dass unsere Kinder jüdisch aufwachsen“, sagt er, „an einem Ort, an dem das ganz normal ist.“ Zu Familienfeiern in ihr Haus in Jerusalem kommen nun immer drei Kinder und acht Enkel.

„Vielleicht sollte ich Auschwitz wenigstens einmal besuchen“

„Unter manchen Kindern des Kindertransports gibt es das Phänomen, dass sie ihren Eltern gegenüber Wut verspüren, weil sie sie weggeben haben, weil sie sich bis heute ungewollt fühlen. Das ist mir völlig fremd“, sagt Foner. „Ich hatte nie einen Zweifel, dass mein Vater mich liebt. Hätte er mich nicht fortgeschickt, wäre ich heute nicht mehr am Leben. Und den Foners, den werde ich für immer dankbar sein.“

Eine von Foners Enkelinnen ist vor wenigen Monaten von einer Reise zurückgekommen. Mit anderen Jugendlichen aus Israel hat sie Auschwitz besucht. „Ich hatte sie gebeten, dass sie dort das Kaddisch spricht, unser jüdisches Gebet für die Toten“, sagt Foner, „für meinen Vater.“ Er selbst hat Auschwitz bis heute nicht besucht.

„Vielleicht sollte ich wenigstens einmal hinfahren“, sagt er, „aber ich glaube, ich könnte das nicht ertragen.“

Für einige Sekunden sagt er nichts mehr.