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60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei
Kunst und Kultur Türkeistämmiger in Deutschland

Rappt über die Migrationsgeschichte seiner Familie: der Sänger Eko Fresh beim Konzert 2019 in Hamburg.
Rappt über die Migrationsgeschichte seiner Familie: der Sänger Eko Fresh beim Konzert 2019 in Hamburg. | Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Jonas Walzberg

Seit dem Anwerbeabkommen von 1961 ist Deutschland zur zweiten Heimat vieler türkeistämmiger Menschen geworden. Sie sind nicht nur ein wichtiger Bestandteil der deutschen Gesellschaft geworden, sie prägen und gestalten auch in großem Maße die deutsche Kulturszene mit. Ein Rückblick.
 

Von Ceyda Nurtsch

Nur kurze Zeit nachdem die Bundesrepublik am 30. Oktober 1961 das sogenannte Anwerbeabkommen mit der Türkei abgeschlossen hatte, kamen die ersten Gruppen türkeistämmiger Menschen nach Deutschland. Während die deutsche Wirtschaft kräftig wuchs, benötigten Unternehmen dringend ausländische Arbeitskräfte. Bis zum Anwerbestopp 1973 folgten 800.000 Arbeitsmigrant*innen diesem Ruf. Die fortan „Gastarbeiter“ genannten kamen, um in Bergwerken und Fabriken zu arbeiten. Doch die Gäste blieben: Mit den Jahren wurde Deutschland für sie zur Heimat. Sie holten ihre Familien nach und bauten sich ein Leben in der Fremde auf. Gleichzeitig verarbeiteten viele von ihnen ihre Erfahrungen künstlerisch.

Neue Heimat: Deutschland

Mit ihren Liedern, Bildern, Büchern und Filmen schlugen sie eine Brücke zur alten Heimat und setzten sich mit ihrer neuen Heimat auseinander. So entstanden Lieder auf Türkisch über das Leben im „gurbet“, der Fremde, über Heimweh und Sehnsucht. Unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit entstand eine Parallelmusikszene. Erst Ende der 1970er Jahre wendeten sich Musiker*innen wie Ozan Ata Canani in seinem Lied Deutsche Freunde auch auf Deutsch an die Mehrheitsgesellschaft.

Eine zweite Welle von Einwander*innen kam in den 1980er Jahren nach Deutschland, als politisch Verfolgte und Intellektuelle, wie der Liedermacher Cem Karaca, die angesichts des Militärputschs von 1980 ins Exil flohen. „Komm Türke, trink deutsches Bier, dann bist du auch willkommen hier“, kommentierte er in seiner sarkastischen Ballade Willkommen die Integrationsdebatte. In den 1990er Jahren, mit den rassistischen Anschlägen von Mölln und Solingen, meldeten sich die Söhne der Einwander*innen zu Wort. Die Hip-Hop Gruppe Cartel traf mit ihrem Song Cartel einen Nerv bei Jugendlichen und machte türkischsprachigen Rap auch in der Türkei populär.

Der Autor Feridun Zaimoğlu kam 1965 im Zuge des Anwerbeabkommens mit seinen Eltern nach Deutschland. Er wurde zum Sprachrohr für eine ganze Generation deutschtürkischer Großstadt-Jugendlicher. Der Autor Feridun Zaimoğlu kam 1965 im Zuge des Anwerbeabkommens mit seinen Eltern nach Deutschland. Er wurde zum Sprachrohr für eine ganze Generation deutschtürkischer Großstadt-Jugendlicher. | Foto (Detail): © Arne List, Wikipedia / CC BY-SA 3.0

„Migrant*innenliteratur“ tritt aus Schattendasein heraus

Auch die sogenannte „Migrantenliteratur“ wurde bis in die 1980er Jahre kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Autoren wie Yüksel Pazarkaya und Aras Ören verstanden sich als Vermittler zwischen den Kulturen und setzten sich mit Sprachlosigkeit, Identität und Fremde auseinander. Auch die Probleme in der sich nur zögerlich öffnenden deutschen Gesellschaft thematisierten sie. Im Juli 1973 titelte das Magazin Der Spiegel noch: „Die Türken kommen, rette sich wer kann“.

Erst in den 1990er Jahren trat die „Migrant*innenliteratur“ aus dem Schattendasein heraus und wurde von der deutschen Öffentlichkeit unter dem Etikett „Gastarbeiterliteratur“ breiter wahrgenommen. Autor*innen wie Emine Sevgi Özdamar, Renan Demirkan und Doğan Akhanlı hielten teils an ihrer Herkunftssprache fest, teils schrieben sie auf Deutsch und verhandelten in ihren Werken die Dialektik von Heimat und Fremde. Mit Kanak Sprak wurde der Hamburger Schriftsteller Feridun Zaimoğlu 1995 zum Sprachrohr für eine ganze Generation deutschtürkischer Großstadt-Jugendlicher. Seitdem schreiben Autor*innen der zweiten und dritten Generation, wie etwa Fatma Aydemir, auf Deutsch über das Leben zwischen zwei Identitäten, Diskriminierungserfahrung und Rassismus. Mit ihren vielfältigen interkulturellen Schreibweisen prägen sie in entscheidendem Maß die deutschsprachige Gegenwartliteratur. Journalistin und preisgekrönte Schriftsteller*in der zweiten Generation: Fatma Aydemir. Journalistin und preisgekrönte Schriftsteller*in der zweiten Generation: Fatma Aydemir. | Foto (Detail): © Feski22, Wikipedia / CC BY-SA 4.0

Mit Fatih Akın nach Cannes

Auch die Schauspiel- und Filmlandschaft hat sich unter dem Einfluss türkeistämmiger Schauspieler*innen und Filmemacher*innen stark verändert. Während der Film 40 qm Deutschland von Tevfik Başer aus dem Jahr 1986 als Ausgangspunkt des deutsch-türkischen Kinos gilt, ist der Hamburger Regisseur und Golden-Globe-Preisträger Fatih Akın eine auch international anerkannte Größe. Ab den 2000er Jahren entstanden mit Serien und Filmen wie Türkisch für Anfänger und Almanya. Willkommen in Deutschland eine Reihe von Culture-Clash Komödien, in denen türkeistämmige Filmemacher*innen der dritten Generation die Themen Identität, Integration und Heimat auf leichte, humorvolle Art verhandelten. Die Berliner Theater Ballhaus Naunynstrasse und Gorki wiederum verfolgen mit ihrem postmigrantischen Ansatz das Ziel, die Gesellschaft in ihrer Diversität widerzuspiegeln.

Zwischen Self-Empowerment und Würdigung

Zuletzt kamen in einer weiteren Einwanderungswelle nach dem Putschversuch in der Türkei 2016 neben Akademiker*innen und Journalist*innen auch viele Künstler*innen und Schriftsteller*innen wie Aslı Erdoğan und Barbaros Şansal nach Deutschland. Auch sie verarbeiten ihre Erfahrungen im Exil literarisch. Heute, rund 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen, sind die über drei Millionen Türkischstämmigen ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft: Deutschland versteht sich mittlerweile als Einwanderungsland; Migration, Integration und gesellschaftliche Vielfalt, Diskriminierung und struktureller Rassismus sind häufig diskutierte Themen. Im Exil in Deutschland: Die Schriftstellerin, Menschenrechtsaktivistin und ehemalige politische Gefangene Aslı Erdoğan kam 2017 nach Deutschland, nachdem sich unter anderem der Börsenverein des Deutschen Buchhandels für ihre Freilassung eingesetzt hatte. Im Exil in Deutschland: Die Schriftstellerin, Menschenrechtsaktivistin und ehemalige politische Gefangene Aslı Erdoğan kam 2017 nach Deutschland, nachdem sich unter anderem der Börsenverein des Deutschen Buchhandels für ihre Freilassung eingesetzt hatte. | Foto (Detail): © Carole Parodi, Wikipedia / CC BY-SA 4.0 Doch noch immer sind die Lebensgeschichten der ersten Generation wenig beachtet. Sänger wie Eko Fresh, der über die Migrationsgeschichte seiner Familie und das Zusammenleben in Deutschland rappt, ebenso wie Musik-Kompilationen wie Songs of Gastarbeiter wirken dem entgegen. Gleichzeitig zeigt der Erfolg der Sängerin Zeynep Avcı beim TV-Format „Voice of Germany“: Türkische Popmusik ist im Mainstream angekommen. Sie alle sind ein unverzichtbarer Teil der Kulturlandschaft Deutschlands.

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