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Schwarze Persönlichkeiten in Brasilien
Im Kampf gegen das Vergessen

„Antonica, Luiza e Marcelina“ von Nathalia Ferreira
„Antonica, Luiza e Marcelina“ von Nathalia Ferreira | Foto (Detail): Nathalia Ferreira © Companhia das Letras

Die in sechs Jahren Arbeit entstandene „Enciclopédia Negra“ versucht mit 417 individuellen und kollektiven Einträgen Lebensgeschichten von mehr als 550 Schwarzen Persönlichkeiten in Brasilien aus dem 16. bis 21. Jahrhundert sichtbar zu machen. Der Historiker Flávio dos Santos Gomes, die Historikerin und Anthropologin Lilia Moritz Schwarcz sowie der Künstler Jaime Lauriano berichten über das nach eigener Recherche und umfassender bibliografischer Forschung dieses Jahr gemeinsam herausgegebene Werk.

Von Ana Paula Orlandi

Weshalb erarbeiten Sie diese Schwarze Enzyklopädie?

Flávio dos Santos Gomes: Unsere Geschichte ist geprägt von der Sklaverei Schwarzer Menschen, die seit dem 15. Jahrhundert, als Brasilien zu einer portugiesischen Kolonie wurde, mehr als 300 Jahre lang in allen Regionen des Landes andauerte. Heute sind mehr als 50 Prozent der Bevölkerung Brasiliens Schwarz oder dunkelhäutig. Und doch wurde die Präsenz Schwarzer Personen in der brasilianischen Geschichte in all den Jahrhunderten lang unsichtbar gehalten. Die Intention der Enzyklopädie ist es, auf diese Lücke aufmerksam zu machen und Persönlichkeiten herauszustellen, deren Namen einer größeren Öffentlichkeit wenig oder gar nicht bekannt sind.

Wer sind diese Persönlichkeiten?

Flávio dos Santos Gomes: Illustre Persönlichkeiten, wie etwa der Künstler, Intellektuelle und Aktivist Abdias do Nascimento (1914–2011), Schöpfer des Schwarzen Experimentellen Theaters der 1940er‑Jahre, oder der Anwalt Luiz Gama (1830–1882), einer der bekanntesten Schwarzen Abolitionisten Brasiliens, durften in der Enzyklopädie nicht fehlen. Wir haben aber auch anonyme oder wenig bekannte Personen gesucht, die letztlich um die 65 Prozent des Lexikons ausmachen. Wie etwa der Schwarze Arbeiter Robson Silveira da Luz, der 1978 in den Räumen eines Polizeireviers in São Paulo umkam, weil man ihn zu Unrecht des Obstdiebstahls beschuldigte. Dessen Ermordung sowie der Ausschluss Schwarzer Jugendlicher von einem Volleyballturnier eines Klubs in São Paulo zur gleichen Zeit führten dort noch im selben Jahr zur Gründung des Movimento Negro Unificado contra a Discriminação Racial (Vereinigte Schwarze Bewegung gegen rassistische Diskriminierung) durch Aktivist*innen und Institutionen. Robson war meiner Ansicht nach unser George Floyd. Auch mehrere „Quitandeiras“ sind in dem Buch, meist Schwarze, versklavte, aber auch freie Frauen: Lebensmittelverkäuferinnen auf der Straße im kolonialen Brasilien. Trotz der Verfolgung durch die damaligen Behörden waren sie Unternehmerinnen und Protagonistinnen ihrer eigenen Geschichte: Einige erkauften sich mit dem Geld, das sie erwirtschaftet hatten, die eigene Freiheit.

  • „Domingos Álvares“ von Oga Mendonça
    „Domingos Álvares“ von Oga Mendonça / Companhia das Letras
  • „Liberata“ von Michel CENA7
    „Liberata“ von Michel CENA7 / Companhia das Letras
  • „Germana“ von Bruno Baptistelli
    „Germana“ von Bruno Baptistelli / Companhia das Letras
  • „Catarina Cassange“ von Panmela Castro
    „Catarina Cassange“ von Panmela Castro / Companhia das Letras
  • „Emiliano Felipe Benício Mundrucu“ von Moisés Patrício
    „Emiliano Felipe Benício Mundrucu“ von Moisés Patrício / Companhia das Letras
An welchen Kriterien orientiert sich die Auswahl der Personen?

Lilia Moritz Schwarcz: Die Geschichte Brasiliens ist immer noch sehr kolonial, europäisch und männlich geprägt. Und der Prozess der Unsichtbarmachung der Schwarzen Bevölkerung erweist sich als noch grausamer gegenüber Frauen oder der LGBTQ+-Bevölkerung. Interessant ist, dass es bereits aus dem 16. Jahrhundert Berichte über die Verfolgung von Homosexuellen gibt, etwa der um 1550 geborenen Francisca Luiz, die von der Inquisition wohl als einzige Frau in Brasilien als Lesbierin verurteilt wurde. Bei der Auswahl der Namen haben wir eine Parität der Geschlechter sowie von Persönlichkeiten aus unterschiedlichen historischen Momenten und allen Regionen des Landes angestrebt. Und wenn wir Persönlichkeiten wie Sportler*innen, Samba‑Musiker*innen oder Priester*innen aufgenommen haben, deren Tätigkeit in Brasilien traditionell der Schwarzen Bevölkerung zugeschrieben wird, mussten auch Menschen erwähnt werden wie etwa der Anwalt und Journalist Manuel da Mota Monteiro Lopes (1867–1910), der sich an zahlreichen Debatten um Bürgerrechte der armen und Schwarzen Bevölkerung beteiligte und 1909 für Rio de Janeiro Abgeordneter im Nationalparlament wurde. Oder die Pianistin und Ärztin Iracema de Almeida (1925–2004), Mitbegründerin der 1972 ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe Schwarzer Freiberufler*innen und Universitätsangehöriger (Grupo de Trabalho de Profissionais Liberais e Universitários Negros).

Den Umschlag ziert das von der Künstlerin Mônica Ventura geschaffene Porträt von Afra Joaquina Vieira Muniz. Wer war diese Frau?

„Afra Muniz“ von Monica Ventura „Afra Muniz“ von Monica Ventura | © Monica Ventura /Companhia das Letras Lilia Moritz Schwarcz: Afras Geschichte zeigt die Komplexität der Welt während der Sklaverei. Sie lebte im 19. Jahrhundert in Salvador und war mit ihrem früheren Herrn Sabino Francisco Muniz verheiratet, der, wie sie, afrikanischer Abstammung war, nach seiner eigenen Freilassung seine Frau freikaufte, zugleich aber selbst Sklaven hielt. Als Sabino zwischen 1870 und 1872 starb, hinterließ er seiner Frau alle Güter und verfügte die Freilassung zweier versklavter Frauen, Severina und Maria do Carmo, unter der Bedingung, dass sie bis zu deren Tod bei Afra blieben. Das heißt, Afras Verhältnis zu diesen beiden Verschleppten war keine Freundschaft und sogar Gegenstand eines Zivilprozesses. Auf der Rückseite des Buches ist übrigens das von Antonio Obá geschaffene Bildnis von Chico Rei zu sehen, einer Ikone der Schwarzen Bewegung Brasiliens aus dem 18. Jahrhundert zu Zeiten des Goldrauschs in Minas Gerais.

„Chico Rei“ von Antonio Obá „Chico Rei“ von Antonio Obá | © Antonio Obá / Companhia das Letras Die Quellen zu seiner Geschichte, die sich zwischen Legende und Erinnerung bewegt, besagen, dass er aus einer Königsfamilie des Kongoreichs stammend nach Brasilien verschleppt wurde und hier nicht nur die eigene Freiheit erlangte, sondern auch zahlreiche versklavte Afrikaner*innen freigekauft haben soll.
 
Was ist der Gedanke hinter dieser Umschlaggestaltung?

Jaime Lauriano: Von Anfang an sollte vorn auf den Umschlag eine Frau abgebildet sein, die auch von einer Frau porträtiert worden ist. Die Darstellung Afras hier unterscheidet sich stark von der üblichen Darstellung durch ausländische Reisende, die üblicherweise auf die Sinnlichkeit versklavter Frauen abzielen und sie stets mit nacktem Oberkörper darstellten. Sowohl Afra als auch Chico Rei auf der Rückseite werden zudem als sehr stolze Personen gezeigt, was zum Ausdruck bringt, dass Schwarze Leben Gewicht haben und eine herausgehobene Stellung verdienen. Das spiegelt sich in der Tonlage der gesamten Enzyklopädie wider, auch wenn sich die einzelnen Einträge nicht um die Widersprüche und die Komplexität der Beschriebenen drücken.

In der Enzyklopädie sind auch 36 Porträts von afrikanischstämmigen brasilianischen Künstler*innen enthalten. Wie kam es zu dieser Auswahl?

Jaime Lauriano: Entweder gab es von den porträtierten Persönlichkeiten noch gar keine bildliche Darstellung oder sie waren bis dahin falsch und meist von weißen Künstler*innen dargestellt worden. Also entweder der Gewalt der Unsichtbarkeit und der historischen Auslöschung unterworfen oder dem strukturellen Rassismus unserer Gesellschaft. Gleichzeitig haben wir versucht, ein Netzwerk Schwarzer Künstler*innen aller Regionen des Landes und mit sehr unterschiedlichen Zugängen zum Kunstmarkt zu berücksichtigen. Wir haben beispielsweise deutlich mehr Frauen als Männer beauftragt. Insgesamt sind so um die einhundert Werke entstanden, nicht nur Gemälde, sondern auch etwa Fotografien und Skulpturen. Sie wurden der Pinakothek des Bundesstaates São Paulo gestiftet, in der sie von April bis November 2021 ausgestellt wurden.

Wie gelang es den Künstler*innen, die Persönlichkeiten ohne bildliche Vorlage darzustellen?

Jaime Lauriano: Das Ergebnis sind beinahe Phantombilder. Auf der Grundlage des jeweiligen Eintrags stellten die Künstler*innen eigene Recherchen an, etwa über den Kleidungsstil der jeweiligen Epoche oder die Art der Gesichtstätowierungen bestimmter afrikanischer Nationen. Doch die überwiegende Mehrzahl der Porträts ist gar nicht realistisch, auch weil wir den Begriff des Porträts unterlaufen wollten, den kunsthistorischen Kanon, der bereits Kolonisator*innen und Imperialist*innen dargestellt hat.

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