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Unbekannte*r Kunstschaffende*r, Nââkweta, 18. Jahrhundert
Unbekannte*r Kunstschaffende*r, Nââkweta, 18. Jahrhundert | Foto: © Nadine Jacquet

Welche Rolle spielt Konservierung im postkolonialen Museum? Bietet sie Raum für kulturellen Dialog oder schreibt sie koloniale Gewalt fort? Gedanken von Noémie Etienne zu Spuren, Fäden und Zerbrechlichkeit.

Von Noémie Etienne

Von September 2020 bis Februar 2021 kuratierten Claire Brizon, Chonja Lee, Etienne Wismer und ich im Lausanner Palais de Rumine eine Ausstellung namens EXOTIC? Der Schweizer Blick nach aussen im Zeitalter der Aufklärung. Die Ausstellung war das Ergebnis eines noch laufenden vierjährigen Forschungsprojekts. Wir durchforschten die Sammlungen und Depots kultureller Institutionen in der Schweiz (Kunstmuseen ebenso wie ethnografische und naturgeschichtliche Museen, Bibliotheken, Archive und so weiter). Wir suchten nach materieller Kultur, die die Beziehungen zwischen der Alten Eidgenossenschaft (die heutige Schweiz samt der 1815 hinzugekommenen Gebiete Genf, Neuchâtel und Wallis) und der Welt in der Frühen Neuzeit verkörperte. Wir stießen auf Hunderte von Objekten – die meisten von ihnen waren bis dahin im Depot, oft in relativ schlechtem Zustand. Sie legten Zeugnis davon ab, dass Menschen aus der Schweiz ins Ausland reisten, Objekte sammelten, Skizzen und Texte anfertigten und Methoden zur Herstellung von Porzellan, Lack und bedrucktem Baumwollstoff imitierten.
Blick auf die Ausstellung „EXOTIC?“ Blick auf die Ausstellung „EXOTIC?“ | © Lionel Henriot Die Fülle dieser Funde führte zur Entwicklung einer Erzählung, die sich über verschiedene Schlüsselprozesse entfaltete: Menschen aus der Schweiz leiteten Kolonisationsprojekte an Orten wie der Stadt New Bern (in North Carolina, USA), die in Reisebüchern gut dokumentiert sind. Sie sammelten und häuften Güter an, wie die zahlreichen Objekte belegen, die in die Schweiz zurückgebracht wurden. Und sie zielten stark auf Profit ab, durch die Aneignung nichteuropäischer Techniken ebenso wie durch die Ausbeutung von Menschen und den Handel mit versklavten Personen.
Karte von New Bern, Christoph von Graffenried, 1704 Karte von New Bern, Christoph von Graffenried, 1704 | © Burgerbibliothek Bern

Materielle Veränderung eines Artefakts

Ausstellungen sind oft ein Grund für Konservierung. Eines der interessantesten Objekte der Ausstellung EXOTIC? ist ein Wandschirm, der aus diesem Anlass restauriert wurde. Er wurde in Japan hergestellt und von dem Schweizer Kaufmann Charles‑Constant de Rebecque in China erworben. Er mischt verschiedene Zeitebenen (Elemente aus dem 18. und 19. Jahrhundert), verschiedene Ursprungsländer (Japan und den südlichen Teil Europas) und unterschiedliche Techniken (Papier, Seide, Holz, Lack‑Nachahmung, Tinte und Malerei). In einem solchen Objekt wird die Bewegung von Gütern und Menschen über Zeiten und Kontinente hinweg greifbar: Es zeigt die komplexen Identitäten von Gegenständen und Menschen zu dieser Zeit intensiver Globalisierung auf.
Detail einer Stellwand mit vier Paneelen, 18./19. Jahrhundert, unbekannte*r Kunstschaffende*r Detail einer Stellwand mit vier Paneelen, 18./19. Jahrhundert, unbekannte*r Kunstschaffende*r | © Historisches Museum Lausanne Ein weiteres interessantes Werk ist Nââkweta, ein symbolisches Objekt aus Neukaledonien, das wahrscheinlich im 18. Jahrhundert von Antoine Bruni d’Entrecasteaux mitgenommen und von Benjamin Delessert dem Kantonalen Museum in Lausanne überlassen wurde. Während der Ausstellungsvorbereitung wurde der Aktivist und Lyriker Denis Pourawa von Claire Brizon eingeladen, Nââkweta im Depot zu besuchen, und nahm das Objekt in die Hand.
Unbekannte*r Kunstschaffende*r, Nââkweta, 18. Jahrhundert Unbekannte*r Kunstschaffende*r, Nââkweta, 18. Jahrhundert | © Nadine Jacquet Er tat dies ohne Handschuhe und beschloss, an dem Objekt einen Faden aus seinem Schal zu befestigen. Aus seiner Perspektive war diese Geste ein Weg, Nââkweta als Objekt anzuerkennen, das zu seiner kulturellen Tradition gehört und dessen Geschichte ihm mündlich überliefert wurde. Aus der Perspektive eines Museumskonservators jedoch könnte man sich fragen: Kompromittierte diese Geste die Beständigkeit von Nââkweta? Destabilisierte der Lyriker ungewollt das Artefakt? Für Pourawa ist dies ganz klar nicht der Fall und auch nicht das, worum es geht. Die kleine Spur, die er an dem Objekt hinterließ, verkörpert auf respektvolle Weise die Begegnung zwischen einem Künstler und einem Objekt, die beide aus derselben Region stammen, und bezeugt die lebendige Verbindung zwischen ihnen. Gleichzeitig birgt seine Intervention aus rein konservatorischer Perspektive ein mittleres Risiko, die physische Integrität des historischen Artefakts zu beeinflussen.

Somit zeigt das Beispiel von Nââkweta einen interessanten Fall auf, bei dem die physische Begegnung zwischen einem Menschen und einem Objekt als symbolische Form der Reparation in einem Kontext kolonialer Gewalt gelesen werden kann, während sie gleichzeitig eine materielle Veränderung darstellt, die das Risiko einer potenziellen Zersetzung in sich trägt. 

Wer braucht Konservierung?

Heute stellen Kunstschaffende, Konservator*innen, Kurator*innen und Akademiker*innen die Rolle des Museums in einer postkolonialen Welt in Frage. Während Ausstellungsräume und Vitrinen weithin kritisiert wurden, bleibt das Studium von Konservierungsprozessen eine innovative Art, die vom Museum vorangetriebene Ökologie der Fürsorge unter die Lupe zu nehmen. Konservierung kann grob als Wissenschaft definiert werden, die das Ziel hat, die physische Integrität eines Kunstwerks – manchmal zu Ausstellungszwecken – zu bewahren und aufrechtzuerhalten. Wenn wir Konservierung als westliche Wissenschaft betrachten, die auf eurozentrischen Konzepten von Zeit, Materialität und Authentizität basiert, kann Konservierung auch eine Form von Gewalt beinhalten. Wer bewahrt und wer zerstört? Kann das Museum unter ökologischen, wirtschaftlichen und logistischen Gesichtspunkten auch weiterhin die Beständigkeit der Güter in seiner Obhut bewahren?
Für den Zuñi‑Gelehrten Edmund J. Ladd beispielsweise sind die typischen Konservierungsstandards in der Tat problematisch. Ihm zufolge sollte seine Gemeinschaft für die Pflege zeremonieller Gegenstände verantwortlich sein. Darüber hinaus sollten Objekte atmen und essen können, um zu überleben. Die Bedingungen, die in den meisten Museumsdepots herrschen, sind in der Tat nicht dazu geeignet, Sammlungsobjekte am Leben zu halten.

„Wenn wir Konservierung als westliche Wissenschaft betrachten, die auf eurozentrischen Konzepten von Zeit, Materialität und Authentizität basiert, kann Konservierung auch eine Form von Gewalt beinhalten.“

Entsprechend beginnen Konservator*innen, ihre Praktiken zu überdenken und sich um nachhaltigere und ethischere Interventionen zu bemühen. Verschiedene, häufig von Konservator*innen geleitete Projekte untersuchen zum Beispiel, wie eine dekolonisierte Konservierung aussehen könnte. Diese Bewegung der Dekolonisierung durch und mithilfe von Konservierung beinhaltet in der Regel Konsultationen mit den sogenannten Herkunftsgemeinschaften – den Menschen, die die Güter hergestellt haben, und ihren Nachfahr*innen. Leider sind Konservierung und Erhaltung jedoch häufig Argumente, die der Möglichkeit einer Restitution entgegengehalten werden. Bis heute ist die Zerbrechlichkeit bestimmter Objekte einer der Gründe, die gegen Restitutionsforderungen angeführt werden.

Ein erweitertes Verständnis von Konservierung

In einem kürzlich erschienenen Buch (2020) diskutierte Bonaventure Soh Bejeng Ndikung das Konzept von „Fürsorge“ und seine gut gemeinten, aber dennoch potenziell schädlichen Konsequenzen. Er konzentriert sich auf Gesundheitswesen, Polizei, internationale humanitäre Organisationen und Kuratierung und legt nahe, dass zahlreiche Institutionen, denen die Fürsorge für Menschen oder Kunstwerke obliegt, nicht frei von politischen und manchmal nicht wahrgenommenen rassistischen Vorurteilen sind. Seine Kritik kann auch unser Konzept von Konservierung beeinflussen. Wer kümmert sich und wen kümmert das? Wer entscheidet, was Konservierung ist? Wäre es möglich, die Definition von Konservierung so stark auszuweiten, dass sie auch Praktiken zulässt, die letztlich zur Zerstörung von Objekten führen könnten? Der Künstler Kader Attia stellt bereits seit mehr als einem Jahrzehnt die Politik der Reparatur in Frage. Attia zeigt verschiedene Modifizierungen an Gebäuden, Menschen und Objekten. In seiner Arbeit können alternative Arten der Fürsorge helfen, sich auf das Leben zu konzentrieren, die Risse und Narben anzunehmen. Aus diesen Perspektiven kann eine andere Definition von Konservierung entstehen.

„Konservierung könnte Nutzungsgesten und symbolische Aktionen mit einschließen, die die materielle Kultur destabilisieren, aber auch an der Reparatur von Seelen und Traumata beteiligt sein können.“


Nach dem Ende der Ausstellung EXOTIC? kam Nââkweta zurück ins Depot. Meines Wissens befindet sich der Faden nach wie an dem Objekt. Pourawas Handlung im Depot ist eine einfache Geste, die nicht übermäßig romantisiert oder interpretiert werden sollte. Es ist ein Faden aus zeitgenössischer Baumwolle, der an einem Objekt aus dem frühen 18. Jahrhundert befestigt ist. Nichtsdestotrotz bezeugt die Entscheidung, diese Intervention beizubehalten, ein erweitertes Verständnis von Konservierung, bei der bedeutsame Modifikationen bewahrt werden, selbst wenn sie konventionellen Museumsstandards nicht in jedem Fall entsprechen. Meiner Ansicht nach zeigt dies eine gesunde Tendenz auf Seiten von Museumsfachleuten, die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit von materieller Kultur (und von Menschen) anzuerkennen und zu begrüßen.

 

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