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Dekoloniale Kunstpraktiken
Lachen, Subversion und die Erfahrung des Horrors

Latitude – Ein Mann betrachtet 2014 in Hamburg in der Ausstellung „Das Zweite Gesicht - Hommage a Leonore Mau“ Bilder mit Karnevalsmasken aus Tahiti.
Ein Mann betrachtet 2014 in Hamburg in der Ausstellung „Das Zweite Gesicht - Hommage a Leonore Mau“ Bilder mit Karnevalsmasken, die die Künstlerin 1972 auf Tahiti aufgenommen hat. | Foto (Detail): Axel Heimken © picture alliance / dpa

In allen Kunstformen – ob Musik, Theater, Literatur, bildende Kunst, Film oder Fotografie – lässt sich eine Ästhetik des Dekolonialen finden, die Grit Köppen auch als Ästhetik des Aufruhrs bezeichnet. Und das trifft nicht nur auf Kunstproduktionen des 20. Jahrhunderts zu, wie die Autorin anhand von Beispielen zeigt.

Von Grit Köppen

Es stellte und stellt sich Künstler*innen immer implizit die Frage nach der Ästhetik: Wie kann eine andere Wahrnehmung der Welt ermöglicht werden? Mit welchen künstlerischen Mitteln und ästhetischen Strategien lassen sich politische Realitäten, Wissensordnungen und (kunst-)historisch gewachsene Wahrnehmungsformen befragen, dekonstruieren, ad absurdum führen, neu kreieren, transformieren, verfremden, verändern und durchschaubar machen?
 
Während der Kolonisation waren künstlerische Praktiken in Form von Gesang, Musik, Tanz, Geschichtenerzählen, Theater und Performance sowohl Mittel kolonialer Herrschaft als auch Mittel des antikolonialen Widerstands. Als potenzielle Kritik und codierte Kommunikationsmittel gefürchtet, wurden künstlerische Artikulationen der Kolonisierten genau beobachtet, kontrolliert, reglementiert oder zensiert. Zugleich setzten die Kolonialregierungen die kulturelle und mentale Kolonisierung mittels kolonial‑rassistischer Bild- und Repräsentationspolitiken sowie eurozentrischer Narrative durch. So wurden beispielsweise europäische Amateurtheatergruppen nach Kenia gesandt, um die britische Kolonie mit trivialen oder klassischen Stücken zu unterhalten. Im Senegal sollten an der École normale William Ponty Afrikaner*innen mittels Theater an die klassischen Dramen herangeführt und auf diese Weise an die französische Sprache, Kunst und Kultur assimiliert werden.

Antikolonialer Widerstand durch Performances

Zugleich verboten und diskreditierten die Kolonialregierungen eigene performative Ausdrucksweisen der Kolonisierten, die jedoch weiterhin – im Untergrund – umgesetzt wurden. Das Verlachen der Kolonialmächte in den Künsten spielte von Beginn an im antikolonialen Widerstand eine entscheidende Rolle: In Tansania und Kenia wurden ab Ende des 19. Jahrhunderts beispielsweise Beni‑Ngoma‑Performances in Form karnevalesker Umzüge veranstaltet. Diese zeigten grotesk überzeichnet den militärischen Drill, die Marschformationen und den Habitus der weißen Siedler*innen, Whisky zu trinken, Zigarre zu rauchen und unentwegt Berichte entgegenzunehmen. Im Äthiopien der 1930er‑Jahre erwiesen sich performative Künstler*innen, die durchs Land zogen – die azmaries – als mobilisierende Kräfte, die zur militärischen Verteidigung gegen die italienische Kolonialmacht aufriefen. Sie gründeten Schauspielgruppen, die antikoloniale Stücke aufführten. Für die Guerillabewegung Mau Mau in Kenia in den 1950er‑Jahren waren Theater und Musik im Untergrund wichtig, um den Zusammenhalt der Widerstandsgruppe zu stärken. Die Befreiungsbewegung FRELIMO aus Mosambik nutzte in den 1960er‑ und 1970er‑Jahren gezielt Fotografie und Film, um ihren antikolonialen Widerstand zu dokumentieren und ihre politischen Visionen zu verbreiten.

„Das Verlachen der Kolonialmächte in den Künsten spielte von Beginn an im antikolonialen Widerstand eine entscheidende Rolle: In Tansania und Kenia wurden ab Ende des 19. Jahrhunderts beispielsweise Beni‑Ngoma‑Performances in Form karnevalesker Umzüge veranstaltet. Diese zeigten grotesk überzeichnet den militärischen Drill, die Marschformationen und den Habitus der weißen Siedler*innen, Whisky zu trinken, Zigarre zu rauchen und unentwegt Berichte entgegenzunehmen.“

Da in den Künsten potenziell eine kritisch-distanzierte Haltung zur jeweiligen historischen Realität eingenommen werden kann, waren die Künste auch im Zuge der politischen Dekolonisation als Mittel des Aufruhrs, des Widerstands und der Subversion zentral wichtig.

Europäische Eroberer als abgehalfterte Typen

Nach der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Länder hat der Reggaemusiker Peter Tosh 1972 seinen Song Here comes the Judge veröffentlicht. In diesem Song kreiert Tosh eine szenische Anordnung, bei der europäische Eroberer der vergangenen Jahrhunderte nun vor Gericht stehen und in sieben Punkten angeklagt werden. Tosh, der als verärgerter und ungeduldiger Richter auftritt, ruft die Namen der angeklagten Europäer auf. Unter ihnen sind Christoph Columbus, Bartholomé de Las Casas, Vasco da Gama, David Livingstone und Marco Polo. Indem Tosh deren Namen teils leicht verfremdet – Combolus, Alexander, the so called Great –, entwickelt er eine subversive Komik. Dieser Effekt wird zusätzlich verstärkt, wenn die europäischen Eroberer dem Richter antworten müssen und dabei als abgehalfterte, angetrunkene und lahme Typen erscheinen. Die damit transportierte Lächerlichkeit dieser Figuren entreißt ihnen jeglichen Macht- und Herrschaftsanspruch und provoziert zugleich ein Verlachen der kolonialen Machtmatrix. In seinem Song verliest Tosh nun die Anklagepunkte:
 
„You’re all brought here on
Count one: Robbing and raping Africa
Count two: Stealing black people out of Africa
(...)
Count five: Killing over 50 million black people without a cause“
 
Als der Richter die Angeklagten fragt, ob sie etwas zu ihrer Verteidigung vorzubringen hätten, stammeln und stottern sie nur; sie haben nichts zu sagen. Am Ende verliest das Gericht das Strafmaß, das darin besteht, dass sie an ihrer Zunge aufgehängt werden.

Die szenische Anordnung, die Tosh in seinem Song konstruiert, gleicht  einer imaginierten Tribunalsituation, in der Europa aufgrund seiner kolonialen Expansionspolitik zur Rechenschaft gezogen wird, wobei die Repräsentanten verspottet werden und so das Verlachen ihres Machtstrebens in den Vordergrund rückt. Über diese parodistische, grotesk-absurde szenische Anordnung haben sicher schon Hunderttausende – über Generationen und Grenzen hinweg – gelacht. Dem Verlachen des kolonialen Herrschaftsanspruchs stellt Tosh allerdings die ernsthafte Auseinandersetzung mit komplexen kolonialen Gewaltverhältnissen gegenüber. Dazu verwendet er die Strategie des naming. Durch diese Strategie, konkrete Namen zu nennen, entfesselt er eine globale Geschichte der Eroberung, Versklavung, Kolonialisierung und Unterwerfung durch europäische Akteure. Tosh verbindet auf diese Weise unterschiedliche koloniale Kontexte, die von den Bahamas im 15. Jahrhundert über Mexiko, Südafrika und Indien im 16. Jahrhundert bis Tansania und Malawi im 19. Jahrhundert reichen. Die Namen der europäischen Eroberer stehen eben nicht nur für einzelne historische Personen, sondern für Kontexte der politischen und ökonomischen Gewalt, für Kontinuitäts- und Verbindungslinien sowie Netzwerke einer kolonialen Ausbeutung und Unterwerfung.
 
Auch diese Strategie des naming ist eine wiederkehrende Form dekolonialer Kunstpraktiken im 21. Jahrhundert. So verwendet der kongolesische Theatermacher Dieudonné Niangouna sie in seinem Stück Nennt mich Muhammed Ali (2013), um eine Verbindungslinie zwischen befreiten Sklav*innen und Schwarzen Spitzensportler*innen im Kontext des Boxkampfes aufzuzeigen. Ebenso setzt die französisch-senegalesische Dramatikerin Penda Diouf diese Strategie in ihrem Stück Pisten (2020) ein, um an den antikolonialen Widerstand der Hereros zu erinnern, aber auch Èva Doumbia arbeitet in ihrem Stück Drissa (2020) mit dieser künstlerischen Strategie, um die hohe Anzahl der Opfer rassistischer Polizeigewalt in Frankreich zu markieren und zu benennen.

Kollektives Reenactment in Mosambik

Ein weiteres Beispiel aus einer anderen Kunstsparte liefert der Film Mueda, Memória e Massacre (1978) von Ruy Guerra. Guerra, der als Mitbegründer der Bewegung Cinema Novo gilt, filmte im Makonde‑Plateau in Mosambik ein kollektives Reenactment. Diese Art der Inszenierung konkreter geschichtlicher Ereignisse wird jährlich in Mueda Theatral aufgeführt, um an das politische Massaker antikolonialer Widerstandskämpfer*innen durch portugiesische Kolonialbeamte von 1960 zu erinnern. Auch dieses Reenactment enthält, trotz der Verarbeitung einer extrem traumatischen Erfahrung des Kolonialismus, karnevaleske und groteske Züge. Die szenische Anordnung besteht aus einer Aneinanderreihung von Bittgesuchen, Anfragen und Forderungen nach politischer Unabhängigkeit des Landes durch Mosambikaner*innen bei der Kolonialbehörde. Wiederholt werden diese von Sicherheitskräften überprüft, dann ins Büro vorgelassen, immer wieder von der Kolonialbehörde abgewiesen mit der Begründung, dass sie ihr Land nicht selbst regieren könnten, und anschließend verbal rassistisch angegriffen, beleidigt, rausgeworfen oder abgeführt. Dabei erscheinen die weißen Kolonialbeamten – alle Figuren werden gespielt von Schwarzen Schauspieler*innen – als wohlgenährt, weltfremd, unentwegt Berichte schreibend, abhängig von Dolmetscher*innen, argumentativ schwach, jedoch herablassend gegenüber ihren Gesprächspartner*innen. Und das Publikum, das diesem Reenactment beiwohnt, wiederum lacht lauthals über die parodierte Darstellung einer kolonialen Militärparade, über Soldaten mit Tropenhelmen und in kurzen Hosen,  die stolpern oder den Rhythmus durchbrechen. Wenn am Ende der theatralen Aufführung jedoch die politischen Vertreter*innen die Entkolonisierung und Unabhängigkeit des Landes fordern und kurz darauf erschossen werden, rennen plötzlich etliche Personen aus dem Publikum davon. 

Die im Film sichtbaren Resonanzen auf die Performance vor Ort – zwischen Lachen und Horror – verdeutlichen die Ästhetik, die einerseits an die koloniale Gewalt erinnert und diese öffentlich vorführt, und andererseits den daraus abgeleiteten kolonialen Machtanspruch und Habitus zutiefst ablehnt, verhöhnt und verlacht.
  • Latitude – Straßenkarneval in Thiès, Senegal, Aufnahme um 1934 © picture alliance / arkivi | -
    Straßenkarneval in Thiès, Senegal, Aufnahme um 1934
  • Latitude – Reggaemusiker Peter Tosh (1944–1987), Aufnahme von 1977 © picture alliance / Photoshot | -
    Reggaemusiker Peter Tosh (1944–1987), Aufnahme von 1977
  • Latitude – Dramatikerin Penda Diouf, Aufnahme von 2017 © picture alliance / Damien Grenon/Photo12 | Damien Greno
    Dramatikerin Penda Diouf, Aufnahme von 2017
  • Latitude – Filmregisseur Ruy Guerra, Aufnahme von 2005 © picture-alliance/ dpa/dpaweb | Juan_Herrero
    Filmregisseur Ruy Guerra, Aufnahme von 2005
  • Latitude – Bauern aus der Provinz Maraquene üben 1975 einen traditionellen Tanz für die Unabhängigkeitsfeier Mosambiks ein.  © picture-alliance / dpa | BTA
    Bauern aus der Provinz Maraquene üben einen traditionellen Tanz für die Unabhängigkeitsfeier Mosambiks ein. Soldaten der Befreiungsbewegung FRELIMO (Frente de Libertacao de Mocambique) hissten um Mitternacht zum 25. Juni 1975 in der Hauptstadt Lourenco Marques (später: Maputo) die neue Landesflagge. Nach rund 500 Jahren portugiesischer Herrschaft erlangte der südostafrikanische Staat die Unabhängigkeit, FRELIMO Führer Samora Machel wurde der erste Präsident. Aufnahmedatum 31.05.1975
Die Bedeutung dieser Kunstansätze kann nicht genug wertgeschätzt werden. In Europa täte man gut daran, sie ernst zu nehmen. Und das erfordert eine längst überfällige dekoloniale Geschichte der Musik, des Theaters, des Films, der Literatur – der Künste insgesamt – sowie verschiedene zeitgenössische künstlerische Positionen aus dem globalen Süden umfassend bekannt zu machen.

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