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Nicaragua
Die beharrliche Kämpferin

Zwei Miskito paddeln in einem Boot auf dem Wasser des Rio Coco, Nicaragua.
Zwei Miskito paddeln in einem Boot auf dem Wasser des Rio Coco, Nicaragua. | Foto (Detail): Esteban Felix © picture alliance/AP Photo

Nicaraguas staatliche Gesetze gehören zu den fortschrittlichsten in Lateinamerika – aber in der Praxis versagen viele davon. Neunzig Prozent der Indigenen Siedlungsgebiete sind durch bewaffnete Siedler*innen bedroht. Anwältin Lottie Cunningham spricht über ihren Kampf und die humanitäre Krise in ihrem Land.

Von Ulrike Prinz

Lottie Cunningham Wren erhält ständig Drohungen, auch Morddrohungen, weil sie die Indigenen Territorien der nördlichen Karibikküste Nicaraguas verteidigt. Aber die Indigene Miskito-Anwältin ist keine, die so leicht aufgibt. Mit ihrem akademischen Rüstzeug kämpft sie gegen eine Zerstörungsmaschinerie, die Tod und Verwüstung über Indigene und Afro-Deszendente* des Landes bringt.

Die illegale Besetzung dieser Gebiete durch bewaffnete Siedler*innen begann in den 1990er-Jahren. Verschiedene Indigene und soziale Bewegungen hatten sich gebildet, um ihr Land zu schützen. Im Jahr 2001 brachte Cunningham, Gründerin und Präsidentin des Zentrums für Gerechtigkeit und Menschenrechte der Atlantikküste Nicaraguas (Cejudhcan), diese Initiativen zusammen und initiierte die Demarkierung der Indigenen Territorien. Zwei Jahre später wurde der Grundstein für die Abgrenzung des Territoriums der Indigenen Mayangna-Gemeinschaft von Awas Tingni gelegt. Seitdem hat die Anwältin in ihrem Kampf für die kollektiven Rechte nicht geruht. Doch Tausende von Indigenen wurden von den Siedler*innen vertrieben. „Letzte Woche haben sie wieder angegriffen“, sagt Cunningham am Telefon.
 
Lottie Cunningham, wer sind diese Siedler*innen und was suchen sie in den Territorien der Indigenen und Afro-Deszendenten?

Es sind Ex-Militärs und der nicaraguanische Staat hat ihnen seit den 1990er-Jahren Land zugewiesen und während der letzten zehn Jahre haben sie sich illegal Indigenes Land angeeignet. Sie waren im Bergbau tätig und verwandeln nun unsere Wälder in riesige Weideflächen für Rinder. 90 Prozent der insgesamt 304 Indigenen Siedlungen (in 23 Territorien) sind mit einer massiven Invasion von Siedler*innen konfrontiert – die meisten von ihnen bewaffnet.
 
Was bedeutet diese Invasion für die Gemeinden?

Diese Siedler*innen vertreiben mein Volk von ihrem Land, wo sie früher gejagt, gefischt und Heilpflanzen gesammelt haben. Im Jahr 2015 verjagten sie zum Beispiel mehrere Familien in Wangki Lí Aubra, das liegt im Biosphärenreservat Bosawás am Waspuk-Fluss. Sie brannten alle Häuser der Gemeinde Polo Paiwas nieder und bis heute konnten die Familien nicht zurückkehren. Sie haben sich in die Gemeinden des Rio Waspuk und Rio Coco geflüchtet. Viele von ihnen leiden unter Hunger und Krankheiten... Wir befinden uns in einer humanitären Krise.

Die Invasion zerstört Wälder und lebenswichtige natürliche Ressourcen, verschmutzt unsere Flüsse und bedroht massiv das Wohlergehen der Indigenen Völker, ihr gemeinschaftliches Wirtschaften, ihr Territorium, ihre politische Autonomie und kulturelle Identität. Deshalb haben die Gemeinden Angst vor einem Ethnozid.

Wie hat sich diese Situation entwickelt?

Seit 2015 haben wir einen stärkeren Anstieg der Gewalt in Indigenen Territorien gesehen. In diesem Jahr zählten wir 49 ermordete, 49 verletzte, 46 entführte und vier verschwundene Indigene. Alle diese Fälle stehen im Zusammenhang mit der Landinvasion. Wir sind besorgt über diese Situation. 2020 wurden mindestens 13 Indigene Menschen ermordet. Unter den Opfern sind Miskitos, Mayagnas, Ramas – verschiedene Indigene Völker der Karibik.
In allein zwölf Gemeinden der nördlichen Karibikküste, die vom Interamerikanischen System unter Schutz gestellt worden waren, haben wir eine Zählung durchgeführt. Dabei haben wir festgestellt, dass 2015 mehr als 3000 Menschen und 2019 1007 Menschen vertrieben wurden. In diesen zwölf Gemeinden wurden insgesamt 28.000 Hektar Land enteignet.
 
In Nicaragua halten Indigene und Afro-Deszendente offiziell ihre Landtitel. Hat die Regierung in dieser Angelegenheit etwas unternommen?

Die nicaraguanische Gesetzgebung zu Indigenen Rechten war immer die fortschrittlichste in Lateinamerika – aber in der Praxis war sie die schlechteste! Zwischen Gesetzgebung und deren Umsetzung klafft eine große Kluft. Die Regierung ist ihrer Verpflichtung, Indigenes Land zu schützen, nicht nachgekommen. Sie hat die letzte Phase des Demarkations- und Titulierungsprozesses, das sogenannte „saneamiento“ [Räumung der Indigenen Territorien von Colonos (nicht-Indigene Siedler*innen) sowie von Unternehmen, die die Territorien ohne Rechtstitel oder Pachtvertrag mit der Gemeinde nutzen, Anm. d. Red.], nicht umgesetzt. Nach dem Gesetz 445 zur Regelung des kommunalen Eigentums, muss die Regierung diese letzte Phase abschließen. Aber die nicaraguanische Regierung zeigt nicht den politischen Willen, die nationale und internationale Gesetzgebung zu indigenen Rechten und Menschenrechten einzuhalten.

Aber das Leid der Indigenen Gesellschaften ist nicht ausschließlich auf den nicht abgeschlossenen Titulierungsprozess zurückzuführen. Eine unabhängige Untersuchung des Oakland Instituts hat ergeben, dass die staatlichen Behörden Nicaraguas eine aktive Rolle bei der Förderung der Kolonisierung Indigener Territorien gespielt haben. Sie erteilten Konzessionen und Genehmigungen an Bergbaukonzerne und sogar für die Forstwirtschaft und Viehzucht. In den letzten drei Jahren hat sich die Fläche der Bergbaukonzessionen mehr als verdoppelt. Sie umfasst 2,6 Millionen Hektar, das entspricht 20 Prozent des Landes. Dies ist ein sehr ernsthafter Konflikt und eine schwerwiegende Situation für die Indigenen Gemeinden, dessen sich die internationale Gemeinschaft bewusst sein sollte.

Ich habe immer gesagt, dass sich Nicaragua in der tiefsten Krise seiner Geschichte befindet.

Lottie Cunningham

Welche Schritte haben Sie unternommen, um diese zerstörerische Dynamik zu stoppen?

Wir haben uns an die Interamerikanische Menschenrechtskommission (OAS) gewandt und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Resolution festgestellt, dass die Regulierung der Indigenen Territorien ein Weg ist, um die effektive Nutzung und das Recht auf Gemeinschaftseigentum zu garantieren, und dass der Staat Nicaragua diese abschließen muss. Doch bisher hat er sich nicht daran gehalten.

Wir haben auch Berichte für den UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verfasst. Wir nutzen die Sonderberichterstattungen [Teil der Sonderverfahren des Menschenrechtsrates sind, Anm. d. Red.] unter anderem zu den Themen Menschenrechte und Umwelt ... und wir werden weiterhin alles unternehmen, um diese leidvolle Situation der Indigenen Völker der Karibikküste Nicaraguas für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen.

Warum weigert sich der Staat die konkreten Maßnahmen zum Schutz des Lebens, der kulturellen Identität und der Territorien ihrer Indigenen Völker umzusetzen?

Weil es keinen politischen Willen gibt. Leider haben sich die Institutionen des Staates innerhalb der letzten 10 Jahren verschlechtert. Und ich habe immer gesagt, dass sich Nicaragua in der tiefsten Krise seiner Geschichte befindet: Die Gewalt hat zugenommen, Morde, Entführungen, das Verschwindenlassen von Personen und Räume der Zivilgesellschaft wurden geschlossen, Das Recht auf Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit wird verletzt, und so weiter …

Diese Krise der Menschenrechtsverletzungen hat auch Auswirkungen auf die Indigenen Territorien. Leider konnten wir die Fälle intern nicht weiter vorantreiben, weil wir keinen Zugang zur nationalen Justiz haben. Weil die nicaraguanischen Staatsbehörden das Strafrechtssystem dazu benutzt haben, Indigene Gemeinden, traditionelle Autoritäten und uns Menschenrechtsverteidiger mit unbegründeten Anschuldigungen und fingierten Beweisen zu kriminalisieren.

Der Staat hat seine Verantwortung, das Leben und das Territorium der indigenen Bevölkerung zu schützen, verfehlt, während alle von den Siedler*innen begangenen Taten ungestraft geblieben sind.


* Afro-Deszendente sind Menschen mit afrikanischer Migrationsgeschichte, die als Folge der Sklaverei auf dem amerikanischen Doppelkontinent in der afrikanischen Diaspora leben.

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