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„Nein, danke! Ich bin satt! Nein, WIRKLICH nicht!“

Claudia Jahnkes Adventskranzständer
Claudia Jahnkes Adventskranzständer | © Detlef Haag

„Bei mir zu Hause in Deutschland wurde Weihnachten ganz anders gefeiert: An Heiligabend gab es ein einfaches Abendessen und am ersten Feiertag ein Mittagessen für vier Personen, meistens Gänsebraten mit Rotkohl und Klößen, und dazu Wein. Es gab keine Geschenke, keine Kirchgänge und längst nicht so viele Vorbereitungen. Ein einfaches Treffen mit der Familie, ohne viel Tamtam. Deshalb denke ich auch, dass die Deutschen nach den Feiertagen nicht so erschöpft sind wie die Polen“, erzählt Max, der deutsche und polnische Weihnachtsbräuche aus nächster Nähe miterlebt hat.

Von Joanna Strzałko

Dicke Wolken verdunkeln den Himmel, und der Wind zerrt an den blattlosen Ästen der Bäume und Büsche, als wolle er die an ihnen befestigten LED-Lämpchen mit sich reißen. Doch die blinken unbeirrt weiter und senden abwechselnd drei lange und drei kurze Lichtsignale in die Welt hinaus.

Doch der Wunsch, gemeinsam die Vorweihnachtszeit zu feiern, überwiegt im pfälzischen Bockenheim die Angst vor dem Unwetter. Die in Wollmützen und Regenmäntel gekleideten Einwohner huschen wie Schatten aus der Vergangenheit durch die engen, gepflasterten Gassen, hin zu dem in einer Seitenstraße versteckten Weingut Lauermann & Weyer. Hinter dem massiven Holztor des Gebäudes aus dem 18. Jahrhundert erstreckt sich ein Innenhof, auf dem mehrere Feuerstellen verteilt sind. Das Lichterglanzfest in der Villa Lauermann ist in Bockenheim bereits zu einer festen Tradition geworden. Eine Woche vor dem ersten Advent, bevor die großen Weihnachtsmärkte ihre Pforten öffnen, kann man sich hier mit der Familie und mit Freunden treffen, Glühwein trinken, Linsensuppe essen und ein wenig vorweihnachtliche Atmosphäre schnuppern. Es gibt Stände mit Kuchen, Likören und Weihnachtsdekoration – und natürlich mit Adventskränzen, die in vielen deutschen Familien einfach nicht wegzudenken sind.

   
Ein Film mit Claudia Jahnke: "Wie Bindet man einen Adventskranz?" Teil 1

Claudia Jahnkes Adventskranzständer © Joanna Strzałko Wie macht man einen Adventskranz?




Ein Film mit Claudia Jahnke: "Wie Bindet man einen Adventskranz?" Teil 2

Claudia Jahnkes Adventskranzständer © Joanna Strzałko Wie macht man einen Adventskranz?  

 


81 Prozent der Deutschen geben an, Weihnachten zu feiern, 11 Prozent feiern Weihnachten nicht und 8 Prozent sind noch unentschlossen. Zu den beliebtesten Bräuchen gehören das weihnachtliche Dekorieren, der Adventskalender, das Essen von Keksen, Stollen und Lebkuchen und natürlich die Geschenke, für die die Deutschen jedes Jahr durchschnittlich 520 Euro ausgeben.

Von Neugier getrieben stelle ich in einem Internetforum für Polen in Deutschland die Frage, was meine Landsleute von den deutschen Weihnachtsbräuchen halten. Ungefähr ein Dutzend Nutzer beteiligen sich an der Diskussion. „Haben die Deutschen denn welche?“ und „In Polen, das ist Weihnachten! 12 Gerichte an Heiligabend, und nicht nur Wurst mit Kartoffeln und Sauerkraut“, lauten einige der Antworten.


Fahrt ihr ruhig nach Polen – ich bleibe hier!


Szymon, der vor zwölf Jahren aus Polen nach Deutschland kam und seitdem in Gießen lebt, schüttelt den Kopf: „Manche deutsche Weihnachtsbräuche gefallen mir sehr gut. Zum Beispiel die Weihnachtsmärkte. Ich gehe in der Adventszeit gerne mit meinen Freunden und Bekannten dorthin, meistens am Freitag nach der Arbeit. Wir schlendern von einem Stand zum anderen, trinken Glühwein und unterhalten uns. Wir essen Kartoffelpuffer oder etwas vom Grill. Aus den Lautsprechern tönt Weihnachtsmusik, Kinder fahren Karussell, und die Menschen lächeln einander zu. Niemand hat es eilig, niemand drängelt, und niemand streitet sich. Es ist einfach nett. Und darum geht es doch eigentlich, oder?“
 

Der Nürnberger Christkindlesmarkt ist einer der größten Weihnachtsmärkte in Deutschland. Rund zwei Millionen Besucher besuchen jedes Jahr die Stadt aus Tuch und Holz mit ihren etwa 180 Buden.

Ja, Szymon fühlt sich in Deutschland sehr wohl und möchte um nichts in der Welt zurück nach Polen. Nicht einmal zu Weihnachten. Nicht etwa, weil er sich nicht mehr als Pole fühlt. Ganz im Gegenteil: In seiner Freizeit moderiert er die Sendung „(Nie)zwykli Polacy“, die im Internetfernsehen und in den sozialen Medien zu sehen ist und in der er die Geschichten von in Deutschland bekannten Polen erzählt. Zum Beispiel die des Sängers Mark Forster, der in Wirklichkeit Mark Ćwiertnia heißt.

„Aber in Polen ist einfach alles so viel schwieriger“, seufzt Szymon. „Ich habe dort Risiko- und Sicherheitsmanagement studiert – aber was habe ich davon, wenn ich hinterher doch keinen Job finde. In Deutschland hat man mir eine Chance gegeben: Ich habe bereits in der Baubranche, in der Transportbranche und seit Kurzem auch im Handel gearbeitet. Man kann hier ein vergleichsweise ruhiges Leben führen, ohne große finanzielle Sorgen. Was nicht bedeutet, dass meine Eltern und ich auch die deutschen Weihnachtsbräuche übernommen haben. Nein, vor allem an den Feiertagen hält meine streng katholische Familie unerschütterlich an den polnischen Traditionen fest.“

Den Karpfen, den Barszcz, das Sauerkraut mit Pilzen und den Mohn für die Nachspeise kauft Szymons Mutter in einem polnischen Supermarkt in Gießen ein – und die traditionelle Oblate in der nahe gelegenen polnischen Kirche. Wenn etwas fehlt, bringen es die Verwandten mit, die in der Nähe von Posen leben. Sobald am 24. Dezember der erste Stern am Himmel erscheint, versammeln sich alle im Wohnzimmer um die selbst gebastelte Krippe mit Holzfiguren und Stroh. Dann wird es still im Raum. Szymons Schwester schlägt die Bibel auf, immer an derselben Stelle, und liest die Geschichte von Maria und Josefs Reise nach Bethlehem und von der Geburt Jesu. Szymon, seine Eltern und seine Onkel und Tanten aus Polen hören gebannt zu. Dann teilen sie die miteinander die Oblate und setzen sich zu Tisch.

„Das Wichtigste bei unserem Weihnachtsmenü ist die Fischsuppe, die wir nur an Heiligabend essen“, erzählt Szymon. „Nach dem Essen singen wir Weihnachtslieder. Am ersten Feiertag gehen wir in die Kirche: Die Messe wird von einem polnischen Priester auf Polnisch und auf Deutsch gehalten. Und am zweiten Weihnachtsfeiertag besuchen wir Freunde und Bekannte, unter anderem ein deutsch-polnisches Paar. Dort zünden wir ein Feuer an und setzen uns in die Gartenlaube. Neben unserem Karpfen, unseren eingelegten Heringen und unseren Pierogi kommen dort auch Gänsebraten, Rotkohl und Kartoffeln auf den Tisch – das gefällt mir.“


Ohne viel Tamtam

Auch Max ist Teil eines solchen deutsch-polnischen Paares. Er wird niemals sein erstes polnisches Weihnachtsfest vor 14 Jahren vergessen. Es war der erste Besuch bei den Eltern seiner Freundin. Max wollte sich von seiner besten Seite zeigen, also protestierte er auch nicht, als er in die Stadt geschickt wurde, um lebende Karpfen für das Weihnachtsessen zu kaufen. Er stand völlig verdutzt im Laden vor den kleinen Wasserbecken mit den großen Fischen. Nahm entsetzt die Plastiktüte mit den herumzuckenden Karpfen entgegen. Und erstarrte vollends, als sein zukünftiger Schwiegervater ihm nach seiner Rückkehr ein langes, scharfes Messer in die Hand drückte. Er hatte noch nie so viel Alkohol getrunken.
 

„Zum Glück sind meine Schwiegereltern vor einigen Jahren von diesem Brauch abgerückt – inzwischen bestellen sie küchenfertige Karpfen. Da fällt mir das Essen doch deutlich leichter“, lacht Max. „Mein liebster polnischer Weihnachtsbrauch ist das gemeinsame Zubereiten der Nudeltaschen für den Barszcz. Die ganze Familie versammelt sich dann am Küchentisch: Einer rollt den Teig aus, einer sticht kleine Quadrate aus, und ein anderer füllt sie mit Pilzen und klebt sie zusammen. Ja, ich fühle mich sehr wohl in dieser herzlichen Atmosphäre. Und es gibt so viel Leckeres zu Essen! Wenn die Feiertage vorbei sind, kann ich mich kaum noch bewegen. Bei mir zu Hause in Deutschland wurde Weihnachten ganz anders gefeiert: An Heiligabend gab es ein einfaches Abendessen und am ersten Feiertag ein Mittagessen für vier Personen, meistens Gänsebraten mit Rotkohl und Klößen, und dazu Wein. Es gab keine Geschenke, keine Kirchgänge und längst nicht so viele Vorbereitungen. Ein einfaches Treffen mit der Familie, ohne viel Tamtam. Deshalb denke ich auch, dass die Deutschen nach den Feiertagen nicht so erschöpft sind wie die Polen.“

Wie die Deutschen Weihnachten feiern:
 



Polen – Deutschland 1:0

Anna, die mit ihrem Mann, ihrer Tochter, zwei Hunden und einer Katze in der Nähe von Göttingen lebt, gibt zu, dass es vor allem Frauen in Deutschland an den Weihnachtstagen deutlich leichter haben als in Polen.

„Hier geht alles wesentlich entspannter zu: Das Haus wird bereits in der Adventszeit geschmückt, und es gibt weniger Stress bei den Weihnachtseinkäufen, weil die meisten Geschenke eher symbolischen Charakter haben: zum Beispiel eine Flasche Wein oder ein Glas Honig. Man feiert im kleinen Kreis, und die Arbeit in der Küche hält sich in Grenzen – man muss eigentlich nur die Ente oder die Gans in den Ofen schieben“, erzählt Anna. „Viele Deutsche verbringen Weihnachten auch gar nicht zu Hause, sondern treffen sich lieber in Restaurants, die an den Feiertagen aus allen Nähten platzen. Die Restaurantbesitzer sorgen für eine feierliche Atmosphäre: Die Tische sind mit Kerzen, Gestecken und kleinen Lämpchen dekoriert, im Hintergrund spielt leise Musik, das Essen wird hübsch angerichtet, und wenn überhaupt jemand Stress hat, dann höchstens die Köche. In Polen wissen die Frauen an Weihnachten vor lauter Arbeit gar nicht mehr wohin: Sie haben das ganze Haus voller Gäste, müssen dafür sorgen, dass an Heiligabend zwölf Gerichte auf den Tisch kommen, und das Frühstück und das Mittagessen für die Feiertage vorbereiten. Kein Wunder, dass sie völlig erschöpft sind, wenn sie sich an den Tisch setzen. Und wenn die Gäste wieder weg sind, müssen sie auch noch das Haus aufräumen.“

Anna hat viele deutsche Weihnachtsbräuche übernommen: Rechtzeitig zum Advent schmückt sie ihr Haus und ihren Garten mit Weihnachtsdekoration, sie bastelt mit ihrer Tochter ein Wichtelhaus, backt Lebkuchen und stellt einen Adventskranz auf den Tisch, an dem sie an jedem Sonntagmorgen eine weitere Kerze anzündet. Und doch … „Ich gebe zu, dass es für mich völlig undenkbar ist, Weihnachten nicht in Jelenia Góra und ohne meine Eltern zu feiern“, sagt Anna. 

Deshalb packt Anna jedes vor Weihnachten, ohne Rücksicht auf das Wetter, ihren Mann, ihre Tochter und sämtliche Vierbeiner in das Auto und fährt nach Polen.
„In unserer deutsch-polnischen Ehe hat sich die polnische Tradition durchgesetzt“, lacht Anna. „Meinem Mann gefällt unsere enge Verbundenheit mit der Tradition, unser emotionales Verhältnis zu bestimmten Bräuchen und unsere Gastfreundschaft. Er musste lediglich lernen, höflich aber entschieden Nein zu sagen: »Nein, danke! Ich bin satt! Nein, WIRKLICH nicht!« Nur manchmal wird es ihm doch zu viel. „Von den zehn Personen, die bei euch am Tisch sitzen, reden acht gleichzeitig. Hört eigentlich irgendjemand irgendjemandem zu?«, wundert er sich dann. Vor Kurzem hat er mich sogar einmal gefragt, ob wir Weihnachten nicht wenigstens einmal ganz ruhig und entspannt in Deutschland verbringen könnten. Ich habe ihm geantwortet, dass ich dazu im Augenblick noch nicht bereit bin. Vielleicht werde ich es irgendwann sein, aber selbst dann werde ich nicht auf die polnischen Weihnachtstraditionen verzichten. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, an Heiligabend nur Kartoffelsalat und Würstchen auf den Tisch zu stellen.“

Keine zu großen Erwartungen!

Die Psychologin und Professorin an der Freien Universität Berlin Bettina Hannover, lächelt, als ich sie nach ihren liebsten Weihnachtsbräuchen frage. „Weihnachten bedeutet für mich vor allem das Treffen mit der ganzen Familie in Bremen. An den Feiertagen kommen sämtliche Generationen zusammen: Das älteste Familienmitglied, mein Vater, ist bereits 97, und das jüngste ist gerade mal drei. An Heiligabend sitzen wir gemeinsam vor dem Weihnachtsbaum und singen Weihnachtslieder – auch einige schwierige Stücke, die wir bereits lange zuvor einstudieren.“ Dann sagt Bettina Hannover, dass Traditionen zwar unterschiedliche Formen annehmen können, jedoch immer dieselbe Funktion erfüllen: Sie geben uns ein Gefühl von Sicherheit, Zugehörigkeit und Identität.

„Rituale, die gemeinsames Handeln erfordern, lassen uns spüren, dass wir zu einer Gruppe, zu einer Familie gehören, dass wir nicht allein sind“, erklärt sie. „Wir erleben etwas gemeinsam und geben diesem Etwas einen Sinn. Die Welt um uns herum verändert sich so schnell, Kriege brechen aus, Epidemien verbreiten sich – dabei benötigen wir doch so dringend einen festen Halt im Leben. Das Bewahren der Tradition hilft uns dabei und gibt zumindest den Feiertagen eine vorhersehbare Struktur: Wir wissen, was wir zu tun haben und wie wir uns verhalten sollen. Sicherlich gewinnen manche Rituale noch zusätzlich an emotionaler Bedeutung, wenn man außerhalb seines Heimatlandes lebt. Ich denke, dass die polnischen Weihnachtsbräuche den in Polen lebenden Deutschen dabei helfen, ihre kulturelle Identität zu bewahren. Sie geben ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und wirken sich positiv auf ihr Wohlbefinden aus.“

„Und wie vermeidet man am Besten den Weihnachtsstress?“, frage ich Bettina Hannover bereits zum Abschied.

„Indem wir keine zu hohen Erwartungen an die Feiertage haben!“, rät die Psychologin. „Wer nichts erwartet, kann auch nicht enttäuscht werden.“

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24 Prozent der Deutschen geben an, über Weihnachten immer oder gelegentlich zu streiten. Gestritten wird vor allem mit dem eigenen Partner (36 Prozent) oder mit den Eltern (35 Prozent). Jeder dritte Streit betrifft den Ablauf und die Organisation der Feiertage.

Es gibt in Deutschland 34 große und 2200 kleinere Weihnachtsmärkte, die insgesamt fast 270 Millionen Besucher anziehen. Dort werden jedes Jahr fast 50 Millionen Liter Glühwein getrunken. 

Der größte Weihnachtsbaum steht auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt. Er ist mit 48 000 LED-Lämpchen bestückt, und seine Spitze ziert ein 200 Kilogramm schwerer Engel.

Für das Weihnachtsgeschäft 2022 prognostizierte der Handelsverband Deutschland eine Steigerung der Umsätze auf rund 120,3 Milliarden Euro.

Die beliebtesten deutschen Weihnachtsbräuche.

Eine Umfrage zum Feiern von Weihnachten.
 

Oto Niemcy (DAS ist deutschland)

Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Reportagen „Oto Niemcy“ (Das ist Deutschland), die das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Magazin Weekend.gazeta.pl veröffentlicht.

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