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Brotkultur in Deutschland
Aus Liebe zum Brot

Die Deutschen lieben ihr Brot und haben über 3200 Sorten zur Auswahl. Sie haben sogar eine eigene Brotsprache entwickelt, um sie alle zu beschreiben. An der Akademie Deutsches Bäckerhandwerk Weinheim* lernen Bäckermeister aus aller Welt. Doch wenn alles so rosig ist, warum schließt dann inzwischen jede fünfte Bäckerei in Deutschland? Und wer ist daran schuld?
 

Von Joanna Strzałko

„Weißt du, wie viele Wörter es gibt, um Brot zu beschreiben?“, fragt mich der 41-jährige Axel Schmitt, der Besitzer einer Bäckerei im unterfränkischen Frankenwinheim. „Über 400!“, erklärt er stolz. „Ohne diese Wörter wäre es unmöglich, all die unterschiedlichen Aromen und Farben zu beschreiben, all die Eindrücke, die entstehen, wenn du ein Brot in die Hand nimmt und wenn du es auf der Zunge spürst.“
 




In seinen Adern fließt Mehl


Nein, Axel sieht nicht aus wie ein typischer Bäcker und schon gar nicht wie ein anerkannter Brotsommelier. Er hat schulterlange, zu einem Pferdeschwanz gebundene blonde Haare und einen dünnen langen Bart, sein rotes Basecap trägt er mit dem Schirm nach hinten, und auf seinem schwarzen T-Shirt prangt ein großes Iron-Maiden-Logo. Denn Axel ist auch ein großer Heavy-Metal-Fan und spielt in seiner Freizeit Schlagzeug in der Band Serpent Smile.
 

Die offizielle YouTube-Seite von Axel Schmitt


„Ich bin in einer Bäckerei aufgewachsen, so wie bereits mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater“, erzählt Axel. „Oben war unsere Wohnung, und unten im Laden, wo meine Mutter früher das Brot verkaufte, machte ich meine Hausaufgaben. Und wenn ich fertig war, lief ich zu meinem Vater in die Backstube, um in einer großen Metallschüssel den Brotteig zu kneten. Das war meine Lieblingsbeschäftigung, auf die ich mich den ganzen Tag freute. Und als meine Eltern einmal mit mir in den Urlaub nach Italien fuhren, bekam ich so großes Heimweh nach meiner Metallschüssel, meinem Teig und meinem Brot, dass wir nach einer Woche wieder nach Frankenwinheim zurückkehrten.“

Mit 15 Jahren begann Axel seine Ausbildung zum Bäcker. Drei Jahre später schloss er die Gesellenprüfung ab und absolvierte anschließend eine zehnmonatige Ausbildung zum Bäckermeister an der Akademie Deutsches Bäckerhandwerk Weinheim. 2016 wurde er ebendort nach einer fast einjährigen Fortbildung und einer anspruchsvollen Prüfung in den exklusiven Kreis der Brotsommeliers aufgenommen. Es gibt weltweit gerade einmal hundert Personen, die diesen Titel tragen und die dank einer besonderen sensorischen Ausbildung ein einzigartiges Wissen darüber besitzen, welche Brotsorte am besten zu welchem Essen, zu welchem Wein oder zu welchem Bier passt.

Zum ersten Mal klingelt Axels Wecker um Mitternacht. Er hat keine Probleme mit dem Aufstehen – schon wenige Minuten später steht er bereits in der Backstube und schiebt das Brot in den Ofen. Um drei Uhr legt er sich noch einmal hin und schläft bis um fünf. Tagsüber gönnt er sich einen kurzen Mittagsschlaf und abends geht er früh ins Bett – um dieselbe Zeit, wie seine beiden Kinder.

„Kann man von einem solchen Familienbetrieb leben?“, frage ich Axel.
„Jeder Tag ist eine Herausforderung“, erzählt er. „Wer sein Brot beim Bäcker kaufen möchte, muss in der Regel einen Umweg machen. Manchmal kaufen die Menschen ihr Brot lieber im Supermarkt, wo sie ihre gesamten Einkäufe erledigen und wo das Brot – um die Kunden zum Kauf zu bewegen – an drei bis vier unterschiedlichen Stellen angeboten wird: direkt beim Eingang, im Selbstbedienungsregal und weiter hinten im Laden, bei den Sonderangeboten. Die Frage ist nur, was die Kunden eigentlich wollen. Denn wenn sie ihre Brötchen für 9 Cent im Supermarkt kaufen, dann müssen sie sich darüber im Klaren sein, dass dieser Preis durch minderwertige, fertige Zutaten, künstliche Zusatzstoffe und niedrige Arbeitslöhne zustande kommt“, argumentiert Axel. „Es gibt mir zu denken, dass die Deutschen für ihre Autos das teuerste Öl kaufen – bis zu 30 Euro pro Liter –, weil sie ihr Auto so sehr lieben und Angst haben, es könnte kaputtgehen. Aber sie vergessen, dass unsere Ernährung einen großen Einfluss auf unser Wohlbefinden, unsere Gesundheit und unser gesamtes Leben hat. Selbstverständlich ist das Brot bei mir teurer. Ich kaufe hochwertige Zutaten von regionalen Erzeugern: Dort hinten, auf der Wiese hinter der Kirche, weiden die Kühe, von denen ich meine Milch bekomme, und links davon liegen die Getreidefelder, von denen mein Mehl stammt. Ich beschäftige hervorragend ausgebildete Bäcker, wir machen fast alles mit der Hand und benutzen unsere Maschinen nur für die allerschwersten Arbeiten. Der Prozess vom Mehl bis zum fertigen Brot dauert bei uns 10, 20 oder sogar 30 Stunden. All das macht unser Brot zu etwas ganz Besonderem: Es ist schmackhaft, aromatisch, knusprig, leicht verdaulich und bleibt lange frisch. Und ich habe viele Kunden, die das zu schätzen wissen.“

Axel hat alles genau durchgerechnet: Im Grunde braucht man nur ein paar Cent, um sich qualitativ hochwertiges Brot zu leisten! Denn wenn ein Brot in seiner Bäckerei fünf bis sechs Euro kostet und 20 Scheiben ergibt, dann kann man davon mindestens fünfmal am Tag satt werden.

„Selbstverständlich spielt Brot in Deutschland eine besondere Rolle“, sagt Axel lächelnd und streicht sich durch seinen Bart. „Wir essen es schließlich zu allem: zur Suppe, zur Wurst, zum Bier! Wir haben beste Voraussetzung für den Getreideanbau, sowohl Roggen als auch Weizen wachsen bei uns hervorragend. Vor noch nicht einmal hundert Jahren mussten die Bäckerlehrlinge von Bäckerei zu Bäckerei wandern, von Stadt zu Stadt, um sich das Wissen der jeweiligen Region anzueignen. Eben deshalb haben wir in Deutschland über 3 000 Sorten Brot. Außerdem reisen die Deutschen gern und sammeln Rezepte aus aller Welt – für Baguette, Foccacia und Börek. Ich finde es gut, dass wir so offen geworden sind und nicht immer sagen, dass deutsche Produkte grundsätzlich besser sind. Doch es gibt auch Schattenseiten. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen die Achtung vor dem Brot verloren haben. Sie behandeln es wie ein Objekt, wie eine Unterlage, die die Wurst oder den Käse vom Teller trennt. Also nehme ich an Kochshows, Konzerten und Festivals teil, um mich dafür einzusetzen, dass diese Achtung wieder zurückkehrt.“

Als Axel zum ersten Mal vor den Besuchern eines der größten Heavy-Metal-Festivals der Welt, dem Wacken Open Air, als Metal Baker auftrat, wurde ihm plötzlich bewusst, dass die jungen Menschen überhaupt keine Ahnung hatten, woher das Brot eigentlich kommt. Also erzählte er ihnen von seiner Arbeit, von seinen Experimenten, bei denen er Sauerteig mit der Musik von AC/DC beschallt, und von den positiven Emotionen, die der Duft und der Geschmack von Brot bei ihm auslösen.

„In meinen Workshops vermittle ich den Menschen, dass das Bäckerhandwerk keine staublangweilige Arbeit, sondern wirklich ein toller Beruf ist und dass ein auf den ersten Blick so gewöhnliches Produkt wie Brot etwas Cooles und wirklich Leckeres sein kann“, sagt Axel lachend. „Außerdem erkläre ich ihnen, dass wir dankbar dafür sein sollten, in einem Land zu leben, in dem wir Essen als Genuss erfahren können und nicht nur als ein Mittel, um unseren Hunger zu stillen. Schließlich haben die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine uns vor Augen geführt, dass die Situation sich von einem Tag auf den anderen komplett ändern kann. Und wenn ich ihnen das erzähle, nicken die jungen Menschen verständnisvoll. Und das macht mir Hoffnung.“
 

Axel Schmitt auf dem Wacken Open Air Festival

Es ist noch nicht zu spät!

„Das Problem ist, dass wir in Deutschland alles, insbesondere Lebensmittel, im Überfluss haben“, sagt Manfred Stiefel, der gelernter Bäcker ist und heute beim Deutschen Brotinstitut arbeitet. „Wir haben uns auch daran gewöhnt, dass wir unsere Einkäufe rund um die Uhr  erledigen können. Das führt zu einer absurden Situation: Die Supermärkte verpflichten die Bäcker, die bei ihnen Brot anbieten, dazu, dass ihre Regale bis 21 Uhr zu mindestens 80 Prozent gefüllt sind. Aber wer kauft um diese Zeit noch Brot? Und was passiert mit dem Brot, das nicht verkauft wurde?“

Manfred erzählt, dass ein Teil des nicht verkauften Brotes einfach im Müll landet. Manche Bäcker spenden es an Organisationen wie die Tafel oder verkaufen es als Tierfutter an Landwirte oder auch an Biogasanlagen.

„Als mein Vater seine Bäckerei in Berlin hatte, war alles sinnvoll geplant“, erzählt Manfred. „Er produzierte vernünftige Mengen: Nach 15 Uhr gab es höchstens noch fünf bis sechs Brote in den Regalen. Heute geht der Kunde ins Geschäft, hat 20 Sorten Brot zur Auswahl und beschwert sich noch, dass seine Lieblingssorte gerade ausverkauft ist: Was er denn jetzt essen solle und ob es der Bäckerei finanziell so schlecht gehe, dass sie die Erwartungen ihrer Kunden nicht mehr erfüllen könne.

„Noch vor wenigen Jahrzehnten“, erklärt Manfred, „gab es in deutschen Städten an jeder Ecke eine kleine Bäckerei. Und jeder konnte sehen, wo und wie das Brot, das er kaufte, hergestellt wurde. Heute verschwinden die Bäckereien aus dem Straßenbild, in den letzten 60 Jahren sank die Zahl der Handwerksbäckereien von rund 55 000 auf nicht einmal 10 000 Betriebe.** Und viele Menschen haben keine Vorstellung mehr davon, wie viel Arbeit es braucht, um ein Brot herzustellen.“

Manfred Stiefel aus dem Brotinstitut Manfred Stiefel aus dem Brotinstitut | Foto: © Manfred Stiefel Ja, Manfred Stiefel hat eine Leidenschaft für Brot. Schließlich stammt er nicht nur aus einer Bäckerfamilie, sondern arbeitet auch selbst seit vielen Jahren in der Branche. „Ist es nicht faszinierend, dass man aus so wenigen Zutaten, wie Mehl, Wasser, Hefe und Salz – die bis auf das Salz keinen eigenen Geschmack haben – ein so köstliches Produkt voller Farben und Aromen erhält?“, fragt Manfred.

Wie wählt man die richtigen Zutaten aus? Was geschieht genau beim Herstellen des Teigs? Was passiert im Ofen? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich Manfred, wenn er während der Woche durch ganz Deutschland fährt, um sich mit Vertretern der Bäckerinnungen zu treffen. Im Rahmen dieser Treffen kostet er Hunderte lokaler Brotsorten. Denn Manfred Stiefel arbeitet seit über 13 Jahren als Brotprüfer für das Deutsche Brotinstitut.

„Es gibt nur drei Brotprüfer in Deutschland“, erzählt Manfred. „Ja, in ganz Deutschland. Wir haben alle Hände voll zu tun, aber es ist ja nicht so, dass wir von Bäckerei zu Bäckerei laufen. Es geschieht alles freiwillig. Die Bäckerinnungen laden uns ein, wir kosten das Brot aus den lokalen Bäckereien und stehen den Kollegen mit Rat und Tat zur Seite. Der Beruf des Brottesters entstand vor 60 Jahren in Deutschland, als es nach dem Krieg in Deutschland an Bäckern mangelte und junge Menschen unmittelbar nach der Schule in den Beruf einstiegen. Sie benötigten ein wenig Unterstützung bei ihren ersten Schritten.“

Wenn Manfred Stiefel sich an den Tisch setzt, um ein Brot zu prüfen, nimmt er es zunächst einmal in die Hand und sieht es sich von allen Seiten genau an. „Es geht nicht nur um die Form des Brotes, sondern auch um das Aussehen und um die Konsistenz der Kruste, denn sie verleiht dem Brot seinen Geschmack und auch seine Haltbarkeit“, erklärt Manfred.

„Außerdem bewerte ich, wie sich das Brot während des Schneidens verhält – ob es zum Beispiel krümelt –, wie porig die Krume ist und welchen Eindruck das Brot macht, wenn man es in den Mund steckt – ob es sich angenehm kauen lässt oder sich wie Kaugummi anfühlt. Und zum Schluss konzentriere ich mich ganz auf den Duft und den Geschmack.“

Die Bäcker, deren Produkte die Prüfung erfolgreich bestehen, erhalten von Manfred die Note Gut oder Sehr gut, ein Qualitätszertifikat und – falls sie über mehrere Jahre hinweg ausgezeichnet wurden – eine Goldene Krone auf der interaktiven Karte des Brotinstituts. Auf dieser Karte können Kunden den besten Bäcker in ihrer Umgebung finden. Wenn ein Brot den Test nicht besteht – was selten vorkommt, denn die meisten Produkte sind qualitativ hervorragend –, setzt sich Manfred mit seinen Kollegen zusammen, um gemeinsam eine Lösung zu finden.
„Ich sage ihnen nicht: Du musst das ab jetzt so und so machen“, erzählt Manfred. „Ich gebe ihnen lediglich Hinweise, wie sie ihr Produkt verbessern können. Es geht bei unserer Arbeit schließlich in erster Linie darum, dass das Brot dem Kunden schmeckt.“

Die Kundenbindung ist besonders deshalb wichtig, weil die Situation der kleinen Handwerksbäckereien in Deutschland immer schwieriger wird. Schuld daran sind nicht nur die Supermärkte und Discounter. „In Frankreich oder Italien wissen die Menschen qualitativ hochwertiges Essen zu schätzen“, erzählt Manfred Stiefel. „Und bei uns? Die Deutschen haben sich daran gewöhnt, dass Lebensmittel nur wenige Cent kosten. Sie leisten sich schöne, teure Küchen, aber das Fleisch kaufen sie im Supermarkt für zwei Euro pro Kilo. Denn der Nachbar sieht ja nicht, was wir im Kühlschrank haben, sondern nur unseren neuen, modernen Gasgrill im Garten.“

Manfred gefallen Initiativen wie der Tag der offenen Backstube, bei der sich die Kunden selbst davon überzeugen können, wie Brot hergestellt wird. Solche und ähnliche Aktionen können seiner Ansicht nach dazu beitragen, den Respekt vor dem Brot wiederherzustellen. Er setzt seine Hoffnung dabei in die junge Generation, die zunehmend ein Bewusstsein für gesunde Ernährung entwickelt und die den Kauf  nachhaltiger Produkte, darunter auch Brot, als eine Investition in sich selbst betrachtet.

„Es gibt inzwischen auch eine fantastische Zusammenarbeit zwischen den Bäckern und den Landwirten“, erzählt Manfred Stiefel. „Dort, wo Axel Schmitt wohnt, hat ein Bauer am Feldrand Schilder mit der Aufschrift »Hier wächst das Getreide für unsere Bäckerei« und »Hier weiden die Kühe, deren Milch und Butter Axel Schmitt für seine Backwaren verwendet« aufgestellt. Die Menschen sehen also, dass die lokalen Betriebe sich gegenseitig unterstützen und Arbeit schaffen. Und sie erkennen, dass, wenn sie ihr Brot nicht bei ihrem lokalen Bäcker kaufen, diese Kette durchbrochen wird und etwas unwiederbringlich verloren geht. Etwas, das wir in Hunderten von Jahren aufgebaut haben! Das dürfen wir nicht zulassen!“
 

Zahlen und Fakten
  • Ein durchschnittlicher deutscher Haushalt verbraucht im Jahr rund 56 kg Brot und Backwaren.
  • Der Jahresumsatz im Bäckerhandwerk stieg im Jahr 2021 auf 14,89 Mrd. Euro.
  • Die Zahl der Handwerksbäckereien sank in den letzten 60 Jahren von rund 55 000 im alten   Bundesgebiet auf 9 965 Betriebe im heutigen Deutschland
  • Es gibt in Deutschland rund 45 000 Brot-Verkaufsstellen.
  • Insgesamt sind 240 800 Personen im deutschen Bäckerhandwerk beschäftigt.
  • Jedes Jahr investieren die deutschen Bäckereibetriebe rund 500 Mio. Euro in Maschinen, Fuhrpark und Einrichtung.

**Verwendete Quellen:

Wirtschaftsfaktor Bäckerhandwerk

Anzahl der Betriebe, Filialen und Bäckereifachgeschäfte im Bäckerhandwerk in Deutschland in den Jahren 2011 bis 2021


*„Akademie - Deutsches Bäckerhandwerk“

OTO NIEMCY (DAS IST DEUTSCHLAND)

Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Reportagen „Oto Niemcy“ (Das ist Deutschland), die das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Magazin Weekend.gazeta.pl veröffentlicht.

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