Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Marina Rasbeschkina im Interview

Marina Razbekhina
Marina Razbekhina | Foto: © cc-sa Skilpaddle

Michail Ratgaus sprach mit Marina Rasbeshkina darüber, warum der Dokumentarfilm so nach vorn geprescht ist und was an dieser erfreulichen Entwicklung zugleich bitter ist.

Das Gespräch über den Boom des Dokumentarfilms möchte man allein schon deshalb fortsetzen, weil das vor allem ein Gespräch über uns ist, darüber, wie wir heute ticken.

Mich beunruhigt, dass wir aufgehört haben als Menschen zu existieren, für die das Erleben an sich den eigentlich wesentlichen Wert darstellt. Und bald, so scheint mir, wird gar kein reales Erleben mehr stattfinden, es wird gen Null tendieren (lacht). Wir befinden uns heute an einem Punkt, wo das Ereignis nicht erlebt wird, wenn es nicht gezeigt wird; es existiert dann praktisch nicht. Wohingegen die Beobachtung des Lebens enorm wichtig geworden ist. Nehmen wir einmal einen Brand, den alle filmen, aber dabei vergessen, die Feuerwehr zur rufen. Als wir den Film „Sima, uchodi“ [Winter, verschwinde] gemacht haben, konnte ich sehen, wie eine Menschenmenge auf jemanden einschlug und ringsherum unglaublich viele Männer mit ihren Kameras standen, die das einfach nur festgehalten haben. Denn ist es nicht festgehalten worden, dann hat eigentlich auch keiner geschlagen, auch wenn der betroffene Mensch als schwerbeschädigt zurückbleibt. Das Anbieten eines visuellen Ereignisses ermöglicht uns, ganz in Ruhe − wie beim Kegeln − mit den Ideen und Zuschauern spielen. Denn ein Mensch, der sein Erleben über das Visuelle beziehen möchte, ist sehr selten in der Lage, einen eigenen Standpunkt zu haben. Er hat nicht die Kraft, kein Instrumentarium, das Leben ohne das Visuelle überhaupt zu betrachten. Und wenn das Visuelle stärker wird als die Realität selbst, dann eröffnet sich ein weites Feld für Manipulationen.

Aber wie konnte es so weit mit uns kommen?

Darüber denke ich ständig nach; ich kann diese Fragen nicht beantworten. Wenn ich eine Antwort darauf hätte, dann könnte ich wohl leichteren Herzens leben. Mir ist so, als hätte ich zeitlich sehr viel länger gelebt, weil ich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Gefühl hatte, ich erinnere mich noch an das 19. Es gab Parks und riesige architektonische Anlagen, die in einer anderen Epoche entstanden sind. Und genau das hat es ermöglicht, eine sehr lange Zeit zu leben. Nicht nur, indem man Tschechow und Tolstoi las, nein, man existierte visuell auch in dem beschriebenen Gutshaus. Heutzutage gibt es den einen oder anderen dieser Orte vielleicht noch, aber meistens gehört er einer Privatperson und diese Welt ist uns dann verschlossen. Nehmen wir China beispielsweise, wo ich einen Monat gelebt habe. Dort habe ich gesehen, wie die ganze Geschichte, die gesamte Kultur ausradiert wird. Alles beschränkt sich auf Denkmäler für bedeutsame Persönlichkeiten. An Konfuzius erinnert man sich zwar schon nicht mehr so richtig, aber überall stößt man auf seine riesige Gestalt. Und alles wird ausgelöscht, einfach ausgelöscht. Materielle Marker sind verschwunden. Und das, was wir geistige Marker nennen - was ist „geistig“ doch für ein abscheuliches Wort – das ist wie Sitzen am Kamin. Feuer gibt es nicht mehr, nichts gibt es mehr, aber der Marker ist als Erinnerung geblieben, eine für mich allerdings nicht sehr überzeugende. Das 21. Jahrhundert ist wie der Anfang des Lebens. Bis dahin war es nicht da, es hat gerade angefangen. Und es gibt das große Bedürfnis es festzuhalten. Und plötzlich ist da die totale Möglichkeit, das Hier und Jetzt festzuhalten, weil das rückwirkende Festhalten schwierig ist. Selbst unsere Schule beschäftigt sich nur mit dem „Hier und Jetzt".

Hinter ihrer Schule steht ein ganzes ästhetisches Programm. Und es wurzelt in dem Gefühl des Zeitgenössischen

Ja, ich sage immer allen Studenten und mir selbst, dass man nur dann in eine Zeit vordringen kann, wenn man den Dokumentaristen in sich vollständig vernichtet. Und deshalb müssen sich die Formen ändern. Denn die Bedeutungen, die heute existieren, verändern den formellen Stoff, die Sprache. Ich muss immer lachen, wenn ich höre: „Ja, was gibt es denn in der Schule der Rasbeshkina schon für eine Sprache; sie filmen doch einfach das, was sie sehen“… Aber das Gedrehte – das ist doch die Sprache. Und es ist auch eine gewisse Lässigkeit, Ungenauigkeit. Ich möchte zudem nicht, dass dies Postmoderne genannt wird. Ein Begriff dafür kann erst dann gefunden werden, wenn die Handlung schon abgeschlossen ist. Aber hier ist doch noch alles am Kochen; alles fängt erst an, und man fühlt sich einfach gezwungen, die sich verändernde Welt ständig festzuhalten. Und dabei lässig zu sein, weil man heute nicht Lew Tolstoi sein kann, die Zeit ist noch nicht vergangen. Obwohl die Zeit natürlich sehr schnelllebig ist heutzutage, alle zwei Jahre kommen neue Studenten zu uns, und sie sind alle so unterschiedlich! Man hat das Gefühl, dass das verschiedene Generationen sind. Alle zwei Jahre!

Und dennoch – ist das 21. Jahrhundert, wie wir es erleben, der Beginn von etwas Neuem oder das Ende von etwas Altem?

Die Studenten haben die Kultur als Museum vor sich. Das heißt, keine aktiv wirkende, funktionierende Kultur, sie ist nicht innen, sondern außen, sie ist nicht erlebbar. Ein Raum wird nur dann zum Kulturraum, wenn wir ihn erleben. Swetlana Borissowna Adonjewa (Anthropologin – М.R.) beispielsweise hatte irgendeine Vorlesung zu halten und war seltsamerweise davor etwas beunruhigt. Ich fragte, wie die Reaktion war. Sie sagte, dass viele gekommen waren und mit Schweigen reagiert haben. Sie konnten nicht verstehen, worüber sie redet. Sie waren wegen ihres Rufes gekommen; sie interessieren sich für sonstwas, aber zu welchem Zeitpunkt ein Junge eigenständig zu denken und zu begreifen anfängt und dass man ihm vielleicht den Platz überlassen muss, das interessiert sie überhaupt nicht. Weil sie das reale Leben nicht als Kultur erleben, es ist ihnen so nicht bewusst. Zu uns kommen Menschen, die haben zwanzig Spezialkurse hinter sich, und sie senden nichts als hohle Phrasen aus in den Prüfungen. Sie verstehen nicht, wie es sich auf ihr persönliches Verhalten auswirkt, was mit ihnen passiert.

Mir scheint, real ist nicht das, was festgehalten wird, sondern lediglich das, was uns bewusst ist. Und Menschen, die einen Brand filmen oder einen Selbstmörder auf der Brücke, machen nur Abzüge der Ereignisse, sozusagen einen Katalog unechter Beweise dafür, dass sich irgendetwas ereignet hat. Aber das ist Indulgenz, dass für sie nichts passiert ist; das ist lediglich ein Verzeichnis der Abbilder.

Vielleicht haben sie Recht.

Genau wie in den sozialen Netzwerken; ich bei Facebook – das ist eine Kopie, die ich selbst erstelle und die mich von der Notwendigkeit befreit, mich eingehend mit meinem wahren Selbst auseinanderzusetzen. Es gibt da ein wunderbares Gespräch zwischen Viktor Golyschew und Sergej Gandlewski aus dem Jahr 1997 darüber, warum Sachliteratur wichtiger als Belletristik wird. Und Golyschew sagt im Zusammenhang mit der anbrechenden Ära der Bilder, dass das Visuelle die Fantasie erschlagen wird. Da bekommt ein Mensch auf einem Foto einen Schlag ins Gesicht und Du siehst es und denkst – ja, ein Schlag, Punkt. Aber wenn Du das Gleiche liest, dann musst Du richtig Arbeit leisten, Du musst Dir etwas vorstellen. Das Plattmachen von Bedeutungen im Visuellen lässt unsere Vorstellungskraft verarmen. Mir scheint, der Boom des Dokumentarfilms beschneidet stark unseren inneren Raum, die Welt der Fantasie, der Träume.

Es hat sich ja nicht irgendjemand hingesetzt und mit dem Visuellen angefangen. Es geht um das, was der Mensch schon verloren hat. Und dann sagen wir: man muss da genauer hinschauen. Seht mal, diese Mutter schlägt das Mädchen nicht, weil sie es nicht liebt, sondern weil sie sie liebt … Und die Menschen fangen an, genauer hinzuschauen, weil sie zum realen Leben schon keinen Zugang mehr haben. Es ist wie so eine Bruchstelle zwischen den Jahrhunderten, an der wir die Fähigkeit verloren haben, uns für das Leben zu interessieren und selbstständig daraus emotionale und rationale Schlüsse zu ziehen. Und mit dem Dokumentarfilm halten wir die Zeit an, sie schreitet dann nicht so schnell voran. Zum Beispiel wenn sich jemand umdreht, dann lenken wir den Blick auf die Wangen-Hals-Linie oder darauf, wie er den Arm schwingt. Die Einstellung dauert 7 Minuten. Und der Zuschauer betrachtet dieses Leben und fängt an, etwas zu verzeihen, was er ansonsten nicht verziehen hätte, weil er daran vorbeigelaufen wäre. Unser Leben heute ist energetisch voller, der Mensch hat keine Zeit mehr. Aber wenn man ihn dann hinsetzt, dann bleibt er da auch sitzen und schaut plötzlich hin. Ich bin immer völlig fasziniert vom Leipziger Dokumentarfilmfestival, dort gibt es wahrscheinlich 15 Säle und sie sind alle voll und die Leute stehen an. Junge Leute sitzen da und schauen und rühren sich nicht vom Fleck. Heute hilft das Visuelle dabei, innezuhalten und zu reflektieren. Die Menschen sind dazu von sich aus nicht mehr in der Lage.