Tanz und Journalismus
Die Angst vor der Technik

„Selon“. Eine Arbeit von William Forsythe und der Forsythe Company. Ildikó Tóth, Yasutake Shimaji, Frances Chiaverini, Natalia Rodina.
„Selon“. Eine Arbeit von William Forsythe und der Forsythe Company. Ildikó Tóth, Yasutake Shimaji, Frances Chiaverini, Natalia Rodina. | Foto und ©: Dominik Mentzos

Zeitgenössischer Tanz ist eine hybride Kunstform, der unzählige Techniken, aber keine Normierungssysteme zugrunde liegen. Wie findet man als Journalist durch den „Wald“ nachwachsender Techniken und mit welchem Vokabular schlägt man sich durch? Einen Problembericht hat Astrid Kaminski verfasst – und einen Appell: Formate zu finden, in denen sich Tänzer, Choreografen, Journalisten, Interessierte über die Körper-, Imaginations- und choreografischen Techniken im zeitgenössischen Tanz austauschen können.

„Conceptual dance is over“, so tönte ein Schlachtruf von Trajal Harrell beim Festival Tanz im August 2013. Ein Schockmoment für den Tanzjournalismus. Gerade jetzt, da sich sogar Theaterkritiker immer öfter in den Klammerbegriffskontext Performance hineinwagen, selbst wenn darin ein ­Tänzer vorkommen sollte? Da jeder, der je ein zeichentheoretisches Seminar besucht hat, das neue Biotop Choreografie für sich entdeckt hat, in dem fast alles aufgeht? Jetzt, wo wir so viel poststrukturalistischen Enthusiasmus dafür aufbringen können, die Farben der Tänzerturnhosen zu beschreiben? Gerade jetzt: wird wieder getanzt. Und das sogar zu echter Musik. Der Physiker, Theatertext-Dekonstruktivist und choreografische Autodidakt Laurent Chétouane legt ein Violinkonzert auf, zu dem sich zwei Tänzer fast ununterbrochen bewegen: M!M. Sebastian Matthias, nebenbei auch Doktorand, engagiert ein Kammermusikensemble, um mit Danserye zum Tanz zu laden, und William Forsythe lässt in Selon ein Quartett in konkreter (wenn auch doppelbödiger) Beziehung zur Musik tanzen.

Plötzlich stellt sich nicht nur die Frage nach der Musikkenntnis, sondern auch nach Tanztechniken in ihren Beziehungen zu Tanzvokabular und -ästhetik wieder neu. Und damit beginnt das Angstproblem im Tanzjournalismus. Wird der Versuch gemacht, über Techniken zu schreiben, geht das nicht selten schief. Aus jüngerer Zeit erinnere ich mich an ziemlich schiefe Erwähnungen von Release Technique und „Modern“. William Forsythe bemerkte in einem Interview für das Kunstmagazin frieze d/e (11), viele Tanzkritiker hätten „keine systematischen analytischen Fähigkeiten“. Ich nehme mich da nicht aus, er vielleicht auch nicht. Aber solche Analysesysteme lassen sich auch nirgendwo normiert beziehen. Mit seinen im Web zugänglichen „Improvisation Technologies“ hat William Forsythe einen ersten Schritt der Aufklärung unternommen. Kurze Clips veranschaulichen Raum- und Körperlinien im Bezug zur Bewegung mittels grafischer Tools. Das ist tatsächlich eine Hilfestellung für die Beobachtungspraxis. Nur: Bei einer Performance von Meg Stuart komme ich damit nicht weit. Die Improvisationen ihrer Tänzer entstehen, soweit ich das verstehe, eher aus dem Einfühlen in bestimmte Zustände, die sie „Container“ nennt. Andere Choreografen nutzen das freie Ausformulieren einer „task“ oder die Kontaktimprovisation. Dabei sind das keine Techniken, sondern Methoden, die oft aus Mischformen verschiedener Techniken entwickelt wurden.

Der von den Choreografen gebrauchte Wortschatz ist individuell und nicht kompatibel

Wo also anfangen, wenn man über Techniken schreiben möchte oder muss? Und: Muss man überhaupt? Beliebtes Gegenargument: Ein Theaterkritiker erklärt auch nicht, welche Sprachübungen ein Schauspieler gemacht hat, um seine Verschlusslaute perlend klingen zu lassen. Kein Musikkritiker erläutert, mittels welcher Imaginationstechnik eine artikulationsreiche Phrasierung mutmaßlich möglich wurde. Er erwarte von keinem Tanzkritiker, dass er (mit Hilfe von Body-Mind-Centering) schon mal „in der eigenen Lymphe gewesen“ sei, meint folglich auch der Choreograf Christoph Winkler.

Ich frage außerdem Laurent Chétouane, Sebastian Matthias, Kadir „Amigo“ Memis, Zufit Simon sowie Michael Löhr und Tänzer aus seiner Profiklasse im Tanzstudio Marameo (Danke noch einmal für die wertvolle Gesprächszeit!). Die meisten stimmen mit Christoph Winkler überein: Sie glauben nicht, dass sich mehr von ihrer Arbeit transportiert, wenn ein Kritiker erwähnt, mittels welcher Technikkombination ein Tänzer seine Schüttel- oder Sprungsequenzen ausführt. Die Fachzeitschrift tanz hat wohl nicht umsonst die Technik größtenteils aus den journalistischen Texten ausgelagert und im hinteren Teil als eigene Rubrik den Fachleuten überlassen.

Was das Vokabular angeht, sind sich meine Gesprächspartner ebenfalls einig: Der von den Choreografen gebrauchte Wortschatz sei individuell und nicht kompatibel. Sasha Waltz verwendet eigene Begrifflichkeiten, ebenso wie William Forsythe oder Emanuel Gat. Ein „retournement“ ist bei Laurent Chétouane zum Beispiel eine bestimmte Art „vom Raum gerufen zu werden“. Dies zu verfolgen ist zwar interessant, aber eine Enzyklopädie dieser Begriffe wäre sinnlos, da ständig von der Wirklichkeit überholt.

Sich damit abzufinden, greift aber zu kurz – das ist der zweite Punkt, über den ich mit meinen Gesprächspartnern reden kann. Was, wenn die Technik nicht von der Tanzsprache oder der Ästhetik zu trennen ist? Eine Bewegung endet im zeitgenössischen Tanz meist nicht in einer Pose, Position, Geste oder Figur. Ich muss ein Stück weit in ihre Mechanismen und Dynamiken hinein, um ihr folgen, die Phrasierung erleben und zu einer Empfindung kommen zu können. Weil sich daraus ganz andere Interpretationsspielräume öffnen, muss ich unterscheiden können zwischen einer Ästhetik aus additiven Techniken und einer, die, wie bei Chétouane oder Forsythe, konsequent einen dekonstruktivistischen Zugang benutzt. Wenn Chétouane die Graham-Technik wählt, dann wiederum nicht als Ästhetik, sondern weil ihn gewisse Mechaniken davon interessieren.

Es gilt also das Verhältnis von Erzeugung und Erscheinung interpretieren zu können. Einen Einstieg bietet das Buch Tanztechniken 2010, das in der Zusammenarbeit mit Institutionen aus Geldern des Tanzplan Deutschland entwickelt wurde. Der anspruchsvolle Band mit zwei Demonstrations-CDs verbindet für sieben Techniken Praxis und Theorie, Einflüsse und persönliche Färbungen, und leistet damit einen sensibilisierenden Zugang zur hybriden Materie. Dabei stellt er kein Kompendium dar, sondern ein Exzerpt – er ist exemplarisch in der Darstellung, nicht repräsentativ für die heutige Praxis. Die schnellen Entwicklungen der Kurs- und Choreografenszene kann der Band nicht abdecken. Es fehlt (neben einem Glossar) zum Beispiel die GaGa-Technik, die der Leiter der Batsheva Dance Company, Ohad Naharin, entwickelte und deren namentliche Unkenntnis einen, wie ich inzwischen weiß, im heutigen Berlin einigermaßen disqualifiziert. Auch David Zambrano kommt nicht vor. HipHop und Streetdance sowieso nicht, obwohl Choreografen von Bruno Beltrão über Amigo bis zu Emanuel Gat längst Elemente davon in den zeitgenössischen Tanz einbeziehen.

Eine Lösung habe ich hier nicht, aber einen Vorschlag: Austausch

Es bleibt daher das Gespenst im Nacken, das fragt: Beruht diese oder jene Ästhetik auf einer spezifischen oder zumindest einer dominanten Technik? Einer Tanz-, Körper-, Imaginationstechnik? Über Amigos ausverkauftes Tanzstück Scha’irlie hat sich, vermutlich aus lauter Angst vor Popping und Locking, kein Kritiker zu schreiben getraut. Um all das aufzuarbeiten, fehlt neben den Gelegenheiten auch die Zeit. Die Tanzwissenschaft hat bislang mehr Journalisten einkassiert als ausgespuckt. Und die Situation in den Medien ist prekär. Keine deutsche Zeitung oder Rundfunkanstalt vergibt für Tanz eine eigene Redaktionsstelle. Einige wenige Kritiker aus glücklicheren Generationen beziehen eine kleine Pauschale, die meisten machen noch alles mögliche Andere, um zu überleben. Und obwohl viele sowohl über praktische als auch wissenschaftliche Hintergründe verfügen, handelt es sich also großteils um eine semiprofessionelle Spezies von Enthusiasten.

Was tun? Eine Lösung habe ich hier nicht. Aber einen Vorschlag: Austausch. In der New Yorker Judson Church gibt es ein im zweiwöchigen Turnus stattfindendes Format, bei dem choreografische Arbeiten öffentlich nur zu dem Ziel gezeigt werden, darüber zu reflektieren. Feedback für die Künstler und Einsichten für das Publikum werden so im gleichen Maß ermöglicht. Die Stimmung ist toll! Ist ein ähnliches Format nicht auch zwischen Tänzern, Choreografen, Journalisten und Interessierten in Berlin möglich? So dass man danach wie Hekuba in den Troerinnen sagen kann: „Nie war ich im Innern der Schiffe. Aber ich weiß von ihnen durch Worte, die ich hörte, und Bilder, die ich sah.“

Diese Frage hat für mich nichts mit einem Kunstvoyeurismus zu tun, sondern vielmehr mit einem Bedürfnis nach Austausch, der eben nicht gleich ein privater sein muss. Gleichzeitig ist der Abstand, den Befindlichkeitskritiken („gut“ oder „schlecht“) voraussetzen, eine Kategorie, die niemand mehr wirklich braucht. – Es sei denn, wir schreiben ausschließlich für die Subventionsgeber.

Das Tanzquartier Wien macht gegenwärtig zusammen mit dem Magazin Theater der Zeit vor, wie man das Publizieren über Tanz auch ganz gut ohne Journalisten schafft. Seit Oktober gibt es in jeder Ausgabe des Theatermagazins eine Sammlung von freien Textformaten, die im Zusammenhang mit der Publikationsreihe Scores im Tanzquartier entstehen. Darin schreiben Performer, Choreografen, Wissenschaftler und Philosophen über Beobachtungen, die im Kontext von Tanz und Performance relevant sind. Auch das ist eine Antwort auf den Austauschbedarf, genauso wie auf das, was im Fachjournalismus fehlt. Auf der anderen Seite bleibt dabei aber auch das Format einer konstruktiven Kritik auf der Strecke. Um dem zu genügen, mit all der Direktheit, Flüchtigkeit und auch emotionalen Disposition, die darin enthalten ist, müssen wir unseren Modus der Beobachtung erweitern. Das reine Ausblenden der komplizierten Technik(en)-frage führt höchstens dazu, dass von der wunderbaren Mechanik des zeitgenössischen Tanzes doch wieder nur das ausbuchstabierte Konzept allein übrig bleibt.